Kontrolle

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From the series: Andere Welten #1
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Yuka kam heraus und sagte mir, dass ich morgen anfangen könnte. Ich sollte die Maschinen sauber halten und andere solche Dreckarbeiten verrichten. Der Boss wollte mich nicht mal mehr sehen heute. Ich war nur eine Nummer, ein weiterer Arbeitssklave. Yuka bestätigte mir, dass hier sowieso nicht viele arbeiteten. Es war ja auch alles genormt und vorgegeben, sodass es leicht von den Maschinen allein erledigt werden konnte. Menschliche Fantasie oder Eigeninitiative waren unerwünscht.

Auf dem Rückweg fiel mir etwas ein.

»Arbeit habe ich ja jetzt«, sagte ich langsam zu Yuka. »Aber keine Wohnung. Und bei Flie und Lucky kann ich auch nicht immer wohnen. Ich komme mir da schon etwas blöd vor. Schließlich habe ich schon mal zwei Monate da gewohnt. Und das ist doch ein bisschen reichlich.«

»Und bei deinen Eltern?«

»Das geht auf keinen Fall!« Ich zuckte richtig zusammen.

»Da würde ich es nicht mal zwei Tage aushalten.»

»Ist wohl reichlich schlimm?«

»Mit meiner Mutter gehts ja noch. Aber der Alte … weißt du, er versteht einfach nichts. Er kann seine Vorstellungen und Ansichten um keinen Deut mehr ändern. Und so geraten wir uns nach zehn Minuten immer in die Wolle, wenn wir uns unterhalten. Ich müsste mich da total zurückhalten oder unterordnen und das kann ich nicht. Und meine Mutter gibt ihm am Ende immer Recht oder verteidigt ihn, obwohl sie sonst manchmal versucht, sich in meine Sachen reinzudenken. Aber sie hat eben ihre Normen und aus denen kommt sie nicht raus.«

»Hm. Bei mir ist es so ähnlich, nur andersherum. Mein Vater ist manchmal sogar richtig lieb und weiß ziemlich gut über mich Bescheid.«

Sie lächelte, als fiele ihr dabei was ein.

»Du kannst ja ne Zeit bei mir wohnen, bis du was Eigenes hast«, schlug sie vor.

»Ja, aber …« Ich kam mir wirklich etwas bescheuert vor. Das hatte ich ja nun nicht gewollt. Oder?

»Oh, es macht nichts«, sagte sie fröhlich. »Ich hab ne ziemlich große Wohnung. Zwar nur ein Zimmer, aber wir werden das schon hinkriegen. Hast du was zum Schreiben?«

Ich nickte. Sie war auf einmal furchtbar lebendig. Da kam ich überhaupt nicht mit, denn mir war das Ganze noch immer unangenehm. Wir waren schon wieder beim Bus-Stop angelangt, und sie schrieb mir ihre Adresse auf. Dann kam auch schon der Bus. Da ich erst mal gar nicht wusste wohin, blieb ich stehen. Sie gab mir noch schnell einen Kuss und rief aus der Tür:

»Tschau, Speedy. Ich bin heute Abend zuhause.«

Dann war sie weg - und alles noch etwas vertraute mit ihr. Ich merkte, dass ich sie eigentlich recht gerne mochte. Ich hatte zwar schlechte Erinnerungen an zusammen mit ner Frau wohnen, aber jetzt kam es mir gar nicht mehr so schlecht vor. Und außerdem war der Vorschlag von ihr gekommen und so war ich für sie wohl nicht irgendein blöder Macker.

What do you get for pretending the danger's not real

Meek and obedient you follow the leader

Down well trodden corridors into the valley of steel

What a surprise!

A look of terminal shock in your eyes

Now things are really what they seem

No, this is no bad dream.

Pink Floyd - »Sheep«

4.

Ich wollte mich irgendwo ausruhen - wovon wusste ich auch nicht recht. Aber es war kein Platz da zum Hinsetzen. Leute strömten um mich herum, ich wurde gestoßen und gedrängt. Ich musste weg von der Straße, bevor es Feierabend wurde. Der Gedanke, was ich zu tun hatte, war schon länger in meinem Kopf gewesen, doch ich hatte es bisher abgelehnt, mich damit zu befassen. Jetzt musste ich es.

