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Die Loci unterscheiden zwischen konstituierenden und interpretierenden Orten der Offenbarung. Sie entwickeln also eine geordnete Rangordnung der Quellen der Theologie. Bei den interpretierenden wird zwischen eigenen und fremden, also zwischen innen und außen unterschieden. Dabei ist die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden nicht hierarchisch in dem Sinne zu verstehen, als ob die fremden nachträglich oder gar verzichtbar wären. (Siebenrock 2003, S. 126)

Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse können zu den sogenannten „fremden“ Orten (loci alieni)28 gezählt werden, die eine interpretierende Funktion bekommen. Nach Stephanie Klein hat die Reflexion des im Alltag gelebten Glaubens „eine unverzichtbare theologische Relevanz. Sie konfrontiert Exegese und systematische Disziplinen mit Glaubensdeutungen und -praxis der Menschen vor Ort und arbeitet an einer Kirchengeschichtsschreibung ‚von unten‘ mit.“ (Klein 1999b, S. 258)29

Jürgen Werbick spricht von Lernprozessen, bei denen PT mit ihren empirischen Untersuchungen im Dienst der „Kommunikation des Evangeliums“ eine „zu optimierende kritische Korrelation zwischen christlicher Zeugnisüberlieferung und gelebter, impliziter oder expliziter Religiosität“ im Blick hat, „wobei unter gelebter Religiosität hier alle Zeugnisse (»living documents«) einer »aufs Ganze gehenden« Lebensorientierung und Identitätsausrichtung verstanden werden dürfen.“ (Werbick 2015, S. 525) Entsprechend weit ist unsere Studie angelegt. Für die Theologie – und hier etwa auch eine verantwortete Klinikseelsorge – geht es um „Wege, auf denen man lernen kann, mit der gegebenen Situation »produktiv« umzugehen und so auch Möglichkeiten zu erschließen, das in den Zeugnissen der biblischchristlichen Überlieferung Bezeugte heute als schlechthin verheißungsvolle Lebens-Herausforderung zu bezeugen.“ (ebd.)

1.5 Erkenntnisinteresse und Objektivität? Declaration of interests

Im Lexikon der Geisteswissenschaften definiert Wolfgang Jordan Erkenntnisinteresse als „eine allgemeine Zwecksetzung im Erkenntnisvermögen des Menschen, die zu einer Strukturierung des erkannten Gegenstands führt.“ (Jordan 2011, S. 141) In diesem Kontext würden dann u. a. Fragen von Wahrheit und Ideologie erörtert (vgl. ebd.): Kann und will der Mensch wirklich Wahrheit erkennen? Jede Forschung hat primär mit Erkenntnisinteressen und möglicherweise mit weiteren, sekundären – im schlechtesten Fall egoistischen – Interessen zu tun. Das von Norbert Mette und Johannes Steinkamp beschriebene „Paradigma der konvergierenden Optionen“ (Mette u. Steinkamp 1983, S. 170)–172) in Bezug auf die „Interaktion zwischen Humanwissenschaften und Theologie“ trägt dem wissenschaftstheoretischen Grundsatz Rechnung, „daß jeder Erkenntnis- und Forschungsprozeß von Interessen bzw. Optionen geleitet ist (im Sinne der Dialektik von Erkenntnis und Interesse)“ (ebd., S. 170). Wir sprachen bereits oben von Interessen und Anliegen etwa der Psychiatrie, der Psychotherapie, der Praktischen Theologie und Caritaswissenschaft. Es ist berechtigt, diese kritisch zu überprüfen: „Wer heute den ›Menschen‹ (Menschlichkeit, Humanität) beschwört, steht deshalb noch nicht außerhalb aller weltanschaulichen Interessen. Auch hier gilt die ideologiekritische Frage: cui bono.“ (Arlt 2001, S. 11) f.)

