Vom Drachen zur RegioTram

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

4. 4. Der erste große Ausbau Kasseler Bahnhöfe und die Entstehung des Rangierbahnhofes

Die absehbare Schaffung der Direktverbindung Halle – Kassel löste in Kassel eine umfangreiche Bautätigkeit an den vorhandenen Bahnanlagen aus. Der Güterbahnhof in der Kasseler Unterstadt, den die Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahn anzulegen hatte, sollte nicht allein den Verkehr der Strecke von Halle aufnehmen. Vielmehr war wegen zunehmender Gewerbetätigkeit in der Unterstadt davon auszugehen, dass hier auch in nennenswertem Umfang Frachtaufkommen von den anderen drei Gesellschaften, deren Strecken Kassel berührten, anfallen würde. Aus dieser Situation resultierte schließlich die Forderung des preußischen Staates, für alle in Kassel zusammenlaufenden Strecken einen zentralen Zugbildungsbahnhof, also einen Rangierbahnhof, anzulegen. Die Anlage von Rangierbahnhöfen stellte um 1870 eine der wichtigsten Innovationen im Eisenbahnbetrieb dar, sie war eng verbunden mit der damals zumindest auf Hauptstrecken rasch voranschreitenden Trennung der Güter- von der Personenbeförderung in den Zügen im Kontext mit steigenden Transportvolumina.52


13: Aufbau des Knotens Kassel nach der Vollendung des Rangierbahnhofes 1881; Zeichnung Lutz Münzer

In Kassel entstand in Anbetracht der dringlichen Anlage der Strecke zum Güterbahnhof in der Unterstadt zunächst ein Abzweigbahnhof, der auch eine Lokomotivstation mit neunständigem Schuppen für die Lokomotiven der Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahngesellschaft erhielt. Andererseits wurde mit der Maßgabe, möglichst viele Teile dieses Abzweigbahnhofes unverändert beibehalten zu können, die Anlage eines Rangierbahnhofes gemeinschaftlich von den vier in Kassel anzutreffenden Bahnunternehmen betrieben. Die Planung des Rangierbahnhofes erwies sich als ein kompliziertes Unterfangen, erst der zehnte Entwurf gelangte nach nochmaliger Modifizierung zur Ausführung. Zu den Schwierigkeiten kam es u. a., weil nach dem Konjunktureinbruch im Rahmen der Gründerkrise 1873 die Transportmengen zeitweise abnahmen. Das bereits für den Rangierbahnhof erworbene Gelände war für die nun kleiner zu konzipierende Anlage überdimensioniert. Nach der Verstaatlichung der Strecke von Halle konnten die Anlagenteile dieser und der Hannoverschen Staatsbahn zusammengelegt werden. Erst 1878 begann der eigentliche Bau, am 8. Februar 1881 wurde die Anlage einschließlich der zu ihr führenden Strecken eröffnet. Der Bahnhof war beidseits einer ihn mittig durchschneidenden, zweigleisigen Strecke angelegt. Diese verband die Gleise des Abschnittes Hann. Münden – Kassel Hbf mit denen des Abschnittes Kassel Hbf – Guntershausen. Am Südkopf des Rangierbahnhofes zweigte in engem Bogen eine zweigleisige Verbindung zur Strecke Kassel Hbf – Warburg ab. Westlich der durchgehenden Strecke lag je eine Betriebswerkstätte für die Lokomotiven der BME und – gemeinschaftlich – für die MWB und die Hannoversche Staatsbahn. Außerdem besaßen auf dieser Seite die BME und die MWB ihre Zugbildungsanlagen. Auf der Ostseite der durchgehenden Gleise befand sich die Zugbildungsanlage für die Richtungen Hannover und Halle und, mittig zwischen deren Südteil und den durchgehenden Gleisen gelegen, eine große Stückgutumladeanlage. Vom Südteil der Ostseite gingen die zunächst parallel geführten Strecken zum Güterbahnhof in der Unterstadt und zu dem weiterhin vorhandenen Güterbahnhof neben dem Hauptbahnhof, als Güterbahnhof Oberstadt bezeichnet, aus. Diese beiden Strecken querten die Gleise von Hann. Münden nach Kassel Hbf in einem Tunnel.53