Es blieb nichts anderes zu tun, als zu meinen Eltern zu gehen. Einerseits, weil ich Geld brauchte, um wenigstens die erste Zeit über die Runden zu kommen, bevor ich den ersten Lohn bekam. Alle anderen Leute, die ich kannte, hatten ebenso wenig Geld wie ich. Außerdem hatte ich bei vielen von ihnen schon Schulden, die ich auch wenigstens teilweise zurückzahlen wollte. Andererseits fühlte ich mich noch immer verpflichtet, mich ab und zu bei meinen Eltern sehen zu lassen. Und ich war bestimmt drei Monate nicht bei ihnen gewesen. Die Vorstellung allerdings, mit meinem Alten zu sprechen und in diesem scheußlichen Wohnzimmer zu sitzen, war mir unerträglich. Trotzdem nahm ich den nächsten Bus und klingelte völlig erschöpft ne halbe Stunde später an ihrer Haustür.

Sie lebten in einem dieser riesigen Wolkenkratzer, anonym wie in einem Ameisenhaufen. Ich musste den Lift benutzen, denn sie hatten ihre Wohnung im 85. Stockwerk, wo ich nicht mal aus dem Fenster sehen konnte, ohne dass mir schwindelig wurde. Man konnte auch sowieso kaum was erkennen, da hier die Abgase und der Smog in dicken Schwaden vorbeizogen.

In diesem Teil der Stadt hatten sie angefangen, in der Höhe des zehnten Stockwerks eine zweite Fußgängerebene zu bauen. So wurde, das Ganze noch verschachtelter unübersichtlicher und abstoßender. Vor den Fenstern in dieser Höhe erstreckte sich praktisch eine riesige Baustelle, und der Krach war ohrenbetäubend. Auf der unteren Ebene würde man nicht mal mehr den Himmel sehen können. Das Wort Natur war längst nicht mehr im Sprachgebrauch, es sei denn fürs Wetter. Auch ich hatte noch nie Gras gesehen, geschweige denn Bäume oder gar irgendein Tier außer Ratten und Katzen. Das kannte ich alles nur aus Büchern und Abbildungen.

Ich schwang mich behutsam aus dem Lift - ich war diese Technik nicht so recht gewohnt und immer auf Defekte gefasst. Zögernd drückte ich auf den Summer und meine Mutter öffnete mir. Sicher hatte sie vorher den Spion aktiviert, um nicht irgendeinen Strolch reinzulassen.

»Spike!«, rief sie überrascht.

Ich hatte diesen Namen so lange nicht gehört und verzog schmerzhaft das Gesicht. Er stand für eine Vergangenheit, die ich lieber vergessen hätte.

»Du hast dich ja ewig nicht blicken lassen. Wir dachten schon, es wäre was passiert!«

Es ging schon wieder los. Das übliche Gerede. Ich murmelte nur was vor mich hin. Ich hatte es längst aufgegeben, gegen diese Bevormundung zu protestieren. Es hätte weder was genützt noch was geändert.

Sie zog mich herein. Ihr Gesicht war noch grauer und spitzer geworden. Auch das neue Kleid (war es neu?) konnte eine gewisse Bitterkeit nicht übertünchen - trotz der grellen gelben Farbmuster auf dem Plastikstoff.

Sie machte mir was zu essen, stellte tausend Fragen und ich versuchte, so gut wie möglich, zu antworten. Hauptsächlich betrafen die Fragen meine Gesundheit und mein Auskommen, und sie spiegelten die Furcht wieder, dass ich irgendetwas Ungesetzliches tun könnte, was mich noch weiter außerhalb der Gesellschaft stellen würde. Sie hatte immer noch Hoffnung, dass ich irgendwas Richtiges lernen würde, das mir ein sicheres Auskommen und einen Platz in der Maschinerie ermöglichte. Meine Mutter schwelgte in Erinnerungen an die Zeit, in der ich mit Winnie zusammen gewesen war und studiert hatte. Das war für mich längst vergangen, aber sie klammerte sich daran.

Mein Bruder war ausnahmsweise auch da, ein wild aussehender breitschultriger Typ, der in irgendeiner Bande eine gute Stellung hatte. Er schaute nur kurz rein, knurrte einige den Lauten nach freundliche Worte und verschwand wieder. Meine jüngere Schwester wurschtelte in der Küche rum und backte zur Freude der Familie gerade Kuchen für den nächsten Kaffeeklatsch. Sie schwatzte uns die Ohren voll von irgendwelchen dämlichen Gesangsstars und wie sie sich am besten gegenüber ihren Schulfreundinnen herausputzen konnte. Ich konnte es nicht ertragen.

