Schattengeister

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Schattengeister
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FRANCES HARDINGE

SCHATTENGEISTER

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst


Für meine Patentochter Harriet, die meinen Hunger nach Büchern und außergewöhnlichen Abenteuern teilt.

INHALT

TEIL 1: GEISTERKIND

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

TEIL 2: GOTELYS KATZE

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

TEIL 3: MAUD

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

TEIL 4: JUDITH

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

TEIL 5: NIEMANDSLAND

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

TEIL 6: WHITEHOLLOW

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

TEIL 7: DAS ENDE DER WELT

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

DANKSAGUNG

Leseprobe

PROLOG

GESICHTSLOS


KAPITEL 1

Als Makepeace zum dritten Mal schreiend aus einem Albtraum erwachte, wurde ihre Mutter wütend.

«Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht so träumen sollst!», zischte sie leise, um den Rest des Hauses nicht zu wecken. «Und wenn du es doch tust, darfst du nicht schreien!»

«Ich konnte mich nicht beherrschen», flüsterte Makepeace, eingeschüchtert durch den strengen Ton ihrer Mutter.

Mutter nahm Makepeaces Hände. Ihre Miene war angespannt und ernst im ersten Licht des Morgens.

«Dir gefällt dein Zuhause nicht. Du lebst nicht gern mit deiner Mutter zusammen.»

«Doch! Doch!», rief Makepeace. Sie hatte das Gefühl, ihr würde der Boden unter den Füßen weggezogen.

«Dann musst du lernen, dich zu beherrschen. Wenn du jede Nacht schreist, werden schreckliche Dinge geschehen. Vielleicht wirft man uns aus dem Haus!»

Auf der anderen Seite der Wand schliefen Makepeaces Tante und Onkel, denen die Pastetenbäckerei unten im Erdgeschoss gehörte. Die Tante war laut und ehrlich, aber der Onkel schaute immer griesgrämig drein und war niemals zufrieden. Seit sie sechs Jahre alt war, musste Makepeace auf ihre vier kleinen Kusinen und Vettern aufpassen, die ständig gefüttert, gesäubert, verarztet, umgezogen oder von den Bäumen der Nachbarn heruntergeholt werden mussten. In der wenigen freien Zeit, die ihr noch blieb, erledigte sie Botengänge und half in der Küche. Trotzdem schliefen Mutter und Makepeace auf einer Matratze in einer zugigen kleinen Kammer abseits der anderen Schlafzimmer. Ihr Platz in dieser Familie kam ihnen nur geliehen vor, als ob man ihnen jederzeit fristlos kündigen konnte.

«Und schlimmer noch – jemand könnte den Pastor rufen», fuhr Mutter fort. «Oder … andere könnten davon erfahren.»

Makepeace wusste nicht, wer diese anderen sein sollten, aber «andere» waren immer eine Bedrohung. Zehn Jahre mit ihrer Mutter hatten sie gelehrt, dass man niemandem vertrauen durfte.

«Ich versuch’s ja!» Nacht für Nacht betete Makepeace inbrünstig und legte sich dann in die Dunkelheit, in der festen Absicht, nicht zu träumen. Aber der Albtraum suchte sie trotzdem heim, voller Mondlicht, Geflüster und unfertiger Formen und Gestalten. «Was soll ich tun? Ich will ja aufhören!»

Mutter schwieg lange Zeit, dann drückte sie Makepeaces Hand.

«Ich erzähle dir eine Geschichte», sagte sie, was sie manchmal tat, wenn es eine ernste Angelegenheit zu besprechen gab. «Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte sich im Wald verlaufen, wo es von einem Wolf gejagt wurde. Das Mädchen rannte und rannte, bis seine Füße blutig waren, und immer noch rannte es weiter, denn es wusste, dass der Wolf Witterung aufgenommen hatte und der Spur immer noch folgte. Das Mädchen hatte zwei Möglichkeiten: Entweder es rannte und versteckte sich bis in alle Ewigkeit, oder aber es blieb stehen und schnitt sich einen spitzen Stock, um sich zu verteidigen. Was hättest du getan, Makepeace?»

Makepeace wusste, dass diese Geschichte nicht bloß eine Geschichte war und dass viel von ihrer Antwort abhing.

«Kann man einen Wolf mit einem Stock bekämpfen?», fragte sie zweifelnd.

«Mit einem Stock hat man eine Chance.» Ihre Mutter schenkte ihr ein kleines, trauriges Lächeln. «Eine geringe Chance. Aber es ist gefährlich, stehen zu bleiben.»