Roy F. Baumeister hält es für wesentlich, religionspsychologische Forschung nicht Zeloten zu überlassen: „it is essential that religion be studied in a balanced, open-minded, objective fashion rather than being left to the pro-religious and antireligious zealots who are seeking to support predetermined conclusions.“ (Baumeister 2002, S. 165) Dem ist voll zuzustimmen. Das Einleitungskapitel des bereits genannten APA-Handbuchs sieht Religion und Spiritualität für viele Menschen mit großem Einfluss (power) verbunden, darum ließe das Thema die wenigsten kalt und löse auch bei Wissenschaftlern Emotionen aus – statt Dialog über solch wichtige und emotional aufgeladene Bereiche folgten darum leider oft entweder Schweigen oder vorgefasste Meinungen und Provokationen (vgl. Pargament et al. 2013a, S. 3). Jacob A. Belzen warnt die Religionspsychologie vor dem (evtl. unbewussten) Bedürfnis, bestimmte Ergebnisse und Schlussfolgerungen zu präsentieren, die aus der Sympathie für eine bestimmte Weltsicht oder Religion resultierten (vgl. Belzen 2009a, S. 212). Man müsse lernen, der Subjektivität von Studienteilnehmern mit so viel Aufmerksamkeit zu begegnen und nach dem psychologisch Relevanten zu suchen, wie man es in der Psychotherapie tun würde – und bei alledem genauso sein privates Urteil zurückzustellen (vgl. ebd., S. 220).30 In der Tat, eine solche Klarheit und reflektierte Neutralität ist unabdingbar.

Die nötige Transparenz und eine berechtigte Vorsicht sind jedoch zu unterscheiden von unfairen Verdächtigungen. Der Weg von kritischer Sicht hin zu Verdacht oder gar Vorurteilen ist manchmal nicht weit. Matthias Richard vermutet, religionspsychologische Forschung sei in Deutschland unter anderem deshalb selten, weil „dem Forscher schnell unterstellt wird, den Inhalt einer religiösen Aussage belegen zu wollen und damit ‚weltanschaulich gebunden‘ zu sein.“ (Richard 2004, S. 131) Peter J. Verhagen sieht die im Bereich von Psychiatrie und Religion forschenden Wissenschaftler unter dem Verdikt stehend, religiös stark interessiert zu sein. Sie würden damit eines Interessenkonfliktes beschuldigt, und man fürchte eine Evangelisierung von Patienten und die Gefahr der Verletzung therapeutischer Grenzen (vgl. Verhagen 2012, S. 355). Prominent haben das etwa in Großbritannien die Psychiater Rob Poole und Robert Higgo vertreten, die bei einigen Forschern einen Interessenkonflikt in Form eines starken religiösen Glaubens oder einer formalen religiösen Rolle annehmen (vgl. Poole u. Higgo 2011, S. 26).31 Fiona Timmins et al. haben den Eindruck, Forscher zu Religion und Spiritualität würden bereits aufgrund ihres Themas höheren Standards und Erwartungen unterworfen als andere Forscher (vgl. Timmins et al. 2016, S. 4). Niedrigere Standards sollten es aber keinesfalls sein.

Benannt werden müsste in diesem Kontext auch eine gegenteilige Tendenz. Klaus Baumann verwies auf Tendenzen zu wissenschaftlichem (Neo-)Positivismus, Materialismus und Empirizismus, die in den Neurowissenschaften, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapien verbreitet seien. Professionelle Neutralität dürfe aber nicht als „wertfreie“ Wissenschaft konzipiert werden wie vom Empirizismus behauptet, der aber selber mit zumindest impliziten ideologischen Optionen und Wertentscheidungen geladen sei – gegen Metaphysik und Religion und zugunsten von materialistischem Reduktionismus (vgl. Baumann 2012, S. 107) f.).32 Weder ein unwissenschaftlicher generell negativer Bias noch eine unkritisch positive Haltung zu Religiosität bzw. Spiritualität seien wünschenswert (vgl. ebd., S. 112). Gleichwohl sei radikaler Reduktionismus generell eine Versuchung für die Psychologie – und Religion für reduktionistische „Nichtsals“-Erklärungen gefährdeter als andere menschliche Phänomene, meint K. I. Pargament unter Berufung auf den namhaften Religionspsychologen David M. Wulff (1996) (vgl. Pargament 2002a, S. 243).