Es war üblich, dass die Kinder so spät wie möglich das Elternhaus verließen. So sparte man länger Raum für neue Wohnungen, denn die Geburten übertrafen bei Weitem die Todesfälle - trotz allerlei Verhütungsmittel. Unter gewissen Umständen konnte man sogar bestraft werden, wenn man zu früh auszog. Mich hatten sie nicht halten können. Aber das war eine Ausnahme. Auch mein Bruder wohnte woanders - ich wusste nicht wo - und hatte sein Zimmer hier nur noch pro forma.

Na ja, es lief alles so wie üblich … Ich legte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und schloss die Augen. So konnte ich mich besser ausruhen und brauchte gleichzeitig diesen grässlichen Raum nicht länger anzustarren. Es war alles künstlich, Stühle, der Tisch, die Tapete … aus Plastik oder einem Leichtmetall und in abscheulichen grellen Farben. Das war modern. Meine Eltern fanden das auch nicht gerade toll, aber es gab kaum was anderes und die Nachbarn hatten es auch. Außerdem hatten sie sich so daran gewöhnt, dass sie es nicht mehr wahrnahmen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie sich an alles gewöhnen konnten, wenn es nur nicht wieder Krieg gab. Irgendwie war es ja auch verständlich. Sie kannten zum Beispiel noch Vögel, Gras und das ganze Zeugs vor dem Krieg. Aber sie hatten wohl schon damals nicht gewusst, was dies für sie bedeutete, und so war das Ausrotten der Natur anscheinend nicht weiter aufgefallen, auch wenn meine Mutter manchmal etwas traurig über ihre Kindheit sprach. Und das Argument, dass keiner den Krieg ungeschehen machen konnte, und es eben keine Natur mehr gab, konnte ich schlecht widerlegen.

Leider dauerte die Ruhe nicht allzu lange. Mein Alter kam nämlich von der Arbeit. Nicht, dass er sich nicht freute, mich zu sehen.

Oh nein, er war anfangs sogar richtig nett und brachte sogar ein Lächeln auf seinem sonst so harten Gesicht zustande. Doch dann setzten die unvermeidlichen Fragen ein: Was machst du gerade? Wo wohnst du? Lernst du was Ordentliches? Was, du hast die ganze Zeit herumgegammelt? Du hast keine Wohnung? Warum hast du nur dein Studium aufgegeben? Dann würdest du jetzt nicht so dastehen! Schließlich habe ich dich die ganze Zeit finanziert! Du bist auch nicht besser als dein Bruder! Wir rackern uns hier ab, und was ist der Dank dafür? Wo soll das noch hinführen? Alle Leute in deinem Alter haben ne ordentliche Arbeit! Man muss sich ja direkt für seine Kinder schämen usw. usw.

 

Meine Mutter hatte uns Kaffee gemacht und wir saßen alle, außer meinem Bruder, um den Tisch herum. Sie versuchte vergeblich irgendwie einzugreifen, oder das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Doch der Alte ließ sich nicht stoppen. Er war in seinem Fahrwasser und jetzt ging alles automatisch. Er gab mir kaum Zeit zu antworten, und nach zwei Sätzen hörte ich sowieso auf, denn gegen so viel Unverständnis und Borniertheit kam ich nicht an.

Es war einfach eine andere Welt, andere Werte, genormte Werte, andere Vorstellungen, eine andere Lebensweise und eine widerliche, unterdrückende Moral. Es zeigte sich mal wieder die ganze Abhängigkeit von Regeln, Gesetzen und Normen, die dieser Staat seit Generationen versuchte jedem einzuimpfen und das mit großem Erfolg. Denn er war liberal. Jeder konnte hier und da abweichende Meinungen vertreten, es gab einen weitläufigen Spielraum - immer im Rahmen der herrschenden Ordnung - versteht sich. Der Staat war elastisch, aber was ihn ernsthaft gefährden konnte, wurde nicht geduldet. Nach dem Motto: Wehret den Anfängen! wurden solche Ansätze ausgemerzt. Eine Mischung aus bürgerlicher Scheindemokratie und abschreckender Härte.

Ich trank, so schnell ich konnte, den Kaffee aus und ergriff die Flucht. Es war umsonst. Hier konnte ich nichts erben. In dieser Stimmung meinen Vater um Geld zu bitten, wäre Wahnsinn gewesen. Erstens hätte ich nichts bekommen und zweitens wäre seine Wut in Gebrüll ausgeartet. Ich kannte das und wollte es uns ersparen.