14: Durch die Tieferlegung der Gleisanlagen in Kassel-Wilhelmshöhe geriet das Empfangsgebäude in Hochlage – die Postkarte gibt den Zustand um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wieder; Slg. Ralf Böttcher

Zusätzlich zu dieser großen Neuanlage wurden umfangreiche Umbauten an den älteren Bahnanlagen vorgenommen. Bisher mündeten die Streckengleise von Westfalen in den Hauptbahnhof mittig zwischen denen von Kassel-Wilhelmshöhe und von Hann. Münden ein. Die wachsende Anzahl von Zügen, welche durchgehend zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Hann. Münden verkehrte, hatte immer die Gleise der westfälischen Strecke zu kreuzen. Das beeinträchtigte die Betriebsabwicklung häufig. Deshalb wurden die Einführungen der Streckengleise nun derart getauscht, dass zukünftig diejenigen von Kassel-Wilhelmshöhe in der Mitte lagen, die von Westfalen im Süden. Letztere kreuzten auf einer Überführung die Gleise von Wilhelmshöhe. Erleichtert wurde dieses Umbauvorhaben durch eine weitere, großräumigere Änderung der Gleisführung: Bisher hatten die Gleise in Wilhelmshöhe auf dem Scheitel eines Höhenzuges gelegen, die Wilhelmshöher Allee wurde an einem schienengleichen Bahnübergang gekreuzt. Noch im Bahnhofsbereich begannen an beiden Bahnhofsenden abfallende Streckenabschnitte, sodass, um unbeabsichtigtes Ablaufen von Wagen zu vermeiden, sehr vorsichtig rangiert werden musste. Nun wurden vom Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe ab die Gleise Richtung Hauptbahnhof tiefer gelegt. Das Empfangsgebäude geriet dadurch in Hochlage, die Wilhelmshöher Allee erhielt eine Brücke über die Gleise.54

4. 5. Kleinere Modernisierungen in der Region

Auch außerhalb von Kassel unterlagen die Bahnanlagen Modernisierungen. Auf Hauptbahnen wurden 1875 Einfahrsignale an den Bahnhöfen verbindlich, außerdem wurden in den 70er Jahren als zusätzliche Zugfolgestellen zur Erhöhung der Durchlassfähigkeit erste Blockstellen eingerichtet.55 Schließlich setzte in diesen Jahren die Zentralisierung der Bedienung von Weichen und Signalen in Stellwerken ein, in Lageplänen häufig als „Wärterbuden“ bezeichnet. Diese frühen Stellwerke fielen späteren Modernisierungen vollständig zum Opfer. Bis 1875 erhielt die Strecke der früheren KFWN mit Ausnahme des Abschnittes Liebenau – Hümme das zweite Streckengleis, in den nächsten Jahren wurde dieses auch dort verlegt.56 Am 24. August 1872 entgleiste ein in Richtung Kassel fahrender Schnellzug in der engen Kurve in der Ortslage Grebenstein. Die BME nahm dies zum Anlass, um die Strecke an den Ostrand der Stadt zu verlegen, die neue Linienführung wurde am 28. September 1875 in Betrieb genommen. Noch heute ist die alte Trasse im Siedlungsbild nachvollziehbar, jedoch wurden 1934 die Brücken über die Straßen beseitigt.57


15: Mit der Streckenverlegung 1875 bekam Grebenstein ein neues Empfangsgebäude, das bald zum Ansichtskartenmotiv avancierte; Slg. Ralf Böttcher


16: Seit der Vollendung der Eisenbahn Bebra – Friedland 1876 konnte zwischen Frankfurt und Göttingen statt über Kassel auch über Fulda gefahren werden; Zeichnung: Lutz Münzer