Sowohl die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF 2010b) wie das Deutsche Netzwerk evidenzbasierte Medizin (2011) gaben Empfehlungen zum Umgang mit möglichen Interessenkonflikten und damit der Verringerung von Bias (dt.: einseitige Neigung, Voreingenommenheit, systematischer Fehler). Beide Organisationen stützen sich auf ein international rezipiertes Bias-Risiko-Konzept von Interessenkonflikt, das von Dennis F. Thompson und Ezekiel J. Emanuel entwickelt wurde und in die Konzeption des Institute of Medicine (US) eingeflossen ist: „Conflicts of interest are defined as circumstances that create a risk that professional judgments or actions regarding a primary interest will be unduly influenced by a secondary interest.“ (Lo u. Field 2009, S. 6).33 Interessenkonflikte sollten nicht „mit mangelnder Integrität einer Person gleichgesetzt werden“ – integer bezeichne als personale Eigenschaft Personen, die „nicht durch Fehlverhalten oder Korruption aufgefallen sind“ und dafür künftig keine hohe Wahrscheinlichkeit haben (vgl. Deutsches Netzwerk evidenzbasierte Medizin 2011, S. 7). Ein vorliegender Interessenkonflikt solle auch nicht „mit der Unterstellung einer verzerrten Entscheidung gleichgesetzt“ werden; angemessener sei das Bias-Konzept, welches das „Risiko für einen verzerrenden Einfluss auf professionelle Urteile einzuschätzen und explizit zu machen“ und präventiv zu minimieren suche (vgl. ebd., S. 8). Ein Interessenkonflikt sei also „bei Thompson und Emanuel nicht als ein Ereignis, sondern als ein Zustand mit einer Tendenz definiert“ und „die Wahrscheinlichkeit einer unangemessenen Beeinflussung durch Interessenkonflikte als ein Kontinuum (leichtgradig/schwergradig) zu verstehen“ (vgl. ebd., S. 9). „Die meisten Sekundärinteressen, inklusive finanzieller Vorteile, sind (innerhalb bestimmter) Grenzen absolut legitime Ziele. Sekundärinteressen werden dann problematisch, wenn sie einen unangemessenen Einfluss auf professionelle Entscheidungen haben.“ (ebd.) Eine wichtige Maßnahme, die Offenlegung (disclosure) von Interessenkonflikten hat als Ziel: „Personen, die durch professionelle Entscheidungen betroffen sind, sollen ausreichend über Interessenkonflikte der Entscheider informiert sein. Standardmäßig sollte die Offenlegung das beinhalten, was die Betroffenen wissen müssen, um den Schweregrad des Interessenkonflikts einschätzen zu können“ (ebd., S. 15). So verlangt die AWMF im Rahmen der Leitlinienentwicklung, Interessenkonflikte zu erklären, wobei „materielle und immaterielle Interessen“ erfasst werden sollen (vgl. AWMF 2010b, S. 4). Das entsprechende Formblatt erfragt neben etlichen finanziellen Aspekten etwa folgende Punkte: „Politische, akademische (z. B. Zugehörigkeit zu bestimmten ‚Schulen‘), wissenschaftliche oder persönliche Interessen, die mögliche Konflikte begründen könnten. Gegenwärtiger Arbeitgeber, relevante frühere Arbeitgeber der letzten 3 Jahre“ (AWMF 2010a, Nr. 8 f.).

Alan C. Tjeltveit stellt in einem Überblicksartikel die Rolle von Werten in psychologischen wissenschaftlichen Untersuchungen und vorgeschlagene Lösungen für eine unberechtigte Präsenz von Werten aufseiten der Untersucher vor (vgl. Tjeltveit 2015, S. 35). Die eigenen Werte und Annahmen offen zu legen helfe Lesern, die Aussagen von Autoren zu interpretieren und verstehen – allerdings könnten statt Konsens und Horizontverschmelzung auch schädliche Folgen resultieren: Ablehnung oder Bestrafung von jenen, die eine bestimmte Sicht vertreten, nichtideale Gesprächssituationen usw. (vgl. ebd., S. 44) f.). In konkreten Forschungsprojekten gelte es, im Blick auf eigene Werte und möglichen Bias Expertise und praktische Weisheit zu kombinieren, etwa in angemessenen prozeduralen und statistischen Methoden – eine einfache allgemeingültige Lösung dafür gebe es nicht (vgl. ebd., S. 47) f.). Fiona Timmins et al. meinen, die meiste Forschung überhaupt würde angesichts der damit verbundenen Anstrengungen ohne den „Glauben“ und die Hingabe von Forschern an ihre Forschungsfragen nicht stattfinden – nötig sei jedoch ein Forschungsdesign, durch das die Resultate objektiv und nicht von persönlichen Neigungen beeinflusst würden (Timmins et al. 2016, S. 4).