Ich hatte genug.

Ich verabschiedete mich hastig, nahm meine Sachen und ging. Meine Mutter versuchte sich noch in der Tür für den Alten zu entschuldigen. Ein trauriges Spiel. Ich unterbrach es schnell und versprach ihr wiederzukommen, wenn er nicht da war.

Ich lief einige Treppen in dem grauen öden Treppenhaus zu Fuß hinunter. Ich konnte nicht verbergen, dass ich ne ganz schöne Wut im Bauch hatte. Mein Alter und ich hatten uns schon so oft angebrüllt. Ich konnte diesen Schwachsinn von ihm einfach nicht begreifen und war von ihm noch ganz andere Sachen gewöhnt.

Mein Vater war ein Musterexemplar des Beamtentyps: korrekt, ordentlich, streng aber gerecht. Er arbeitete irgendwo in einem riesigen Büro, gab Unterschriften, sah Akten durch, diktierte an einem Computer, telefonierte. Es war zweifelhaft, ob er überhaupt wusste, was durch seine Tätigkeit in Gang gesetzt wurde. Ein Tastendruck von ihm konnte nichts bedeuten oder jemandem die Existenzgrundlage rauben. Er befehligte eine Armee von Boten, Maschinen und Kaffee kochenden Sekretärinnen -, falls diese nicht ebenfalls durch Maschinen ersetzt waren. Ich war zwei- oder dreimal dagewesen und hätte am liebsten losgeschrien. Seine Arbeit musste für einige hohe Herren ziemlich wichtig sein, denn er bekam ne ganze Stange Bucks dafür. Im Grunde ein einsamer, nervöser Mann, der genauso funktionierte, wie es gewünscht wurde.

Als mir die Luft vom Stufenspringen ausging, nahm ich den Lift. Ich kam aus dem Wohnblock und stand auf einmal recht verloren da. Ich schauderte - Rush Hour. Es war gegen fünf Uhr und ich hatte kein Ziel mehr.

»Hey, Brother!«, hörte ich eine kräftige Stimme aus dem Schatten der Mauer.

Ich drehte mich misstrauisch um und stand meinem Bruder gegenüber. Er lachte laut und trat seine Zigarette aus.

»Lass uns irgendwo hingehen«, schlug er vor.

Ich sah ihn an: ein großer, stämmiger Typ mit Lederjacke und einer dieser neuen ich-weiß-nicht-was-Hosen. Sein Gesicht war reichlich zerdeppert. Er hatte bestimmt ne Schlägerei hinter sich. In dem breiten Gürtel seiner Hose steckten ein Dolch und eine Waffe, von der ich nicht wusste, was sie darstellte.

»Guck nicht so dumm und komm«, forderte er mich barsch auf. »Ich habe keine Lust, meine Beine krumm zu stehen.«

»Gut, wenn du mich nicht in eine Runde kraftstrotzender, lauter Typen verschleppst.«

»Quatsch! Steig auf!«

Ich kannte seine Art und störte mich eigentlich nicht daran, außer wenn es zu viel wurde. Er zeigte auf ein Motorrad, ein blitzendes, neues Modell, das sich statt auf Rädern per Antigravitation fortbewegte und wahrscheinlich Geschwindigkeiten erreichte, die man kaum ausnutzen konnte. Es sah eher aus wie einer dieser Schlitten aus der Vergangenheit, wie ich sie von Bildern kannte. Das Armaturenbrett war voll von Knöpfen, Schaltern und Tasten. Ich konnte erkennen, dass auch nachträglich einige Sachen eingebaut waren.

Vic beobachtete mich. Er grinste.

Ich hatte nicht gewusst, dass Vic so ein Ding besaß. Er musste an Geld rangekommen sein.

»Los, mach schon!«, drängelte er.

Er saß vorn und ließ das Ding an. Es gab ein blubberndes, donnerndes Geräusch von sich, das mich zurückschrecken ließ. Doch ich überwand meine Abneigung und setzte mich - meine Tasche über der Schulter - hinter ihn. Und es war bequem. Man wurde irgendwie festgehalten. Ich fand Griffe für die Hände und Einbuchtungen, wo ich Beine und Füße unterbringen konnte. Es war nicht übel!

Vic band sich sein langes, strähniges Haar zusammen, setzte einen Helm auf und reichte mir auch einen. Das Gefährt machte einen Satz und schob sich heulend in die Schlange der Autos.