Andererseits wurde in Karlshafen 1881 ein Gleis völlig, ein anderes teilweise entfernt. Die Centesimalwaage entfiel wegen zu geringer Nutzung. Der bislang zum Teil seitens der Bahnunterhaltung (Bahnmeisterei) genutzte, als solcher eigentlich von Anfang an überflüssige Wagenschuppen wurde für 400 Mark auf Abbruch verkauft.58

4. 6. Konkurrierende Streckenbauten

Erstmals gab es in dieser Periode jedoch auch Einbußen in der Verkehrsbedeutung des Knotens Kassel: Noch in kurhessischer Zeit war der Bau der Bebra-Hanauer Eisenbahn, einer Staatsbahn, begonnen worden. Am 15. Dezember 1868 gelangte er zum Abschluss. Zusammen mit bereits vorhandenen Strecken bildete sie fortan die direkte und wichtigste Verbindung zwischen Frankfurt und Leipzig sowie Berlin. Damit entfiel der bisher über Guntershausen abgewickelte Verkehr in dieser Relation.59 Außerdem hatten – gleichfalls noch vor 1866 – Planungen für eine Strecke in Osthessen begonnen, zunächst gedacht als eine rein kurhessische Angelegenheit, welche Bebra über Eschwege mit Witzenhausen verbinden sollte, dort an die zukünftige Linie Halle – Kassel anschließend. Preußischerseits stellte man bei der Wiederaufnahme der Planungen den Verkehrswert der Linie als letztem noch fehlendem Glied einer direkten Verbindung zwischen den Nordseehäfen und Süddeutschland in den Vordergrund. Im Interesse eines möglichst direkten Verlaufs wurde auf die in kurhessischer Zeit avisierte Anbindung Witzenhausens verzichtet, die neue Linie stattdessen nordwärts nach Friedland geführt. Dort bestand Anschluss an die Linie Göttingen – Arenshausen. Mit der Halle-Kasseler Bahn kreuzte die Strecke Bebra – Friedland in Eichenberg. 1876 wurde die Strecke fertiggestellt. Zusätzlich zur Bahn über Kassel bestand nun zwischen Frankfurt und Göttingen eine weitere Verbindung. Bis 1914 wurde deren Verkehrswert dadurch beeinträchtigt, dass am Distelrasen in Elm, südlich von Fulda, ein Fahrtrichtungswechsel erforderlich war.60 Für die Region Kassel hatte die neue Linie den Vorteil, dass nun Richtung Göttingen ein weiterer Schienenweg zur Verfügung stand. In den folgenden Jahrzehnten wurden immer mehr Züge zwischen Kassel und Göttingen über Eichenberg statt über die alte Verbindung über Dransfeld geführt. 1980 wurde der zuletzt bescheidene Reisezugverkehr zwischen Hann. Münden und Göttingen eingestellt, wenige Jahre später folgten Stilllegung und Abbau der alten Strecke.

 

4. 7. Aspekte der Verkehrsentwicklung

Die Verkehrsentwicklung auf den Strecken in der Region dürfte den im übrigen Deutschen Reich bzw. in dessen Vorgängerstaaten (1866 – 1870) maßgeblichen Trends (vgl. Tab. 2) gefolgt sein: Beim Reisezugverkehr trat eine leichte Abnahme der durchschnittlichen Beförderungsleistung pro Streckenkilometer von 573 Personen pro Kilometer und Tag 1866 auf 537 im Jahr 1881 ein, bedingt dadurch, dass das Netz auf 230 % der Ausgangstreckenlänge massiv ausgeweitet wurde.61 Darunter befanden sich in zunehmendem Umfang Strecken mit bescheidenerem Verkehrspotential und auch -aufkommen. Im Raum Kassel steht für diese Strecken die 1880 vollendete Waldkappeler Bahn. Andererseits aber erfuhr die durchschnittliche Belastung der Strecken durch die Gütertransporte eine erhebliche Zunahme. 666 Tonnen pro Kilometer und Tag waren es 1866, 1130 bereits 1881.62 Hierin spiegelt sich das trotz des zwischenzeitlichen Konjunktureinbruches 1873 und der danach nur schleppenden Erholung insgesamt deutliche Voranschreiten der Industrialisierung und der Zunahme des Bruttonationalproduktes wider.