Stephanie Klein weist darauf hin, dass alle Forschenden ihr eigenes „Relevanzsystem“ hätten, auf das ihre Erkenntnisse bezogen seien, sie müssten daher „ihren eigenen Referenzrahmen, d. h. ihre eigene biographische, soziokulturelle, geschlechtsrollenspezifische, kirchliche etc. Situiertheit“ reflektieren und benennen: „Dadurch wird den Erkenntnissen der Schein einer falschen Objektivität genommen und vielmehr die Reichweite der Gültigkeit der Aussagen benannt. [orig. mit Fußnote: Vgl. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse] Die Reflexion auf eigene Prämissen und Interessen und ihre offene Darlegung sind deshalb als Kriterien von Wissenschaftlichkeit anzusehen.“ (Klein 1999b, S. 251)34

Zusammen mit den oben genannten Empfehlungen heißt das für mich als Autor im Sinne einer ausführlichen Offenlegung von Interessen (Declaration of interests): Ich verfasse diese Studie als katholischer Christ und Priester, universitär qualifiziert mit Lizentiaten der Theologie sowie der Psychologie, tätig sowohl in der Seelsorge wie auch als Psychologischer Psychotherapeut.35 Insofern durch die Doppelausbildung zumindest mit einer gewissen interdisziplinären Qualifikation ausgestattet.36 Inwieweit kann ich als kirchlicher Amtsträger wissenschaftlich neutral sein?

„Die Wahrheit wird euch frei machen“ steht in großen Lettern am Kollegiengebäude I der Universität Freiburg im Breisgau (vgl. Joh 8,32), und es ist meine tiefe Überzeugung: Die Wahrheit, ob angenehm oder unangenehm, befreit – nicht Beschönigung noch Verdrängung noch Illusionen. Dem fühle ich mich verpflichtet, in aller Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt meiner (auch wissenschaftlichen) Arbeit. Das gilt sowohl für die sozialwissenschaftlich strikte Methodik in der Erhebung und statistischen Auswertung der Daten im empirischen Teil, wie auch für die geisteswissenschaftlichen Teile. Die Überprüfung meiner Arbeit durch wissenschaftliche Autoritäten wie den Betreuern der Dissertation und eine Fachfrau für Biometrik tragen dazu bei. Gab es eine „Erwartung positiver Ergebnisse“ für das Interesse an Religiosität bzw. Spiritualität, wie gelegentlich als Verdacht geäußert wird? Zumindest gab es eine Vermutung, dass eine solche Dimension für etliche eine Rolle spielen wird (aufgrund des explorativen Charakters jedoch keine genaue Hypothese) – aber kein Interesse, dabei möglichst hohe Werte zu bekommen (Wem sollten die helfen?). Bei der Interpretation von Daten kommen freilich Perspektiv- und Geschmacksfragen ins Spiel: Was ist „viel“, was „wenig“? Bekanntlich kann man das berühmte Glas als „halb voll“ oder „halb leer“ betrachten. Ich habe aber versucht, wissenschaftliche Konventionen von viel/wenig oder stark/schwach nicht auf „statistisches Signifikanztesten“ zu begrenzen, sondern jeweils weitere Maße wie z. B. Effektgrößen oder die Teststärke zu berechnen und entsprechend zu bewerten (vgl. dazu Abschnitt 5.1.4).

Ich respektiere und achte andere weltanschauliche, religiöse oder spirituelle Einstellungen und Formen als meine eigenen. Ich habe auch Erfahrung mit Glaubensnöten und problematischen Glaubensformen und weiß um den ambivalenten Einfluss von Religiosität oder Spiritualität. Skeptisch bin ich deshalb bezüglich einer naiv positiven Sicht oder einer „Glaubensmedizin“ (Verwendung von „Glaube“ für Gesundheitsinteressen). Das Ernstnehmen der einzelnen Person in ihrem Dasein und Sosein dagegen ist mir wichtig. Mein Arbeitgeber ist die Erzdiözese Freiburg: Es wurde keinerlei Auftrag zur Wahl des Forschungsthemas erteilt. Ich weiß um keine Erwartungen in Bezug auf meine Forschungsergebnisse – aber eine entsprechende wissenschaftliche Qualität als Promotionsprojekt wird erwartet. Ob es irgendwo ein verborgenes (Macht-)Interesse geben kann, kirchliche Einflussbereiche zu sichern, z. B. durch die Präsenz von Klinikseelsorge? Das wäre zumindest zu bedenken, wenn man sich als Kirche für das Wohl von Menschen im Krankenhaus einsetzen möchte (zur Ausrichtung von Klinikseelsorge vgl. Abschn. 6.1.3). Zuletzt: Finanzielle Interessenkonflikte bestehen für diese Studie sicher keine. Zu verdienen ist hier nichts, und die Finanzierung der geringen direkten Kosten (Vervielfältigung der Fragebogen in der Uni-Druckerei) erfolgte durch Eigenmittel des Arbeitsbereichs Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit.