Makepeace dachte lange nach.

«Wölfe können schneller rennen als Menschen», sagte sie schließlich. «Selbst wenn sie immer weiterrennt, wird der Wolf sie eines Tages erwischen und auffressen. Sie braucht einen spitzen Stock.»

Mutter nickte langsam. Sie sagte nichts mehr und erzählte auch nicht, wie die Geschichte ausging. Makepeace gefror das Blut in den Adern. So war Mutter manchmal. Aus Gesprächen wurden Rätsel mit Fallstricken, und die Antworten blieben nie ohne Folgen.

Solange sich Makepeace erinnern konnte, hatten sie und ihre Mutter in der kleinen, geschäftigen Beinahe-Stadt Poplar gelebt. Eine Welt ohne den Gestank nach Kohlenfeuerrauch und Teer, der von den großen, ratternden Werften geweht kam, ohne die rasselnden Pappeln, die dem Ort seinen Namen gegeben hatten, und ohne die saftig grünen Marschen, wo das Vieh graste, war für sie nicht vorstellbar. London lag ein paar Meilen entfernt, eine dunstige Masse voller Bedrohung und Verlockung. Das alles war ihr so vertraut, gehörte zu ihr wie ihr Atem. Und doch hatte Makepeace nicht das Gefühl, hierher zu gehören.

Mutter sagte niemals: Dies ist nicht unser Zuhause. Aber ihre Augen sagten es unentwegt.

Als sie nach Poplar gekommen war, hatte Mutter ihrer kleinen Tochter einen neuen Namen gegeben und sie fortan Makepeace gerufen, damit man sie hier beide leichter annehmen würde. Makepeace kannte ihren ursprünglichen Namen nicht, und dieser weiße Fleck in ihrem Leben sorgte dafür, dass sie sich ein bisschen unwirklich fühlte. Makepeace kam ihr auch nicht wie ein richtiger Name vor. Es war ein Friedensangebot – denn genau das bedeutete ihr Name: Frieden stiften –, ein Angebot an Gott und alle gottesfürchtigen Leute von Poplar. Es war eine Entschuldigung für die Lücke, wo Makepeaces Vater hätte sein sollen.

 

Alle, die sie kannten, waren gottesfürchtig. Die Gemeinde hatte sich dieses Attribut selbst verliehen, nicht aus Stolz, sondern um sich von all jenen abzugrenzen, die auf der dunklen Straße zur Hölle unterwegs waren. Makepeace war nicht die Einzige mit einem merkwürdigen, fromm klingenden Namen. Da gab es noch Verity, What-God-Will, Forsaken, Deliverance, Kill-Sin und so weiter.

Jeden zweiten Abend fanden im Salon der Tante Gebetsstunden und Bibellesungen statt, und sonntags gingen alle in die hoch aufragende Kirche aus grauem Kalkstein.

Der Pastor war ein freundlicher Mann, wenn man ihm auf der Straße begegnete, aber oben auf der Kanzel war er furchterregend. Wenn Makepeace in die gebannten Gesichter der Gläubigen schaute, dann wusste sie, dass aus ihm eine große Wahrheit leuchten musste – und Liebe, wie aus einem kalten, weißen Kometen. Er predigte ihnen, sich gegen die teuflischen Versuchungen zur Wehr zu setzen, zu denen der Alkohol, das Glücksspiel, der Tanz, die Theater und alle unnützen Vergnügungen am Sabbath zählten, alles Fallstricke, die Satan ausgelegt hatte. Er erzählte ihnen, was in London und der großen weiten Welt vor sich ging, erzählte von den jüngsten Intrigen am Hof, den Machenschaften der tückischen Katholiken. Seine Predigten waren beängstigend und gleichzeitig erregend. Manchmal hatte Makepeace beim Verlassen der Kirche das prickelnde Gefühl, dass die Gemeindemitglieder Soldaten in glänzenden Rüstungen waren, die gegen die Mächte der Finsternis zu Felde zogen. Dann konnte sie eine kleine Weile glauben, dass Mutter und sie selbst Teil von etwas Größerem waren, von etwas Wunderbarem, das sie mit all ihren Nachbarn gemein hatten. Doch dieses Gefühl war nie von Dauer. Nach kurzer Zeit standen sie wieder zu zweit auf einsamem Posten.

