Schattengeister

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Makepeace raffte ihren ganzen Mut zusammen und öffnete langsam die Augen. Sie schaute bewusst nicht zum Fenster. Gitter bedeuteten Gefangenschaft für Bär, und sie wollte nicht, dass er wieder in Panik geriet. Stattdessen blickte sie auf ihre Hände.

Sie ließ Bär sie sehen und krümmte langsam die Finger, damit er begriff, dass dies die einzigen Tatzen waren, die er jetzt noch hatte. Sie zeigte ihm die zerbrochenen und gesplitterten Nägel und die blutigen Fingerspitzen. Keine Krallen, Bär. Tut mir leid.

Ein kleines, dunkles Beben durchzog Bär. Dann senkte er Makepeaces Kopf und leckte mit ihrer Zunge über die verwundeten Finger.

Er war ein Tier und kannte weder Schuld noch Sühne. Er war ein Geist, dem man nicht vertrauen konnte. Vielleicht versorgte der Bär einfach nur instinktiv seine Verletzungen. Aber das Lecken war sehr sanft, als ob sie ein verwundetes Bärenjunges wäre.

Als der junge Diener mit einer Gerte das Zimmer betrat, um Makepeace zu züchtigen, weil sie «wie eine Heidin geheult und alle Teufel aus der Hölle herbeigerufen» hatte, war Makepeaces Entschluss gefasst. Sie würde Bär nicht verraten.

Lord Fellmotte hatte behauptet, es sei gefährlich, einen wilden Geist im Kopf zu haben, und vielleicht sprach er die Wahrheit. Aber sie mochte Obadiah nicht. Unter seinem Blick hatte sie sich wie eine Maus im Eulenrevier gefühlt. Wenn sie ihm von Bär erzählte, würde er Bär aus ihr herauszerren und vernichten.

Es war riskant, einem solchen Mann etwas vorzuenthalten. Wenn er jemals herausfand, dass Makepeace ein solches Geheimnis hatte, dann würde er vermutlich sehr wütend werden. Vielleicht würde er sie auf dem Moor aussetzen, wie er gedroht hatte, oder sie nach Bedlam schicken, wo man sie ankettete und auspeitschte.

Aber sie war froh, dass niemand auf ihre Hilferufe reagiert hatte. Bär hatte im Leben nie eine Chance gehabt. Sie war alles, was Bär hatte. Und Bär war alles, was sie hatte.

Und so sagte sie nichts, als die Gerte ein halbes Dutzend Mal auf ihre Schultern und ihren Rücken niedersauste. Die Hiebe stachen, und Makepeace wusste, dass sie Striemen hinterlassen würden. Sie kniff die Augen zusammen und gab sich alle Mühe, Bär in ihrem Geist ruhig zu halten. Wenn sie wieder die Kontrolle verlor und zuschlug, dann würde früher oder später jemand auf die Idee kommen, dass sie womöglich einen geisterhaften Passagier in sich trug.

«Das bereitet mir kein Vergnügen, weißt du», sagte der junge Mann mit frömmelnder Stimme, und Makepeace dachte, dass er das vermutlich tatsächlich glaubte. «Es ist zu deinem eigenen Besten.» Er hatte wahrscheinlich noch niemals so viel Macht über einen anderen Menschen gehabt.

Als er ging, standen Tränen in Makepeaces Augen, und sie hatte den Eindruck, als würde jemand rot glühende Eisen in das Fleisch auf ihrem Rücken drücken. Das Gefühl löste Erinnerungen aus, die aber nicht ihre eigenen waren.

Gitarrenklänge und Tamburinrasseln vibrierten in ihren Knochen und erschufen ein Bild von glühenden Kohlen unter ihren weichen, kindlichen Tatzen, die sie zum Tanzen zwangen. Sie torkelte und wollte sich auf alle viere fallen lassen, was ihr einen Schlag auf ihre empfindliche Schnauze einbrachte.

Es waren die Erinnerungen von Bär an seine frühe Kindheit, als man ihn abgerichtet hatte. Sie fühlte, wie sie um seinetwillen wütend wurde, und umarmte sich selbst, weil dies die einzige Möglichkeit war, wie sie ihn umarmen konnte.

In diesem Moment teilten Makepeace und Bär eine Erkenntnis. Manchmal musste man geduldig sein, weil man ansonsten noch mehr Schmerzen erlitt. Manchmal musste man alles aushalten und einstecken. Wenn man Glück hatte und wenn alle Welt dachte, man sei gezähmt und gebändigt … dann mochte eine Zeit kommen, wo man zurückschlagen konnte.