Es war Feierabend. Etwas Schlimmeres konnte ich mir nicht vorstellen. Doch Vic meisterte es wirklich fantastisch. Er brauste zwischen den Wagen hindurch, wo ich keine Lücke entdecken konnte. Manchmal benutzte er die obere Spur für Schnellfahrzeuge, was für Motorräder verboten war. Dann spürte ich den Sog der über uns fliegenden Gleiter. Wir brauchten nur fünfzehn Minuten durch eine stinkende, schwitzende Hölle bis zur City. Vic fuhr in eine Nebenstraße und hielt vor einem glitzernden Gebäude, das ich nicht kannte. Doc Farner stand in riesigen Leuchtbuchstaben über dem Eingangstor. Auch mit dem Namen konnte ich nichts anfangen. Vielleicht war es auch nur ein Fantasieprodukt. Die Fassade schimmerte in allen möglichen Farben. Sie schien in sich selbst zu verschwimmen. Es behagte mir schon jetzt nicht.

»Komm rein«, knurrte Vic mich an.

Etwas ungeschickt kletterte ich von dem Motorrad.

Unten in dem Haus war ein Restaurant, poppig und teuer. Wir stiegen in den Aufzug und fuhren fünf Etagen höher. Vic ging voraus. Er sagte nicht viel - im Gegensatz zu sonst, wo er mir manchmal die Ohren mit lauter krausem Zeug vollquatschte.

Wir kamen in einen hohen Raum ganz in Grün mit dämmrigem Licht. Eine Musikbox orgelte ohrenbetäubend. Es roch nach Drogen und Halluzinogenen, obwohl ich nicht viele Leute erkennen konnte. Es war noch zu früh. Überall standen niedrige Tische und Bänke herum. Von der Decke hingen irgendwelche Horrorfiguren an Fäden herab, die sich ab und zu bewegten, indem sie die Glieder verrenkten und blöde Schreie von sich gaben.

Vic dirigierte mich in eine Ecke, wo der Lärm auf die Hälfte reduziert war.

»Glaubst du etwa, mir gefällt es hier?«, fragte ich provozierend. »Mir auch nicht, aber das interessiert auch nicht.«

Langsam reichte es mir. Andererseits war ich neugierig, was er von mir wollte. Es schien jedenfalls nicht auf eine seiner üblichen Spinnereien rauszulaufen. Wir setzten uns. Es war weitaus unbequemer als auf dem Motorrad.

»Willste was trinken?«, fragte Vic mich. Er holte ein paar Buckies aus der Tasche.

»Wenn du was ausgibst. Ich bin völlig pleite.«

Er steckte die Münzen in einen Schlitz an der Seite des Tisches. Auf der Platte erschienen augenblicklich zwei Bier. Auch dieses Automatic-System war mir neu. Es schien, als wäre ich etwas Out of Time. War mir aber auch egal. Aber vielleicht hatte ich mich wirklich zu lange zurückgezogen. Erst in meine Bude und dann nach draußen.

Vic schien etwas unruhig. Sein Blick wanderte von Tisch zu Tisch. Er zog seine rote Lederjacke aus und holte eine dieser Halu-ci-gars hervor.

»Wartest du auf jemanden?«, riet ich.

Das Bier schmeckte scheußlich synthetisch.

»Ja, aber egal. Außerdem ist es immer gut, sich dort umzusehen, wo man hinkommt. Jedenfalls in meiner Situation. Obwohl es hier einigermaßen sicher ist.«

Ich glaube, es kostete ihn Überwindung weiterzureden, um auf sein eigentliches Anliegen zu kommen.

»Du kannst dir denken, dass wir nicht zum Spaß in dieser lausigen Kaschemme sitzen.«

»Also, fang an!« Ich hatte genug von dem hin und her.

»Okay. Was weißt du über die Gangs?«

»Machen wir ein Ratespiel?«

Vic lehnte sich zurück, und ich fragte mich plötzlich, was zum Teufel ich mit ihm zu tun hatte.

»Es ist wichtig. Sonst muss ich nachher alles dreimal erzählen,« fuhr er fort.

Ich ließ mich also drauf ein und gab so das Übliche von mir. Ich musste gestehen, dass mir nicht sehr viel zu dem Thema einfiel. Die alten Geschichten und meine Vermutung, dass sie sich irgendwie mit den Regs arrangiert hatten.