Mutter sagte niemals: Das sind nicht unsere Freunde. Aber jedes Mal, wenn sie die Kirche betraten oder auf den Markt gingen oder stehen blieben, um jemanden zu begrüßen, packte sie Makepeace fester an der Hand. Es war, als ob eine unsichtbare Umzäunung Mutter und Makepeace von allem anderen trennte. Und so schenkte Makepeace den anderen Kindern das gleiche halbe Lächeln, das ihre Mutter für deren Mütter übrig hatte. Den anderen Kindern, die einen Vater hatten.

Kinder sind wie kleine Pastoren, die ihre Eltern genau beobachten und in jeder Geste und jedem Ausdruck nach Zeichen ihres göttlichen Willens suchen. Von ihrer frühesten Kindheit an war sich Makepeace darüber im Klaren, dass sie und Mutter niemals sicher waren und dass sich die anderen gegen sie wenden konnten.

Und so hatte Makepeace Trost und Gesellschaft bei sprachlosen Wesen gesucht. Sie kannte die geschäftige Hinterlist von Bremsen, die ängstliche Aggressivität von Hunden und den schweren Gleichmut der Kühe.

Manchmal geriet sie daher in Schwierigkeiten. Einmal kam sie mit einer gespaltenen Lippe und einer blutigen Nase nach Hause, nachdem sie ein paar Jungen angeschrien hatte, die Steine auf ein Vogelnest warfen. Vögel für den Suppentopf zu töten oder Eier für das Frühstück zu stehlen, ging völlig in Ordnung, aber sinnlose, dumme Grausamkeit erweckte in Makepeace einen Zorn, den sie nicht genau erklären konnte. Die Jungen hatten sie verblüfft angestarrt und dann mit Steinen nach ihr geworfen. Natürlich, warum auch nicht? Grausamkeit war normal, sie gehörte genauso zu ihrem Leben wie die Blumen und der Regen. Sie waren an den Rohrstock in der Schule gewöhnt, an die Schreie der Schweine beim Schlachter und das Blut in den Sägespänen der Hahnengrube. Kleine gefiederte Lebewesen totzuschlagen, war für sie genauso natürlich und befriedigend wie in Regenpfützen zu springen.

Wenn man auffiel, bekam man eine blutige Nase. Um zu überleben, mussten sich Mutter und Makepeace einfügen. Was ihnen aber nie richtig gelang.

In der Nacht nach der Wolfsgeschichte brachte Mutter Makepeace auf den alten Friedhof, ohne einen Grund dafür zu nennen.

Nachts wirkte die Kirche hundertmal größer, und ihr Turm sah aus wie ein unerbittlicher Klotz aus abgrundtiefem Schwarz. Das Gras unter ihren Füßen war holprig und grau im Sternenlicht. In einer Ecke des Friedhofs stand eine kleine Kapelle aus Backstein, die schon lange nicht mehr benutzt wurde. In diese Kapelle gingen sie, und Mutter warf ein paar Decken in eine Nische des düsteren Gebäudes.

«Können wir jetzt heimgehen?» Makepeace hatte eine Gänsehaut. Etwas war in der Nähe; Dinge lauerten überall ringsum, verursachten ein Kribbeln in ihrem Geist wie zarte Spinnenfüße.

«Nein», sagte Mutter.

«Hier ist etwas!» Makepeace kämpfte gegen ihre aufsteigende Panik an. «Ich fühle es!» Entsetzen überkam sie, als sie erkannte, was es war: Genauso fingen ihre Albträume immer an, mit dieser unguten Vorahnung, diesem Gefühl einer heranschleichenden Bedrohung. «Die Dämonen aus meinem Traum …»

«Ich weiß.»

«Was sind sie?», flüsterte Makepeace. «Sind sie … tot?» In ihrem Herzen kannte sie die Antwort bereits.

«Ja», sagte Mutter mit ihrer gelassenen, kühlen Stimme. «Hör mir zu. Die Toten sind wie Ertrinkende. Sie treiben in der Dunkelheit und greifen nach allem, was sie kriegen können. Sie wollen dir vielleicht nichts tun, aber sie tun es trotzdem, wenn du es zulässt.

Du wirst heute Nacht hier schlafen. Sie werden versuchen, sich in deinem Kopf festzusetzen. Was auch immer geschieht: Du darfst sie nicht hereinlassen.»

«Was?», schrie Makepeace auf, die in diesem Augenblick vergaß, dass sie leise sein musste. «Nein! Ich kann nicht hierbleiben.»