1.6 Interdisziplinarität

Ein von Michael Jungert et al. (2010) herausgegebener Sammelband Interdisziplinarität beleuchtet grundlegend Fragen und Probleme des Themas in Theorie und Praxis. Der Philosoph und Physiker Gerhard Vollmer etwa stellt fest: „Interdisziplinarität ist unerlässlich, weil die meisten Systeme unserer Welt komplex sind.“ (Vollmer 2010, S. 48) „Wenn nun aber fast alle Systeme Gegenstand mehrerer Wissenschaften sein können, dann sind für eine vollständige Beschreibung oder gar Erklärung auch mehrere Wissenschaften nötig.“ (ebd., S. 51) Bei manchen Problemen seien viele Disziplinen nötig, es komme dann darauf an, „zu erkennen, was alles eine Rolle spielen kann“ und an geeigneten Stellen Informationen zu sammeln (vgl. ebd., S. 59). Interdisziplinäre Verständigung kann problembehaftet sein: „Um einer fachfremden Person etwas aus dem eigenen Fach zu erklären, muss man vereinfachen. Vereinfachen heißt aber verfälschen. Und je stärker man vereinfacht, desto größer ist der mögliche Fehler.“ (ebd., S. 64) So auch in dieser Studie hier: Ich versuche, für Personen aus verschiedenen Fachgebieten verständlich zu sein – ohne Dinge ungebührlich zu verfälschen –, deshalb sind auch manche Ausführungen oder Zitate etwas länger und nicht nur kurz angedeutet.

Der Philosoph Michael Jungert beschreibt verschiedene Arten von Interdisziplinarität:37 Der vierte Typus (Composite Interdisciplinarity) gleiche „einem Puzzle. Drängende praktische Probleme motivieren eine Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen […] Dabei überlappen weder die Gegenstandsbereiche der jeweiligen Fächer ernsthaft noch deren Methoden oder theoretische Integrationsniveaus.“ Der komplexe Problembereich mache „die Einbeziehung aller Perspektiven erforderlich“ (vgl. Jungert 2010, S. 5) f.). Ganz ähnlich sprechen Eike Bohlken und Christian Thies von einer integrativen Anthropologie mit einer interdisziplinär problemorientierten Integration: „Wenn beispielsweise nach den Ursachen und Bedingungen menschlicher Gewalttätigkeit gefragt wird, ist es angesichts der Komplexität menschlichen Handelns notwendig, möglichst alle anthropologischen Ansätze und humanwissenschaftlichen Disziplinen in die Suche nach einer Antwort einzubeziehen.“ (Bohlken u. Thies 2009, S. 5) Diese Modelle scheinen für unsere Studie gut zu passen (wie auch für lösungsorientierte Praktische Theologie insgesamt; s. oben S. 10). Darüber hinaus meint der Biologe und Philosoph Bertold Schweitzer,38 bei interdisziplinärem Arbeiten sei „die Erstellung eines integrierten Modells gefordert, das die von den verschiedenen Disziplinen untersuchten Komponenten eines Phänomens in einen geordneten Zusammenhang bringt, aus deren Zusammenspiel resultierende emergente Effekte berücksichtigt und Vorhersagen und Problemlösungen ermöglicht“ (Schweitzer 2010, S. 123). Es ist anzunehmen, dass gerade aus dem Zusammenspiel anthropologischer, ethischer, psychotherapeutischer, versorgungs- und sozialwissenschaftlicher sowie theologischer Perspektiven Effekte und mögliche Lösungen unseres Themas aufscheinen können.