KAPITEL 6

Makepeace erwachte von einem leisen Geräusch. Tink, tink, tink. Einen Augenblick lang war sie verwirrt, bis ihre schmerzenden und wunden Glieder sie wieder daran erinnerten, wo sie war. Man hatte ihr weder eine Kerze noch ein Binsenlicht anvertraut, und so kam die einzige Helligkeit von dem Fenster.

Verblüfft erkannte sie einen Kopf am Fenster, der dunkel vor dem violetten Abendhimmel stand. Während sie noch hinstarrte, kam eine Hand in Sicht, die an die Gitterstäbe klopfte. Tink, tink, tink.

«Hey!», tönte ein Flüstern.

Schwankend stand Makepeace auf und humpelte zum Fenster. Zu ihrer Überraschung sah sie, dass sich ein schlaksiger Junge von etwa vierzehn Jahren an die Außenwand klammerte. Er schien auf einer Art schmalem Vorsprung zu balancieren und hielt sich mit einer Hand an den Gitterstäben fest. Er hatte kastanienbraunes Haar und ein freundliches, hässliches, eigenwilliges Gesicht. Dass hinter ihm ein vier Stockwerke tiefer Abgrund gähnte, schien ihn nicht zu kümmern. Seine Kleidung war besser als ihre, fast zu gut für einen Dienstboten.

«Wer bist du?», fragte sie.

«James Winnersh», antwortete er, als ob das alles erklären würde.

«Was willst du?», zischte sie. Sie war sich ganz sicher, dass er eigentlich nicht hier sein durfte. Sie hatte auch gehört, dass manche Leute Bedlam nur deswegen besuchten, um sich über die Wahnsinnigen lustig zu machen, und sie war nicht in Stimmung für Hohn und Gekicher.

«Ich wollte dich sehen!», sagte er immer noch flüsternd. «Komm her. Ich will mit dir reden.»

Zögernd näherte sie sich dem Fenster. Sie spürte, dass Bär sich in der Nähe von Menschen unbehaglich fühlte, und sie wollte nicht, dass er die Beherrschung verlor. Als das Licht von draußen auf ihr Gesicht fiel, stieß der Junge am Fenster ein kleines Lachen aus, das sowohl jubilierend als auch ungläubig klang.

«Es stimmt also! Du hast das gleiche Kinn wie ich!» Er berührte die Spalte in seinem eigenen Kinn, die genauso aussah wie ihre. «Ja», erklärte er, als sie große Augen machte, «das ist unser Vermächtnis. Sir Peters Daumenabdruck.»

Das Blut stieg Makepeace in die Wangen, als ihr klar wurde, was er meinte. Sie war nicht das einzige uneheliche Kind von Sir Peter. Tief in ihrem Inneren hatte Makepeace glauben wollen, dass sich ihre Eltern geliebt hatten, damit ihre Existenz eine Bedeutung bekam. Aber nein, Mutter war nur eine kurze Affäre für ihn gewesen, nicht mehr.

«Ich glaube dir nicht!», zischte Makepeace, obwohl sie es tat. «Nimm das zurück!» Sie ertrug es einfach nicht. In der seltsamen Weißglut des Augenblicks hätte sie am liebsten die Gitterstäbe aus dem Mauerwerk gerissen und ihn damit verprügelt.

«Du hast ja ein ganz schönes Temperament», sagte er erstaunt. Und Makepeace teilte sein Erstaunen – noch nie hatte jemand so etwas über sie gesagt, und schon gar nicht mit einem Anflug von Anerkennung. «Du bist tatsächlich wie ich. Pst! Weck nicht gleich das ganze Haus auf!»

«Was machst du hier?», fragte Makepeace mit leiserer Stimme.

«All die anderen Dienstboten reden über dich», gab der Junge bereitwillig Auskunft. «Young Crowe sagt, du seist verrückt, aber ich habe ihm nicht geglaubt.» Aha, der adlergesichtige junge Diener, der sie geschlagen hatte, war also tatsächlich der junge Crowe. «Auf der anderen Seite des Turms gibt es noch ein Fenster, da bin ich rausgeklettert und dann auf dem Sims hier herüberbalanciert.» Er grinste über seine Erfindungsgabe.

«Was, wenn du dich irrst? Was, wenn ich doch verrückt bin und dich jetzt runterstoße, in den sicheren Tod?» Makepeace fühlte sich immer noch gekränkt und in die Enge getrieben, aus keinem bestimmten Grund. Warum wollte ständig irgendjemand etwas von ihr, sei er nun lebendig oder tot? Konnte man sie und Bär nicht einfach in Ruhe lassen?