«Du musst», sagte Mutter. Ihr Gesicht war wie in Stein gemeißelt und silbern überzogen vom Licht der Sterne, und in ihrer Miene lag keine Freundlichkeit, keine Nachsicht. «Du musst hierbleiben und deinen Stock anspitzen.»

Mutter benahm sich immer dann seltsam und unergründlich, wenn es um etwas Wichtiges ging. Es war, als ob sie dieses andere Ich, diese eigenwillige, unbegreifliche, andersweltliche Version ihrer selbst in der Kleidertruhe unter ihrem Sonntagsstaat aufbewahrte und nur im Notfall hervorholte. Wenn das geschah, war sie nicht mehr Mutter, sie war Margaret. Ihre Augen waren tiefer, ihr Haar unter der Haube dicker und hexenhaft unbändig, und ihr Geist war auf etwas gerichtet, das Makepeace nicht sehen konnte.

Wenn Mutter sich so benahm, zog Makepeace normalerweise den Kopf ein und widersprach nicht. Aber diesmal schlug die Angst über ihr zusammen. Sie flehte, wie sie noch nie in ihrem Leben gefleht hatte. Sie protestierte, weinte, argumentierte und klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an Mutters Arm. Mutter durfte sie nicht hierlassen, das durfte sie nicht, das durfte sie nicht …

Mutter befreite sich aus dem Griff und versetzte Makepeace einen heftigen Stoß, der sie nach hinten taumeln ließ. Mit ein paar schnellen Schritten war sie draußen und schlug die Tür zu, woraufhin es pechschwarz in der Kapelle wurde. Ein schwerer Riegel wurde vorgeschoben.

«Mutter!», schrie Makepeace, der es mittlerweile egal war, ob irgendjemand sie hörte. Sie rüttelte an der Tür, die aber nicht nachgab. «Ma!»

Sie erhielt keine Antwort. Zu hören war nur das leise Schaben von Mutters Schritten, die sich entfernten. Makepeace war allein mit den Toten, der Dunkelheit und den Winterschreien der Eulen.

Stundenlang kauerte sich Makepeace in das Nest aus Decken, zitterte vor Kälte und lauschte dem entfernten Bellen der Füchse. Sie fühlte die Wesen am Rand ihres Geistes lauern, sie warteten auf eine Gelegenheit, warteten darauf, dass sie einschlafen würde.

«Bitte», flüsterte sie und hielt sich die Ohren zu, um die Stimmen nicht mehr zu hören. «Bitte nicht. Bitte …»

Aber schließlich entzog sich ihr erschöpftes Gehirn ihrem Willen. Sie schlief ein, und prompt brach der Albtraum über sie herein.

Wie die Male zuvor träumte Makepeace von einem dunklen, engen Raum. Der Boden bestand aus festgetrampelter Erde, und die Wände waren aus rußig schwarzem Stein gebaut. Sie wollte die Läden schließen, damit kein Mondlicht hereinkam – sie musste es aussperren, es trug Flüstern in sich. Aber die Läden standen in der Mitte einen Spalt auseinander und der Riegel war kaputt. Hinter der Lücke gähnte die tückische Nacht, wo Sterne schwankten und funkelten wie lose Knöpfe.

Makepeace stemmte sich mit aller Kraft gegen die Fensterläden, aber die Nacht atmete die toten Wesen zu Dutzenden in den Raum. Sie griffen nach ihr und heulten mit diesen nebelhaften, geschmolzenen Gesichtern. Makepeace hielt sich die Ohren zu und kniff Augen und Mund zusammen; sie wusste, dass sie einen Weg in sie hinein suchten, in ihren Kopf.

Sie surrten und winselten, aber Makepeace wollte nicht zuhören, wollte nicht, dass aus den weichen, abscheulichen Klängen Worte wurden. Das bleiche Licht zupfte an ihren Lidern, und das Flüstern leckte und kitzelte ihre Ohren, und die Luft war zum Schneiden dick von all dem, aber sie konnte nicht anders, sie musste atmen …

Mit einem Ruck erwachte Makepeace. Ihr Herz hämmerte so laut, dass ihr davon übel wurde. Instinktiv streckte sie die Hand nach dem warmen und beruhigenden Körper ihrer Mutter aus.

Aber Mutter war nicht da. Makepeace brach der Angstschweiß aus, als ihr einfiel, wo sie sich befand. Sie war nicht zu Hause in Sicherheit. Sie war eingesperrt, lebendig begraben, umgeben von den Toten.