Interdisziplinäre Öffnungen Richtung Geisteswissenschaften gibt es auch von psychiatrischer Seite. Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs sieht die Psychiatrie im „Spannungsfeld zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, zwischen subjekt-orientierter Erlebenswissenschaft einerseits und objektivierender Neurowissenschaft andererseits.“ (Fuchs 2010, S. 235) Arthur Kleinman bewertet biologisch orientierte psychiatrische Forschung als notwendig, aber nicht hinreichend für eine verlässliche akademische Psychiatrie und ihr Verständnis und die Behandlung schwerer seelischer Störungen – sie brauche u. a. auch psychosoziale, kulturelle, klinische und versorgungswissenschaftliche Studien und dafür den Kontakt zu Sozial- und Verhaltenswissenschaften (vgl. Kleinman 2012, S. 421 f.) James K. Boehnlein unterstreicht ebenso den kulturellen Aspekt (cultural psychiatry): Um die volle Spanne menschlichen – ggf. pathologischen – Erlebens und Verhaltens zu verstehen, habe die Psychiatrie oft über den naturwissenschaftlichen Bereich hinausgehen müssen in philosophische Gefilde, auch religiöse und spirituelle Bezugsrahmen seien als komplementär zu integrieren (vgl. Boehnlein 2006, S. 634 f.). Es gebe eine Konvergenz von Biowissenschaften, Sozial- und Geisteswissenschaften zum vollen Verstehen menschlicher Identität und Bezüge in ihrer Komplexität, über alle Kulturen und Glaubensrichtungen hinweg (vgl. ebd., S. 646).39

Was heißt Interdisziplinarität für die Theologie? Nach Norbert Mette betreibt die Theologie interdisziplinäres Denken „dort, wo sie – um einer zeitgemäßen Darlegung des chr. Glaubens willen – ihre hergebrachten Voraussetzungen im Gespräch mit anderen Wiss. befragen läßt u. überdenkt sowie umgekehrt – um des Wohls u. Heils der Menschen willen –, die v. ihr aufbewahrten unabgegoltenen, krit. u. frei machenden Erinnerungen in den wiss. Diskurs einzubringen versucht.“ (Mette 1996, Sp. 557 f.) Dies zu tun bemüht sich diese Studie an einem konkreten Thema und möchte damit im doppelten Sinne „gute Theologie“ bieten. Eine Theologie, die etwas einbringt, das allen nützt: „Johannes XXIII. hat die Kirche mit einem alten Brunnen im Dorf verglichen, der gutes Wasser spendet. Dieses Bild scheint mir auch für eine gute Theologie passend zu sein.“ (Siebenrock 2003, S. 126) Und eine Theologie, die einen vitalen Kontextbezug aufweist: „Wer mithin sachgemäß Theologie treiben möchte, kommt nicht umhin, sich in Zeitgenossenschaft den Fragen und Impulsen der jeweiligen Situation zu stellen. Nur eine solche Theologie ist sachgemäß und damit zugleich zeitgemäß, ohne modischen Anpassungen zu verfallen.“ (Sievernich 2003, S. 227)

Klaus Kießling unterstreicht für das interdisziplinäre Gespräch den Bedarf sowohl des Eigenstands der beteiligten Disziplinen als auch von Kriterien für ihren Austausch (vgl. Kießling 2005, S. 124). Im Blick darauf benennt er grundlegende theologische Prinzipien: Schöpfungstheologisch kann „die Autonomie empirischer Erkenntnisse“ gewürdigt werden (vgl. ebd.).40 Die „Zuordnung von ‚profanen‘ Wissenschaften und Theologie“ lasse sich analog zu den christologischen Prinzipien des Konzils von Chalcedon (unvermischt und ungetrennt) beschreiben – also weder „monophysitische“ Vermischung noch „nestorianische“ Aufspaltung ohne Interdisziplinarität (vgl. ebd., S. 125). In einem pneumatologischen Zugang schließlich könne man ausgehen „von einem Geist, der menschliche Erkenntnisse sowohl als solche anzunehmen als auch zu radikalisieren vermag auf ihr letztes Ziel und ihre Vollendung hin.“ (ebd.) In diesem Kontext ist für unsere theologischen Teile Max Secklers Hinweis bedeutsam, dass die Gottesfrage das umfassende und grundlegende Formalprinzip der Theologie sei – unter Verweis auf Thomas von Aquin, der betone, „daß in der Theologie alle Themen in Ansehung Gottes (sub ratione Dei) zu behandeln sind, sei es, daß diese Themen Gott selbst direkt betreffen, sei es, daß sie eine Beziehung zu Gott als der alles bestimmenden Macht aufweisen.“ (Seckler 1988, S. 181)41