«Mir kommst du aber gar nicht verrückt vor», sagte James mit aufreizender Selbstsicherheit, «und ich glaube nicht, dass du stark genug bist. Wie heißt du?»

«Makepeace.»

«Makepeace? Oh, ich vergaß, du bist ja Puritanerin.»

«Bin ich nicht!», gab Makepeace zurück und wurde rot. Die gottesfürchtigen Leute von Poplar hatten sich nie als Puritaner bezeichnet, und als Obadiah sie so genannt hatte, hatte sie gemerkt, dass das Wort abfällig gemeint war.

«Haben da, wo du herkommst, alle solche Namen?», fragte James unbeirrt weiter. «Ich habe gehört, dass sie Fight-the-Good-Fight heißen, Spit-in-the-Eye-of-the-Devil, Sorry-for-Sin, Miserable-Sinners-are-We-All und so weiter.»

Makepeace gab keine Antwort. Sie war sich nicht sicher, ob er sich über sie lustig machte, denn in der Gemeinde von Poplar hatte es tatsächlich einen Sorry-for-Sin gegeben, kurz Sorry genannt.

«Geh weg!», sagte sie stattdessen.

«Ich bin gar nicht überrascht, dass man dich eingesperrt hat.» James kicherte. «Temperament wird hier im Haus nicht sonderlich geschätzt. Hör zu, ich finde eine Möglichkeit, dich da rauszuholen. Sir Thomas wird bald wieder in Grizehayes sein. Er ist Obadiahs Enkel, Sir Peters älterer Bruder. Er mag mich. Ich werde sehen, ob ich ein gutes Wort für dich einlegen kann.»

«Warum?», fragte Makepeace perplex.

James starrte sie genauso verständnislos an.

«Weil du meine kleine Schwester bist», sagte er.

Als er weg war, gingen Makepeace seine Worte nicht aus dem Sinn. Es sah ganz so aus, als ob sie einen Bruder hatte. Aber was bedeutete das schon? Wenn das, was James gesagt hatte, stimmte, dann war Lord Obadiah ihr Großvater, und in den Augen des alten Mannes hatte sie keine verwandtschaftliche Wärme erkennen können. Nur weil man dasselbe Blut hatte, hieß das noch lange nicht, dass man jemandem seine Geheimnisse anvertrauen konnte.

Und doch schien es James für selbstverständlich zu halten, dass er und Makepeace auf derselben Seite standen.

 

Aber die Tage vergingen, und James kehrte nicht zurück. Makepeace begann zu fürchten, dass sie zu abweisend gewesen war. Es dauerte nicht lange, und sie hätte alles dafür gegeben, ein freundliches Gesicht zu sehen.

Young Crowe war nicht nur ihr Wächter, sondern auch ihr Richter. Wenn sie widersprach, aufschrie oder störrisch schwieg, interpretierte er das als Zeichen einer melancholischen Geisteskrankheit. Zur Strafe erhielt sie ein paar schmerzhafte Schläge auf die Schienbeine oder Arme.

Makepeace hatte alle Mühe, Bär davon abzuhalten, zurückzuschlagen. Ihr Blick verdunkelte sich und sein Zorn drohte sie beide zu verschlingen. Nach den Besuchen von Young Crowe marschierte Bär stundenlang in dem kleinen Zimmer auf und ab und bellte manchmal mit ihrer Stimme auf. Manchmal gab es Momente, in denen er sie anscheinend verstand und sie ihn beruhigen konnte. Manchmal war es aber auch so, als würde man mit einer Gewitterwolke reden. Er begriff weder die Gitterstäbe noch Makepeaces körperliche Grenzen, noch ihr Verlangen, hin und wieder den Nachttopf zu benutzen.

Nachdem Bär ihre Schale quer durch das Zimmer geschleudert und zerbrochen hatte, legte man Makepeace Fußeisen an. In den darauffolgenden Tagen hielt man sie jeden Morgen fest und goss ihr ein rötliches Gebräu in die Nase, das nach Roter Beete roch und ihr «Gehirn kühlen» sollte. Als man sie beim Weinen erwischte, flößte man ihr eine Suppe ein, auf die sie erbrechen musste, um die «schwarze Galle» loszuwerden, die der Grund für ihre «Melancholie» war.