Ein plötzliches Geräusch ließ sie erstarren. Ein raues Rascheln auf dem Boden, erschreckend laut in der kalten, klaren Nacht.

Unvermittelt lief etwas Kleines, Leichtes über Makepeaces Fuß. Sie schrie auf, aber im nächsten Moment beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Sie hatte das weiche Fell gespürt, das Kitzeln von winzigen Krallen.

Eine Maus. Von irgendwo in diesem Raum beobachtete die Maus sie mit ihren hellen Augen. Sie war nicht allein mit den Toten. Die Maus war zwar nicht ihr Freund, es wäre ihr egal, ob die toten Wesen sie umbrachten oder in den Wahnsinn trieben. Aber es war ein tröstlicher Gedanke, dass die Maus hier vor den Eulen und den anderen Jägern der Nacht Schutz suchte. Sie schrie nicht und flehte auch nicht, man möge sie verschonen. Es kümmerte sie nicht, ob sie geliebt wurde oder nicht. Sie wusste, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen konnte. Irgendwo in dieser Kapelle schlug ein rosinengroßes Herz mit dem eisernen Willen zu leben.

Und es dauerte nicht lange, da tat Makepeaces Herz genau das Gleiche.

Sie konnte die Toten weder hören noch fühlen, aber sie konnte spüren, wie sie an ihrem Geist kratzten. Sie warteten darauf, dass sie müde werden oder in Panik geraten würde, dass ihre Wachsamkeit nachließ, damit sie zuschlagen konnten. Aber Makepeace hatte in sich einen kleinen Knoten aus Sturheit gefunden.

Es war nicht leicht, wach zu bleiben, aber Makepeace zwickte sich unentwegt und marschierte auf und ab, bis die langen, dunklen Stunden der Nacht dem grauen Morgenlicht wichen. Sie fühlte sich zittrig und schwach, und ihr Geist war wund und aufgeschrammt, aber sie hatte überlebt.

Mutter kam kurz vor dem Morgendämmern, um sie abzuholen. Schweigend und mit gesenktem Kopf folgte ihr Makepeace nach Hause. Sie wusste, dass Mutter für alles, was sie tat, ihre Gründe hatte. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Makepeace, dass sie ihr nicht vergeben konnte, und danach war nichts mehr wie früher.

Von da an brachte Mutter Makepeace ungefähr einmal im Monat auf den Friedhof. Manchmal vergingen fünf oder sechs Wochen, und Makepeace hegte die Hoffnung, dass Mutter die Sache aufgegeben hätte. Doch dann bemerkte Mutter, dass es wohl eine warme Nacht werden würde, und Makepeace wurde das Herz schwer, weil sie wusste, was auf sie zukam.

Makepeace wehrte sich nicht länger. Die Erinnerung daran, wie sie in jener ersten Nacht gejammert und gefleht hatte, bereitete ihr Übelkeit.

Wenn ein Mensch seinen Stolz über Bord wirft und aus ganzem Herzen um etwas bittet und diese Bitte abgeschlagen wird, ist er nie mehr derselbe. Etwas in ihm stirbt, und etwas anderes erwacht zum Leben. Es war, als ob Makepeace mit einem Mal die Welt begriffen hätte, als wäre etwas in ihre Seele gesickert wie Wintertau. Sie wusste, dass sie sich nie wieder so geborgen oder geliebt fühlen würde wie früher. Und sie wusste, dass sie nie, nie im Leben wieder so flehentlich betteln würde.

 

Und so folgte sie ihrer Mutter jedes Mal widerspruchslos und mit leerem Gesicht auf den Friedhof. Sie hatte etwas von der kleinen Maus in der Kapelle gelernt. Die Geister waren keine grausamen Halbwüchsigen, die es zu überzeugen galt. Es waren Raubtiere, und sie war die Beute, und sie musste stur, stark und hellwach bleiben, um zu überleben. Niemand würde ihr zu Hilfe kommen.

Millimeter für Millimeter errichtete sie einen Schutzwall um sich herum. Der Regen prasselte, und ihr Atem zischte in der kalten Luft; Makepeace sprach selbst ausgedachte Gebete und erfand Bannsprüche. Sie lernte, sich dem Kratzen und Knuffen der Geister entgegenzustemmen und zurückzuschlagen, obwohl der Kontakt mit den Toten ihr den Magen umdrehte. Sie sah sich als Judith aus der Bibel, die mit ihrem geborgten Schwert, an dem das Blut des Generals klebte, im feindlichen Lager stand. Wenn ihr mir zu nahe kommt, drohte sie den flüsternden Stimmen, dann haue ich euch in Stücke.