»Stop!«, unterbrach mich mein Bruder. »Das sind die typischen Sachen, die überall rumgeistern, weil sie von den Regs selbst unter die Leute gebracht werden. Erstaunlich, dass du überhaupt auf die Idee von einer Zusammenarbeit zwischen Regierung und

Gangs gekommen bist. Übrigens, dass du selbst draußen gewesen bist, hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

Er grinste herüber zu mir. Ich wurde etwas ärgerlich.

»vielleicht bin ich nicht so, wie du dir das vorstellst. Du kannst dir also dein Geschwafel sparen.«

»Schon gut«, beschwichtigte Vic mich. »Ich will nicht mit dir rumstreiten.«

Er kam wieder auf das Thema zurück.

»Worum es mir in erster Linie geht, ist, dass dir meine Situation ansatzweise verständlich wird. Und darum spreche ich über die Gangs und die Vorurteile, die da bestehen. Du hast auch insoweit recht, dass ein Teil der Banden wirklich mit der Regierung rummauscheln. Sie kriegen sogar Bucks und Waffen dafür. Als Gegenleistung dürfen sie die Bevölkerung nicht zu sehr beunruhigen, das heiß, die Zahl der Toten und Verletzten muss sich in Grenzen halten. Aber das geht eher mich was an. Es ist nicht dein Problem und ich will es auch nicht dazu machen. Was wichtig ist, ist der andere Teil der Gangs, der weitaus größere, ich schätze so 70%. Wir - du kannst mich dazu zählen - haben eine Zusammenarbeit mit allem, was die jetzige Ordnung aufrechterhält, immer abgelehnt. Wir alle hassen den Staat und sind damit seine größten Feinde - das sogenannte Outsider-Problem. Aus Überlebensgründen haben wir wiederum unsere Abmachungen mit den von den Regs geförderten Gangs, von denen ebenfalls nicht wenige Mitglieder mit uns sympathisieren. viele von denen sind nur aus Bequemlichkeit oder Angst da, denn wir werden gejagt und müssen eben Zusehen, wie wir uns durchschlagen. So kann letzten Endes der Staat nicht an uns ran, obwohl er es manchmal möchte. Aber erstens können die nicht eine Gang von der anderen unterscheiden und zweitens halten im Notfall alle Banden zusammen.»

»Und was gebt ihr dafür, dass die anderen Banden euch nicht an die Cops verraten?«

»Wir unternehmen nichts gegen sie und geben ihnen einen Teil der Beute.«

Er sagte das alles so cool, dass er dabei wohl ganz vergaß, was sie eigentlich anstellten!

»Jetzt hör mir mal zu, Vic! Ihr schlagt ohne Grund Leute tot, Leute, die euch nichts getan haben, raubt ihnen noch das letzte Hemd und plündert sie aus, und du stellst es so dar, als wärt ihr ne Art Stammtisch!«

»Ich glaube, du bist da reichlich falsch informiert.«

»Ja klar, das wird dann immer gesagt. Habt ihr euch mal überhaupt überlegt, was ihr damit gegen das System ausrichtet? Nämlich gar nichts! … Ach, was soll's. Ich habe damit jedenfalls nichts zu tun und lass mich auch von dir da nicht reinreißen.«

Wenn er glaubte, er könnte mich zu irgendwas überreden, hatte er sich jedenfalls geirrt. Ich stand auf, aber Vic packte mich am Arm.

»Bleib hier, du verstehst nichts!«

»Lass mich los, ich bin nicht einer von deinen Sklaven.«

Das brachte ihn, ganz schön hoch.

 

»Du Blödmann! Am liebsten würde ich dir eine reinhauen. Hör doch wenigstens erst mal zu, was ich will!«

Aus dem Halbdunkel näherte sich eine Gestalt. Vic ließ mich endlich los.

»Wird auch Zeit, dass du kommst!«

»Hm«, machte die Gestalt. »Nun reg dich nicht über mich auf, wenn du Speedy meinst.«

Ich erkannte die Stimme sofort.

»Stucker!«, rief ich. »Was hast du hier zu suchen?«

»Nicht so laut«, zischte er. »Was ist denn bloß los mit euch? Man hört euch ja im ganzen Haus. Wollt ihr unbedingt die Cops anlocken?«

Der stille, schweigsame Stucker! Ich konnte es kaum begreifen. Ich kannte ihn als einen nachdenklichen, philosophischen Typen. Klein und hager mit einem mächtigen Bart und oft trug er eine alte Mütze. Ich erinnerte mich noch gut an seine traurige, zusammengesunkene Gestalt, als ich Flie und Lucky in der Kneipe getroffen hatte. Was hatte er mit meinem Bruder zu tun?