Bär war fremd und gefährlich und machte alles nur noch schlimmer. Trotzdem hielt sie an ihm fest. Sie hatte einen unsichtbaren Freund, und nur deshalb konnte sie die Verzweiflung in die Schranken weisen. Sie hatte jemanden, den sie beschützen wollte und der stumm in ihr tobte, weil er für sie das Gleiche tun wollte. Wenn sie schlief, war ihr, als ob sie sich um etwas Kleines, Rundliches kuschelte, wie um ein Bärenbaby, das gleichzeitig groß und warm war und sie umfasste, um sie vor der Welt zu bewahren.

Eines Tages ließ Young Crowe sie auf eine Trage fesseln und bedeckte ihr Gesicht mit einem Tuch. Sie wurde über die vielen Stufen nach unten getragen – oder besser gesagt: gekippt – und in einen Raum gebracht, in dem es heiß war und nach Rauch, Fleisch, Gewürzen und Zwiebeln roch.

«Kehrt die glühenden Kohlen aus, die Steine halten die Hitze noch lange genug. Helft mir, wir müssen ihren Kopf in den Ofen halten, nicht zu weit hinein …»

Makepeace wehrte sich, aber die Fesseln hielten sie fest. Sie fühlte das Ruckeln der Trage, als man sie anhob, dann die sengende Hitze des Ofens auf ihrem Gesicht, trotz des Tuchs. Sie konnte kaum noch atmen, und die heiße, rauchige Luft brannte in ihren Lungen. Ihre Haut stach und kribbelte, und sie schrie vor Angst auf, weil sie dachte, dass ihre Augen gleich anfangen würden zu kochen …

«Was machst du da, Crowe?», fragte eine fremde Stimme.

«Sir Thomas!» Der junge Crowe klang mit einem Mal eingeschüchtert. «Wir wollen das Lightfoot-Mädchen von ihrer Melancholie heilen. Die Hitze des Ofens wird alle ungeordneten Einbildungen aus ihrem Kopf herausschwitzen. Es ist eine bewährte Methode … hier in diesem Buch gibt es ein Bild davon …»

«Und was hast du dann mit ihr vor? Willst du sie mit Radieschen und Senf zum Abendessen servieren? Hol das Mädchen aus dem Ofen, Crowe. Ich will mit ihr reden, und das kann ich nicht, während sie gebacken wird.»

Ein paar Minuten später saß Makepeace, die immer noch vor Rauch und Tränen nur verschwommen sehen konnte, allein in einem kleinen Zimmer mit Sir Thomas Fellmotte, Obadiahs Erben.

Er hatte hellbraune Augen, eine joviale Art und eine Stimme, die in den Wald oder auf die Wiese gehörte. Auf den zweiten Blick erst sah sie das Grau in seinem langen, vornehm in Locken gelegten Haar und die Kummerlinien auf seinen Wangen. Erst da erkannte sie, dass er nicht mehr jung war. Sein Kinn wies die vertraute vertikale Spalte auf. Makepeace erinnerte sich daran, dass Sir Thomas der Bruder ihres Vaters war.

Zu ihrer Erleichterung erfüllte er sie nicht mit jener kalten Angst wie Obadiah. Er betrachtete sie mit einem warmen, menschlichen Blick, in dem ein bisschen Übermut lag.

«Ah», sagte er leise. «Du hast wirklich die Augen meines Bruders. Aber da ist auch jede Menge von Margaret in dir, wie mir scheint.» Eine Weile starrte er sie an, als ob ihr Gesicht die Kristallkugel einer Wahrsagerin wäre, in der er das Antlitz der Toten sehen konnte.

«Makepeace, nicht wahr?», fragte er unvermittelt in einem brüsken Ton. «Der Name für einen wahren Moralapostel, aber trotzdem ganz hübsch. Sag, Makepeace, bist du ein braves, hart arbeitendes Mädchen? James behauptet, du seist so vernünftig wie ein sonniger Nachmittag und würdest dich nicht scheuen, dir deinen Lebensunterhalt zu verdienen. Stimmt das?»

Makepeace wagte kaum zu hoffen; eifrig nickte sie mit dem Kopf.

«Dann bin ich mir sicher, dass wir einen Platz für dich bei den Dienstboten finden.» Er schenkte ihr ein freundliches, nachdenkliches Lächeln. «Was kannst du denn?»