Die lebendigen Wesen, die in der Nacht auf dem Friedhof unterwegs waren, halfen ihr, Ruhe und ihren Verstand zu bewahren. Das Rascheln im Gebüsch, unheimliche, flötende Vogelschreie, die Schatten von Fledermäusen – all das war ihr ein Trost. Sogar ihre Klauen und Zähne waren offen und ehrlich. Lebende und tote Menschen mochten sich unversehens auf einen stürzen, aber diese Wesen lebten einfach ihr grausames, wildes Leben, ohne sich um einen zu scheren. Wenn sie starben, hinterließen sie keine Geister. Wenn eine Maus von einer Katze getötet wurde, wenn einem Huhn der Hals umgedreht oder ein Fisch aus dem Fluss gezogen wurde, dann sah Makepeace, wie die hauchzarten Fäden ihrer Lebensgeister davongeweht wurden wie Morgennebel.

Der Groll, der in Makepeace brodelte, brauchte ein Ventil. Statt sich über die nächtlichen Ausflüge zu beklagen, stritt Makepeace mit ihrer Mutter über andere Dinge, widersetzte sich ihr und stellte verbotene Fragen, wie sie es nie zuvor getan hatte.

Insbesondere fragte sie nach ihrem Vater. Bislang hatte Mutter ein solches Ansinnen stets mit einem Blick abgeschmettert und Makepeace hatte sich stets mit den kleinen Details zufriedengegeben, die ihre Mutter unabsichtlich preisgab. Er lebte weit weg in einem alten Haus. Er wollte Mutter und Makepeace nicht bei sich haben. Plötzlich reichte ihr das nicht mehr, und sie war wütend auf sich, dass sie früher zu viel Angst gehabt hatte, um auf Antworten zu bestehen.

«Warum willst du mir seinen Namen nicht sagen? Wo lebt er? Weiß er, wo wir sind? Woher weißt du, dass er uns nicht haben will? Kennt er mich überhaupt?»

Mutter beantwortete diese Fragen nicht, aber ihre wilden Blicke schüchterten Makepeace nicht länger ein. Keine von beiden wusste, was sie mit der anderen anfangen sollte. Seit Makepeaces Geburt hatte Mutter immer alle Entscheidungen getroffen und Makepeace war ihr in allem gefolgt. Makepeace wusste selbst nicht, warum sie nicht länger stillhalten konnte. Margaret dagegen hatte nie lernen müssen, Kompromisse zu schließen, und sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Wenn sie Makepeace mit der Wucht ihrer Persönlichkeit in die Knie zwang, würde doch gewiss wieder alles so werden wie früher, nicht wahr? Nein, würde es nicht. Alles hatte sich verändert.

Und dann, zwei Jahre nach ihrem ersten «Stockspitzen», kehrte Makepeace von einer besonders schlimmen, schlaflosen Nacht in der Kapelle heim. Sie zitterte am ganzen Leib. Ein paar Tage danach brannte sich das Fieber durch ihren Körper, und jeder Muskel in ihrem Leib tat ihr weh. Zwei Wochen später war ihre Zunge fleckig und Pockenpusteln blühten auf ihrem Gesicht.

Die Welt war heiß und schrecklich, und Makepeace ertrank in einer erstickenden, abgrundtiefen Angst. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich sterben würde, und sie wusste, was aus toten Wesen wurde. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, und manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht schon tot war. Aber die schwarze Flut der Krankheit zog sich allmählich zurück und ließ sie am Leben. Übrig blieben nur ein, zwei kleine Pockennarben auf einer Wange. Jedes Mal, wenn sie ihr Spiegelbild im Wassereimer sah, spürte sie einen kleinen, angstvollen Stich im Magen und stellte sich vor, wie der Tod mit zwei Knochenfingern nach ihrem Gesicht gegriffen und dann langsam die Hand wieder weggezogen hatte.

Nachdem sie sich erholt hatte, vergingen drei Monate, ohne dass Mutter den Friedhof erwähnte. Makepeace nahm an, dass die Pocken ihre Mutter schließlich zu der Einsicht gebracht hatten, dieses Projekt aufzugeben.

Unglücklicherweise irrte sie sich.

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