Für interdisziplinäre Gesprächsfähigkeit wichtig ist der sogenannte methodische Atheismus, den Hans-Günter Heimbrock so beschreibt: Er zielt „nicht auf eine generelle Verneinung des Gottesglaubens, sondern nur auf die Suspendierung spezieller religiöser Voraussetzungen auf Seiten des Forschers für die wissenschaftliche Wirklichkeitserkenntnis. Mit dem Prinzip soll Wissenschaft gegen unüberprüfbar autoritäre Setzungen und irrationale Meinungen gesichert werden.“ (Heimbrock 2007, S. 48)42 Dem folgt unser empirischer Beitrag. Dabei sollte man aber nicht stehen bleiben – Heimbrock ergänzt: „Von der Theologie her geht es dabei heute aber nicht um eine heimliche oder offene Verwässerung empirischer Forschung, nicht um weniger, sondern um mehr als ‚harte‘ Empirie.“ (ebd., S. 51) Es bleibe nämlich „die Frage:

Wie verhalten sich wissenschaftlich erhobene Daten von empirischer Einzelforschung zum Gesamtverständnis von Wirklichkeit.“ (ebd.) Denn wie „über Wirklichkeit und Leben gedacht“ werde, beeinflusse „in hohem Maße auch den praktischen Umgang mit Menschen“ (vgl. ebd., S. 59). Solch ein Gesamtverständnis wird in unserer Studie v. a. anthropologisch bedacht.

Der Theologe Richard Schröder gibt zu bedenken, dass man naturwissenschaftlichen Methoden – d. h. auch empirischen – keine „Allerklärungskompetenz“ zuschreiben dürfe. Themen wie etwa Gerechtigkeit, Frieden oder Freiheit und „unser gelebtes Selbstverständnis mitsamt unseren lebensweltlichen Erfahrungen und lebensleitenden Überzeugungen“ bräuchten „andere Weisen des Wissens“ (vgl. Schröder 2011, S. 56) f.).43 Dabei erinnert er daran, „dass jenseits der naturwissenschaftlichen Forschung nicht das freie Feld des wilden Mutmaßens beginnt, sondern auch dort die Sorgfalt des Denkens, der Wahrnehmung und des Unterscheidens unerlässlich ist.“ (ebd., S. 9) Wolfgang Schoberth verweist auf den notwendigen methodischen Reduktionismus von Wissenschaften, der mit Erfolg komplexe Wirklichkeiten auf einzelne Phänomene und Faktoren reduziere – das Menschsein als mannigfaltiges Ganzes sei damit aber noch nicht hinreichend erfasst (vgl. Schoberth 2006, S. 15) u. 134).44 Thema der Anthropologie sei nun „nicht ‚der Mensch‘, sondern der Diskurs über den Menschen“, gerade weil die unterschiedlichen „Vorstellungen vom Menschsein“ unser Handeln mit bestimmten (vgl. ebd., S. 83). Christian Thies und Eike Bohlken stellen sich eine integrative Anthropologie vor, die Ansätze für disziplinübergreifende Projekte biete wie auch kritisch gegen übertriebene „Alleinvertretungs- oder Letztbegründungsansprüche“ einzelner Disziplinen stehe: „Als zentraler Richtpunkt dient ihr die in offenen Leitbegriffen anzudeutende Mehrschichtigkeit und Vieldimensionalität der Menschen, die Raum lässt für universale und partikulare Merkmale und Praktiken.“ (Bohlken u. Thies 2009, S. 6) f.) Und damit auch für die Dimension von Religiosität bzw. Spiritualität. Nach Thies kann (philosophische) Anthropologie Orientierungswissen bieten, d. h. „begründete und systematisierte Einsichten, die helfen können, sich in einer unübersichtlichen, vieldeutigen Welt zurechtzufinden. Das gilt vor allem für wichtige Handlungsbereiche wie Medizin, Pädagogik und Politik.“ (Thies 2004, S. 11)45