»Okay, Stucker. Setz dich hin. Du hast natürlich recht. Wir werden über alles in Ruhe reden.«

Vic tastete ihm ebenfalls ein Bier. Jetzt war ich natürlich auch wieder neugierig geworden und vergaß, dass ich ja eigentlich gehen wollte. Mein Zorn war auch schon abgekühlt.

»Um es kurz zu machen, Speedy«, fuhr mein Bruder in seiner Story fort, »wir killen niemand, höchstens in Notwehr. Und wir nehmen nur denen was weg, die sowieso schon genug haben. Die Schauermärchen im Tri-Video sind teilweise erfunden, um die Leute ängstlich und in Schach zu halten, teilweise machen die anderen Gangs diesen ganzen Shit und dafür würden wir sie am liebsten in die Stadt zurückjagen.«

»Ein moderner Robin Hood-Club, was?« Ich blieb skeptisch.

»Nun spiel mal nicht den Ironischen», meldete sich Stucker. »Die Tour kennen wir auch schon. Wir geben das Geld schließlich nicht als Almosen an irgendwelche armen Leute, sondern beschaffen uns dafür, was wir zum Leben brauchen und außerdem Waffen und andere Ausrüstung.«

Langsam merkte ich, worauf sie hinauswollten. Ich begriff es noch nicht ganz. Aber wenn ich richtig vermutete, war es ein gefährliches Spiel. Ein Tödliches.

»Wir haben ein paar Leute in der Hand, von denen wir Waffen kriegen«, sagte Stucker in seiner ruhigen Art.

Ich stellte die entscheidende Frage.

»Und was wollt ihr damit, wenn ihr sie nicht für Überfälle benutzt?«

»Wir werden sie schlagen!« Vic schlug mit der Faust auf den Tisch. »Und dann wird sich ganz schön was ändern.«

»Wen wollt ihr schlagen? Die Regs? Die sind doch viel zu stark«, sagte ich erregt.

»Nein, nicht wenn es nach unserem Plan geht.« Das Gesicht meines Bruders war ganz nahe bei mir. »Man muss nur die Nervenstellen kennen.«

»Aber die Cops und das Militär! Sie sind euch weit überlegen. Und die Bevölkerung wird euch bestimmt nicht unterstützen«, gab ich zu bedenken.

»Richtig. Aber wir können dir schließlich nicht alles erzählen«, sagte Stucker. »Du bist hier, weil wir wissen wollen, ob du eventuell mitmachst. Hätte Vic dich nicht zufällig bei deinen Eltern getroffen, hätte ich dich gesucht. Überleg es dir. Ich weiß, dass du was tun willst gegen dieses verdammte System!«

»Es wird nicht funktionieren«, murmelte ich vor mich hin.

Ich konnte es nicht fassen. Der Gedanke an Gewalt in diesem Zusammenhang war einfach absurd.

Vic stand auf.

»Ich muss los. Man sollte uns nicht zusammen sehen. Stucker kann dir noch Einzelheiten erklären.«

Er ließ sein Bier stehen und ging. Ich hatte ihn nicht wiedererkannt. So hatte er nie vorher zu mir gesprochen. Besser noch: ich hatte ihn bisher nicht gekannt. Ich hatte nicht gewusst, was er dachte, was er tat. Und auch jetzt wusste ich nicht viel mehr. Jedenfalls nicht genug. Obwohl er mein Bruder war, war er mir nie aufgefallen. Irgendwann hatte ich gedacht, dass meine und seine Interessen zu verschieden waren, um sie miteinander vereinbaren zu können. Vielleicht war das falsch gewesen, und ich hätte mich mehr mit ihm auseinandersetzen sollen.