Alles, hätte Makepeace fast gesagt. Ich werde alles tun, wenn Ihr mich nur vor dem Vogelzimmer und vor Young Crowe rettet. Aber gerade noch rechtzeitig dachte sie an Obadiahs tote Augen. Alles, wenn ich dabei nur seiner Lordschaft nicht zu nahe kommen muss

«Ich kann kochen!», sagte sie dann schnell, einer Eingebung folgend. «Ich kann Butter stampfen und Kuchen backen, Brot und Suppe machen und Tauben rupfen …» Sie hatte die Küche in Grizehayes unter ungünstigen Umständen kennengelernt, aber wenn sie dort arbeitete, musste sie Obadiah nicht unter die Augen treten.

«Ich werde mich darum kümmern», verkündete Sir Thomas. Er ging zur Tür, dann zögerte er. «Ich … ich habe oft an deine Mutter gedacht. Sie war so jung, als sie aus Grizehayes weglief, gerade mal fünfzehn, ganz allein in der Welt und mit einem unehelichen Kind.» Er runzelte die Stirn und zwirbelte an einem Jackenknopf. «War sie … war sie glücklich in dem Leben, das sie erwählt hatte?»

Makepeace wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Im Augenblick waren die Erinnerungen an ihre Mutter noch zu schmerzvoll, um sie hervorzuholen, wie scharfe Glassplitter.

«Manchmal», sagte sie schließlich.

«Nun», sagte Sir Thomas, «mehr kann man wohl nicht verlangen.»

KAPITEL 7

Noch am selben Nachmittag wurde Makepeace in frischer, sauberer Kleidung einer neugierigen Horde von anderen Dienstboten präsentiert. Nach der Dunkelheit und Isolation in dem kleinen Zimmer kam ihr alles sehr laut und sehr hell vor. Alle türmten sich über ihr auf, alles war ihr fremd, und Makepeace vergaß sofort alle Namen, die man ihr nannte.

Die Mägde waren anfangs scheu, doch dann bestürmten sie Makepeace mit Fragen über ihren Namen, über London und die gefährliche Welt außerhalb von Grizehayes. Niemand fragte nach ihrer Familie, und Makepeace nahm an, dass ihre Abstammung bereits allseits bekannt war.

Alle schienen der Überzeugung zu sein, dass Makepeace sehr froh und dankbar war, aus ihrem früheren Zuhause «gerettet» worden zu sein. Und alle stimmten darin überein, dass ein weiteres Paar Hände in der Küche sehr willkommen war.

«In der Küche ist sie am besten aufgehoben, meine ich», sagte eine Frau rundheraus. «Sie ist kaum ansehnlich genug, um der Familie aufzuwarten, nicht wahr? Seht sie euch an, die kleine fleckige Katze.»

«Wir haben einen französischen Koch», erklärte eine andere Frau Makepeace, «aber kümmere dich gar nicht um ihn, er ist nur zum Angeben da. Französische Köche kommen und gehen so regelmäßig wie die Apfelblüte. Es ist Mistress Gotely, der du gefallen musst.»

Makepeace wurde also zur Arbeit in die Küche geschickt, die so groß wie eine Höhle war, die Decke geschwärzt von Generationen von Rauch. Die Kochstelle war so riesig, dass Makepeace sechsmal darin Platz gehabt hätte. An den Dachbalken hingen Kräuterbündel, und an den Wänden glänzten die Zinnplatten. Seit Bär ihr heimlicher Passagier war, hatte Makepeace einen empfindlicheren Geruchssinn bekommen. Die Düfte in der Küche drangen mit einer irrsinnigen Wucht auf sie ein – herbe Kräuter und Gewürze, gesottenes Fleisch, Wein, Soße und Rauch. Sie fühlte, wie Bär unruhig wurde. Die Gerüche verwirrten ihn – und machten ihn hungrig.

Mistress Gotely war auf dem Papier lediglich die zweite Köchin, aber in Wirklichkeit die Königin der Küche. Sie war eine große Frau mit einem kräftigen Kiefer, einem gichtkranken Bein und wenig Verständnis für Narreteien. Und natürlich machte Makepeace ganz den Anschein einer Närrin, tollpatschig und unsicher, wie sie war. Sie wollte verzweifelt beweisen, wie nützlich sie sich machen konnte, damit niemand auf die Idee kam, sie wieder in das Vogelzimmer zu sperren. Das allein wäre schlimm genug gewesen, auch ohne einen Geisterbären in ihrem Kopf. Bär mochte weder die Hitze in der Küche noch die Dunkelheit und das Geklapper. Blutgeruch machte ihn fast verrückt, sodass die eine Hälfte ihres Geistes ständig damit beschäftigt war, ihn zu beruhigen.