Entsprechend stieg auf den Hauptstrecken der Anteil der ausschließlich dem Gütertransport dienenden Züge und in den Zugbildungsstationen vermehrten sich die Rangieraufgaben, was sich wieder in der Anlage der speziell hierfür konzipierten Rangierbahnhöfe niederschlug. Bei der ehemaligen KFWN blieb im ab 1. Mai 1867 gültigen Fahrplan die Anzahl der Reisezüge (je nach Abschnitt und Richtung zwischen drei und fünf) unverändert, aber nun gab es zusätzlich zwischen Gerstungen und Kassel vier Güterzugpaare sowie zwischen Kassel und Warburg je nach Richtung drei bzw. zwei Güterzüge.63 Die MWB zählte zu denjenigen Strecken, auf denen damals der Personenverkehr den Güterverkehr an Bedeutung deutlich übertraf. Entsprechend erfolgte die Trennung der Gütervon der Personenbeförderung erst später, Mitte der 70er Jahre, dann aber rasch und gründlich. Sieben Güterzugpaare, darunter ein ausschließlich dem Eilgutverkehr (z. B. Vieh, leichtverderbliche Lebensmittel) dienendes, rollten damals täglich zwischen Gießen und Kassel.64

a) Hannoversche Staatsbahn


Güter [t] an 71.758
Güter [t] ab 25.978
Güterzüge/​Tag an 4
Güterzüge/​Tag ab 4

b) Bergisch-Märkische Eisenbahn


Güter [t] an 148.283
Güter [t] ab 60.641
Güterzüge/​Tag an 7
Güterzüge/​Tag ab 7

c) Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahn (Kassel Unterstadt)


Güter [t] an 30.025
Güter [t] ab 27.114
Güterzüge/​Tag an 4
Güterzüge/​Tag ab 4

d) Main-Weser-Bahn


Güter [t] an 29.543
Güter [t] ab 37.431
Güterzüge/​Tag an 5
Güterzüge/​Tag ab 6

e) Insgesamt


Güter [t] an 279.609
Güter [t] ab 151.164
Güterzüge/​Tag an 20
Güterzüge/​Tag ab 21

Hinweis: Es wird sich um güterbefördernde Züge, also auch um Reisezüge mit Güterbeförderung handeln.

Quelle: Münzer, Rangierbahnhof (wie Anm. 52), S. 16.

Tab. 3: Güterverkehr in Kassels Bahnhöfen 1872 nach Gesellschaften

Einen Eindruck vom Umfang des Güterverkehrs in Kassel in dieser Zeit vermittelt Tab. 3. Die Werte bildeten die Grundlage für die Bemessung der Anlagen des Rangierbahnhofes. Sie lassen die überragende Rolle der Strecke zum Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet mit der damals dort in rascher Zunahme begriffenen Kohleförderung erkennen. 1878 liefen im Kasseler Hbf täglich 18 Güterzüge der BME ein und aus. Mit ihnen wurden 1.670 Achsen befördert, also 93 pro Zug. Wesentlich handelte es sich um Durchgangsfrachten, Frachten, die weder Kassel als Ziel noch als Ausgangsstation hatten. So stammten 1867 über 2/​3 der Erträge der MWB aus dem Transitverkehr oder aus Verkehr zwischen der MWB und anderen Bahnen (= Übergangsverkehr), d. h. aus Beförderungsleistungen über die Endstationen Kassel und Frankfurt hinaus. Bei den Erträgen des Güterverkehrs rührten 1874 gar 85 % aus diesen Bereichen.65 Bei der Strecke KFWN bzw. BME dürfte die Situation ähnlich gewesen sein. Der Ausbau der Kasseler Bahnanlagen resultierte folglich zu einem wesentlichen Teil auch mit Blick auf ihre Funktionen als Knotenpunkt im Netz.