Der Psychologe Jürgen Kriz hält im Blick auf Psychotherapie die zugrunde liegenden Denkmodelle für sehr wichtig: „Die Fragen danach, wie wir leben wollen, was wir für wesentlich erachten, aus welchem Bild vom Menschen wir die Maximen unseres Handelns ableiten, etc. betreffen daher nicht nur das therapeutische Handeln selbst, sondern auch dessen Erforschung.“ (Kriz 2012, S. 29) Aus medizinethischer Sicht meint Ulrich H. J. Körtner, „Medizin, Pflege, Philosophie und Theologie“ müssten „stärker miteinander ins Gespräch kommen […], und zwar nicht nur auf dem Gebiet einer im wesentlichen auf Risikoabschätzung reduzierten medizinischen Ethik, sondern auch im Bereich anthropologischer Grundfragen.“ (Körtner 2014, S. 353) Zu solchem Gespräch möchte diese Studie einen qualifizierten Beitrag leisten.

1.7 Kontext Versorgungsforschung

Zur Einordnung der vorliegenden Studie in die medizinische Forschungslandschaft bietet sich besonders das Paradigma der Versorgungsforschung an.

Seit einigen Jahren ist die Versorgungsforschung ein innerhalb der Gesundheitsforschung etabliertes und anerkanntes eigenes Forschungsgebiet (vgl. Grenz-Farenholtz et al. 2012, S. 606). Angesichts begrenzter Mittel eine hohe Qualität der Kranken- und Gesundheitsversorgung sicherzustellen, gleiche oft einer Quadratur des Kreises: Dafür bräuchten alle Beteiligten einschlägiges Wissen, was die Versorgungsforschung mit entsprechenden Darstellungen des Ist-Zustands fördern wolle (vgl. Pfaff et al. 2011, S. XIII). In den USA kann sie auf einen sehr viel längeren Forschungszeitraum zurückblicken, als „Geburtsjahr“ wird dort das Jahr 1952 betrachtet, die offizielle Bezeichnung Health Services Research entstand aber erst 1960. In Deutschland kam sie erst ab den 90er-Jahren verstärkt auf (vgl. Grenz-Farenholtz et al. 2012, S. 606). Derzeit sei das Interesse an der Thematik Versorgungsforschung in Deutschland sehr groß, wie auch die zahlreichen Aktivitäten im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF) zeigten (vgl. Schrappe u. Pfaff 2011, S. 384).46

In Deutschland hat sich folgende Definition der Versorgungsforschung allgemein durchgesetzt (vgl. ebd., S. 381):

Versorgungsforschung kann definiert werden als ein fachübergreifendes Forschungsgebiet, das die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt und kausal erklärt, zur Entwicklung wissenschaftlich fundierter Versorgungskonzepte beiträgt, die Umsetzung neuer Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und -prozessen unter Alltagsbedingungen evaluiert. (Pfaff 2003, S. 13)47

Ihr Gegenstand sei die „letzte Meile“ des Gesundheitssystems, darunter sei „die konkrete Kranken- und Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern, Arztpraxen und sonstigen Gesundheitseinrichtungen zu verstehen, in deren Rahmen die entscheidenden Versorgungsleistungen zusammen mit dem Patienten erbracht werden.“ (ebd., S. 13) f.) Mit Krankenversorgung ist „die Betreuung, Pflege, Diagnose, Behandlung und Nachsorge eines kranken Menschen durch medizinische und nicht-medizinische Anbieter von Gesundheitsleistungen“ gemeint, sie umfasst also sowohl die medizinische wie auch die psychosoziale Versorgung der Patienten (vgl. ebd., S. 14). Eine entscheidende Perspektive ist dabei deren Betrachtung unter Alltagsbedingungen.

Was genauer sind die Ziele? Es geht um eine lernende Versorgung:

Das Ziel der Versorgungsforschung ist, die Kranken- und Gesundheitsversorgung als ein System zu entwickeln, das durch das Leitbild der „lernenden Versorgung“ gekennzeichnet ist und das dazu beiträgt, Optimierungsprozesse zu fördern und Risiken zu vermindern. Dabei ist die Versorgungsforschung den Zielen Humanität, Qualität, Patienten- und Mitarbeiterorientierung sowie Wirtschaftlichkeit gleichermaßen verpflichtet. (Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer 2004)