Nach einer chaotischen und hastigen Einführung in die Abläufe der Hauswirtschaft mit der Spülküche, dem Weinkeller, der Speisekammer und den anderen Räumen ging Mistress Gotely mit Makepeace hinaus in den Hof, wo sich der Brunnen mit der Pumpe, die Kornkammer und das Feuerholz befanden.

In der Sonne sah Grizehayes anders aus. Das graue Mauerwerk hatte an den Stellen, wo es mit Flechten bewachsen war, einen goldenen Schimmer.

Es war ein bunt zusammengewürfeltes Haus: Alte, rissige Steine wechselten sich mit ordentlich geschnittenen grauen Quadern ab, und die Schieferdächer zierten Türmchen und kirchenähnliche Bögen. Makepeace sah Dinge, die bewiesen, dass das Anwesen nicht nur von Geistern bewohnt war: Teppiche hingen aus den Fenstern und wurden ausgeklopft und Rauch quoll aus den großen roten Schornsteinen.

Es ist ein echtes Haus, sagte sich Makepeace. Hier leben Menschen. Ich könnte hier leben.

Blinzelnd blickte sie zu den sonnenbeschienenen Mauern hoch, und dann erschauerte sie unwillkürlich. Es war, als ob man jemandem ins Antlitz blickte, der nur mit dem Mund lächelte, nicht mit den Augen. Irgendwie schaffte es dieses Haus, selbst das Tageslicht kalt wirken zu lassen.

Das Anwesen samt Ställen und dem mit Steinplatten ausgelegten Innenhof wurde von einer sieben Fuß hohen Mauer umgeben. Drei riesige Doggen waren an einer Mauerseite angekettet. Als Makepeace näher kam, sprangen sie auf und schossen auf sie zu, bis sie das Ende ihrer Ketten erreicht hatten. Dann stiegen sie auf die Hinterbeine und knurrten den fremden Geruch an. Makepeace machte einen Satz rückwärts; das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie fühlte, dass auch Bär Angst hatte, spürte ihn wie ein scharlachrotes Nebelwesen, das nicht wusste, ob es die gefletschten Zähne angreifen oder vor ihnen fliehen sollte.

In der umlaufenden Mauer klaffte ein großes Tor, das breit genug für eine vierspännige Kutsche war. Durch die Öffnung sah Makepeace Felder und dahinter das trostlose Moor, in dem sich die Grasinseln wie Federbüsche hochwölbten. Sie dachte an Obadiahs Drohung, sie dort auszusetzen, wo sie erfrieren oder ein herumwandernder Geist ihr Gehirn verzehren würde.

Sei dankbar für das, was du hast, ermahnte sie sich und wiederholte damit die Worte von Young Crowe. Es ist besser, unten in der Küche zu arbeiten, als oben im Vogelzimmer eingesperrt zu sein. Und im Vogelzimmer war es immer noch besser als in der Irrenanstalt von Bedlam. Und selbst Bedlam wäre besser gewesen, als da draußen in der Kälte von verrückten Geistern aufgefressen zu werden.

Tief atmete sie die frische Luft ein und betrachtete wieder die hohen, dicken, sonnenbeschienenen Mauern. Ich kann mich glücklich schätzen, redete sie sich ein. Besser hier drin als da draußen. Grizehayes war fremd und furchteinflößend, aber es war eine Festung. Die Dunkelheit konnte nicht hineingelangen. Doch obwohl sie mit aller Macht daran glauben wollte, fragte sie sich ständig, warum ihre Mutter von hier geflohen war. Ihre Worte gingen ihr nicht aus dem Sinn.

Du hast ja keine Ahnung, wovor ich dich bewahrt habe! Wenn ich in Grizehayes geblieben wäre

Den ganzen Tag lang unternahm Makepeace heroische Anstrengungen, um sich bei Mistress Gotely beliebt zu machen. Und dann, in der Hektik der Vorbereitungen für das Abendessen, ruinierte sie alles wieder.

 

Neben dem Herd rannte ein kleiner Küchenhund in einer Tretmühle, einem hölzernen Rad, das an der Wand befestigt war und mit dessen Hilfe der mächtige Bratspieß über dem Feuer gedreht wurde. Der Schwanz des kleinen, hässlichen Hundes war nur noch ein kurzer Stummel und sein Maul war von Hitze und Alter zerknittert. Er keuchte in der rauchigen Luft. Mistress Gotely hatte die Angewohnheit, ihm glühende Kohle vor die Pfoten zu werfen, damit er schneller rannte. Das war mehr, als Makepeace ertragen konnte.