»Wenn du Näheres wissen willst …«, brach Stucker das Schweigen. »Nein, nein«, wehrte ich ab. »Ich muss ja erst mal überhaupt die Idee akzeptieren. Nur eins: wie kommst du da rein?«

»Du weißt, ich überlege viel. Und ich hab ja auch Zeit dazu, weil ich mir wegen des nötigen Geldes keine Sorgen zu machen brauche.« Ich erinnerte mich, dass er ne Menge Bucks von seinen Alten bekam. Wenn die wüssten, mit welchen Leuten er zu tun hatte …

»Eigentlich ist die Sache ziemlich einfach - letzten Endes. Ich sehe jedenfalls nur einen einzigen Ausweg, alles zu ändern: Gewalt. Gewalt gegen die Gewalt, die wir täglich erfahren, der wir immer ausweichen oder unterliegen. Und die Gewalt, der Terror von oben, ist nicht mit den Leuten zu brechen, die sich seit eh und je daran gewöhnt haben, sich angepasst haben und sie sogar als notwendig erachten. Fast alle in der Stadt sind psychisch total unter Kontrolle der Regs. Keine Krise oder Naturkatastrophe kann die Regs überraschen. Auf solche Situationen sind sie vorbereitet. Ein paar Knopfdrücke, und das entsprechende Programm läuft ab, die Bevölkerung ist beruhigt. Die Gegengewalt kann nur von außerhalb kommen und da gibt es nur die Gangs.»

Er machte eine Pause, trank ein paar Schlucke von seinem Bier.

»Ich hatte furchtbare Angst. Na, du kennst ja auch die Gerüchte, die über die Gangs verbreitet werden. Aber es gab keinen anderen Weg. Ich ging also nach draußen, und zum Glück traf ich auf jemand, der mir nicht gleich das Messer zwischen die Rippen stieß.

So bekam ich Kontakt mit Vic und erfuhr, dass die Idee nicht nur auf meinem Mist gewachsen ist, sondern schon seit Langem in gewissen Gangs diskutiert wird. Und der Zeitpunkt ist nicht mehr weit weg.«

Eine irre Geschichte. Und nebenbei wurde mir mal wieder klar, dass man oft nur eine Seite eines Menschen kennt. Man kennt ihn eben so, wie man ihm immer begegnet.

Und plötzlich überkam mich wieder dieses Gefühl, das ich in letzter Zeit so häufig hatte: ich musste weg, allein sein, nachdenken. Ich hielt es hier nicht mehr aus.

»Stucker, ich muss weg. Ich komm zu dir, wenn ich was wissen will. Mach's gut!«

»Okay. Und sag niemand was!«

»Ist doch klar.«

Ich hastete die Stufen runter, immer weiter, immer weiter …

Ich kam völlig außer Atem unten an. Ich sehnte mich nach draußen, fort von hier. Doch es wurde mir gleichzeitig bewusst, dass dies nur wieder Flucht bedeuten würde. Flucht vor Menschen, vor Entscheidungen, vor Gewohnheit und Arbeit und tausend anderen Sachen. Manchmal braucht man eine Flucht, aber sie ändert nichts, und wenn man zurückkommt, ist alles noch, wie es vorher war. Und wenn sich wirklich was geändert hatte, war man nicht beteiligt gewesen und steht außen vor. Flucht ist gut, um abzuschalten und sich über seine Identität, seine Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten klarer zu werden. Ab und zu gelingt das.

Und ich hatte das gerade hinter mir. Es wäre gerade jetzt falsch, es zu wiederholen. Nun gut, ich musste mich erst wieder an die Umgebung gewöhnen, aber ich musste ganz sicher Entscheidungen treffen, wie es für mich selber weitergehen sollte. Die Entscheidung zu arbeiten war ein erster Ansatz, obwohl er durch die Umstände diktiert wurde und mehr ein Zwang war. Außerdem musste ich vor mir selber zugeben, dass meine letzte Flucht in die Einsamkeit mir nur sehr wenig geholfen hatte. Ich war den wesentlichen Sachen nicht nähergekommen.

Im Grunde wusste ich immer noch nicht, was ich tun sollte. Für mich bedeutete dieser Zustand Hilflosigkeit, Angst und Unsicherheit.

Ich fühlte mich von Personen und Ereignissen zu Handlungen getrieben. Diese Aktionen gingen aber nicht von mir aus, sie wurden mir aufgedrängt. Und das ist wirklich ein schreckliches Gefühl.

Ich merkte, dass ich nicht Herr meines Lebens war, noch nicht mal da, wo ich vielleicht die Möglichkeit hätte, es zu sein. Meine Zukunft wurde von anderen verplant und verbaut. Ich hatte nicht die Illusion, vollständig autonom über mein Leben entscheiden zu können. Schließlich und glücklicherweise lebte man immer mit anderen zusammen und musste da was draus machen. Aber im Moment machte ich nichts draus. Ich ließ vielmehr zu, dass andere etwas mit mir machten. Wenn ich meine Identität noch weiter verlor, konnte ich ja auch gleich abtreten. Es musste sich was ändern!