Sie hatte noch lebhaft die Erinnerung an Bärs Kindheit und die glühenden Kohlen im Kopf, über die man ihn zu gehen zwang, damit er «tanzte». Jedes Mal, wenn ein Glutstückchen von dem Rad abprallte und die Funken aufstoben, erinnerte sie sich … fühlte es … fühlte den sengenden Schmerz unter ihren Tatzen …

«Aufhören!», schrie sie schließlich. «Lasst ihn in Ruhe!»

Mistress Gotely starrte sie verblüfft an, und Makepeace erschrak über ihren Ausbruch. Aber sie war so wütend, dass sie sich einfach nicht entschuldigen konnte. Sie stand bloß vor der Tretmühle und bebte vor Zorn.

«Was hast du gesagt?» Die zweite Köchin versetzte ihr einen deftigen Schlag auf den Kopf, der Makepeace zu Boden warf.

Bär tobte, und Makepeaces Wange brannte wie Feuer. Es wäre so einfach gewesen, nachzugeben und sich an diesen dunklen Ort zu begeben, Bär die Kontrolle zu überlassen und zuzusehen, wie er alles ringsum verwüstete … Sie schluckte und verscheuchte diese Gedanken aus ihrem Kopf.

«Er würde schneller laufen», sagte sie erstickt, «wenn seine Pfoten nicht ständig verbrannt wären! Ich könnte mich um ihn kümmern. Ich werde dafür sorgen, dass er schneller läuft, als sie es je erlebt haben.»

Mistress Gotely packte sie am Kragen und stellte sie auf die Füße.

«Es ist mir egal, wie dich deine sturköpfige Mutter erzogen hat», knurrte sie. «Das hier ist meine Küche. Außer mir schreit hier niemand herum!» Sie knuffte Makepeace ein paar Mal auf den Kopf und die Schultern und schnaubte dann genervt. «Von mir aus, ab jetzt ist der Hund dein Problem. Wenn er langsam läuft, nimmst du seinen Platz ein und drehst den Spieß. Und wehe, ich höre dich über die Hitze jammern!»

Zu Makepeaces Überraschung und Erleichterung meldete die alte Köchin den Vorfall nicht; man legte sie auch nicht wieder in Eisen. Im Gegenteil, von nun an herrschte zwischen ihnen beiden eine entspanntere Stimmung, auf eine wachsame, reservierte Art. Sie hatten einander getestet und gemerkt, wo die Grenzen der jeweils anderen lagen, wie spitze Felsen unter einer friedlich scheinenden Wasseroberfläche.

Als sie schließlich vor der großen Feuerstelle ihr eigenes Abendessen zu sich nahmen, war die griesgrämige Stille fast kameradschaftlich. Die Köchin kaute an einer Scheibe des harten dunklen Brots, das Makepeace ihr Leben lang gegessen hatte. Doch dann hielt ihr Mistress Gotely ein Stück Weißbrot mit einer goldenen Kruste hin, wie es die reichen Leute aßen. Makepeace starrte es nur an.

«Glotz nicht so», fuhr die Köchin sie an. «Iss. Lord Fellmottes Befehl.» Makepeace biss zögernd hinein und bestaunte die Süße und die Weichheit, die unter ihren Zähnen nachgab. «Sei dankbar und stell keine Fragen.»

Makepeace kaute und wunderte sich über diesen seltsamen Anflug von Freundlichkeit des frostigen Obadiah. Dann fragte sie trotzdem.

«Ihr sagtet, meine Mutter sei sturköpfig gewesen», sagte sie kauend. «Habt Ihr sie gekannt?»

«Ein bisschen», nickte Mistress Gotely, «obwohl sie hauptsächlich oben gearbeitet hat.» ‹Oben›, das klang wie ein weit entferntes Land, Frankreich etwa.

«Stimmt es, dass sie weggelaufen ist? Oder hat man sie aus dem Haus gejagt, weil sie ein Kind erwartete?» Makepeace wusste, dass so etwas nicht selten geschah.

«Nein», sagte Mistress Gotely. «Oh nein, sie hätten sie nie fortgeschickt. Sie ist aus freiem Willen gegangen, ohne ein einziges Wort zu irgendjemandem.»

«Warum?»

«Woher soll ich das wissen? Sie war ein verschwiegenes Ding. Hat sie es dir nicht gesagt?»

«Sie hat mir gar nichts gesagt», erwiderte Makepeace ausdruckslos. «Ich wusste nicht einmal, wer mein Vater ist. Das habe ich erst erfahren, nachdem sie gestorben war.»

«Aber … jetzt weißt du es?», fragte die alte Köchin und warf ihr einen scharfen Seitenblick zu.

Makepeace zögerte und nickte dann.

«Tja, früher oder später hättest du es sowieso herausgefunden.» Die Köchin nickte langsam. «Alle hier wissen es – es ist genauso wenig zu übersehen wie das Kinn da in deinem Gesicht. Aber … ich würde nicht herumlaufen und allzu offen darüber reden. Die Herrschaften könnten denken, du wärst vermessen und würdest Ansprüche stellen. Sei dankbar für das, was du hast, und mach keinen Ärger. Dann wirst du zurechtkommen.»

«Könnt Ihr mir denn sagen, wie er war?», fragte Makepeace.

Die Köchin seufzte und rieb sich mit einem wehmütigen und zärtlichen Blick das Bein.

«Ach, der arme Sir Peter! Hast du James Winnersh kennengelernt? Er ist Sir Peter in vielem sehr ähnlich. James ist ein rücksichtsloser Taugenichts, aber er hat ein gutes Herz. Er macht Fehler, aber er macht sie aus ehrlicher Überzeugung.»

Makepeace fing an zu verstehen, warum Sir Thomas James gernhatte, er erinnerte ihn an seinen toten Bruder.

«Was ist passiert? Wie ist Sir Peter gestorben?», fragte sie.

«Er hat versucht, auf einem Pferd, das zu erschöpft war, eine Hecke zu überspringen, die zu hoch war», antwortete die Köchin seufzend. «Das Pferd stürzte und fiel auf ihn drauf. Er war noch so jung, gerade einmal zwanzig.»

«Warum war denn das Pferd so erschöpft?», hörte Makepeace sich fragen.

«Tja, das werden wir wohl nie erfahren, was?», erwiderte Mistress Gotely scharf. «Aber … einige behaupten, er hatte es zuschanden geritten, als er nach deiner Mutter suchte. Es passierte zwei Monate, nachdem sie verschwunden war.» Sie betrachtete Makepeace mit einem Stirnrunzeln.

«Du warst ein Fehler, Mädchen», sagte sie sachlich. «Aber ein Fehler aus ehrlicher Überzeugung.»

An diesem Abend erfuhr Makepeace, dass sie als jüngstes und niedrigstes Mitglied des Küchenpersonals nicht mit den anderen Mägden zusammen in einem Bett schlafen durfte. Stattdessen musste sie mit einer Strohmatratze unter dem Tisch vorliebnehmen und dafür sorgen, dass das Feuer nicht ausging. Sie war nicht allein. Der Küchenhund und zwei der großen Doggen schliefen ebenfalls vor dem Feuer.

Bär war nicht glücklich über die Hunde, aber wenigstens war ihm ihr Geruch nicht fremd. Hunde hatten große, laute und grausame Mäuler, aber sie gehörten zum Leben dazu. Hundegeruch auf dem Markt, Hundegeruch nachts am Lagerfeuer.

Mitten in der Nacht wurde Makepeace von einem lang gezogenen, rumpelnden Knurren dicht an ihrem Ohr aus dem Schlaf geschreckt. Einer der großen Hunde war wach. Einen Moment lang hatte sie Angst, dass er sie gewittert hatte und für einen Eindringling hielt, doch dann hörte sie leise, schlurfende Schritte, zu leicht, als dass sie von der Köchin stammen konnten. Jemand war in der Küche.

«Komm raus!», hörte sie James’ leise Stimme. «Nero wird dich nicht beißen – es sei denn, ich befehle es ihm.» Er grinste, als Makepeace unter dem Tisch vorgekrochen kam. «Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich aus dem Turm raushole!»

«Danke», sagte Makepeace zögernd. Sie hielt immer noch gebührenden Abstand. Mittlerweile hatte sie ein gutes Gespür dafür bekommen, wie nah Bär fremden Menschen kommen konnte, ohne unruhig zu werden. Auch jetzt spürte sie eine leise Nervosität, das Verlangen, sich zu seiner vollen Größe aufzurichten und den Fremden schnaubend zu verjagen. Aber sie stand schon so aufrecht, wie sie konnte; sie hatte keine Reserven mehr.

«Das hast du gut gemacht, dir eine Arbeit in der Küche zu ergattern», sagte James und setzte sich im Schneidersitz auf den großen Tisch. «Das ist perfekt. Jetzt können wir uns gegenseitig helfen. Ich werde ein Auge auf dich haben und dir erklären, wie hier alles läuft. Und du kannst mir sagen, was du so hörst. Kannst mir Sachen aus der Küche besorgen, wenn niemand hinguckt …»

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