Die Trennung der Güter- von der Personenbeförderung auf den Hauptbahnen führte – da Güterzüge grundsätzlich keine Reisenden mehr beförderten – dazu, dass die Zahl der dem Reiseverkehr zur Verfügung stehenden Züge nahezu unverändert blieb, auf der MWB zwischenzeitlich sogar abnahm.66 1867 wie auch 1880 verkehrten zwischen Gerstungen und Kassel fünf Reisezugpaare, lediglich zwischen Kassel und Warburg sah es anders aus, indem hier 1880 fünf statt vier Reisezugpaare 15 Jahre zuvor verkehrten. Erheblich waren in dieser Zeit die Steigerungen der Reisegeschwindigkeiten, wobei dies weniger auf einer Zunahme der Fahrgeschwindigkeiten beruht haben dürfte. Neben der allmählichen Zunahme der Leistungsfähigkeit der eingesetzten Lokomotiven wird sich die Entlastung der Personenzüge von der Beförderung von Gütern und die dadurch mögliche Kürzung der Aufenthalte auf den Stationen niedergeschlagen haben. Bei den schnell fahrenden Zügen trat eine erhebliche Verminderung der Anzahl der Halte ein: Unterschieden sich die Schnellzüge der Strecke Gerstungen – Kassel – Warburg hinsichtlich ihres Haltestellenmusters 1867 noch nicht von den Personenzügen, so hielt der einzige Richtung Gerstungen die gesamte Strecke befahrende Schnellzug 1880 lediglich in Hofgeismar, Kassel, Guntershausen, Bebra und rollte über Gerstungen hinaus, ohne dort zu halten. 34,7 km/​h hatte die Reisegeschwindigkeit in diesem Schnellzug 1867 zwischen Warburg und Kassel betragen, 52 km/​h waren es 1880.

Erstmals wurden 1870/​71 in einem Krieg in großem Umfang Militärtransporte per Bahn über Kassel abgewickelt. Allein im Zuge der Mobilmachung wurden 338.000 Soldaten auf der MWB transportiert. Sie bildete Teil einer von Berlin ausstrahlenden Transportroute, auf der täglich zwölf Transporte westwärts durchgeführt wurden.67

4. 8. Der vollständige Übergang zum Staatsbahnsystem

Die Verwaltung der MWB war mit Wirkung vom 1. August 1868 auf die preußische Regierung übergegangen und wurde von ihr der Königlichen Direktion der Main-Weser-Bahn in Kassel übertragen. 1880 erwarb das Königreich Preußen die bislang noch dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt gehörenden Anteile an dieser Strecke und gliederte diese mit Wirkung vom 1. April 1880 der KED Hannover an.68 Damit existierte in Kassel keine Eisenbahndirektion mehr. Der preußische Staat trieb, nicht zuletzt zur Vermeidung volkswirtschaftlich unsinniger Investitionen in parallel zueinander verlaufende Eisenbahnen, die Verstaatlichung privater Bahnen in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zügig voran. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass die Aktionäre der BME 1879 selbst vorschlugen, entweder das Unternehmen zu verstaatlichen oder aber die Verwaltung, die seit 1854 der preußische Staat ausübte, wieder selbst zu übernehmen. Am 7. Dezember 1881 wurde mit dem preußischen Staat ein Vertrag dahingehend geschlossen, dass ab 1. Januar 1882 Verwaltung und Betrieb auf die Staatseisenbahnverwaltung übergingen, die BME als Unternehmen wurde bis zum 1. Januar 1886 liquidiert.69

5. Von stetigem Wachstum zur Phase neuerlichen Erweiterungen
5. 1. Neue Nutzer, neue Stationen

Wie bereits erwähnt waren in aller Regel die Eisenbahnen im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts kein Nahverkehrsmittel. Dem stand schon das anfängliche Missverhältnis zwischen Fahrpreisen und den Einkommen der Mehrheit der Bevölkerung entgegen. Tägliches Pendeln per Bahn zum Arbeitsplatz wäre für diese aus Kostengründen nicht in Betracht gekommen. Steigendes Lohnniveau einerseits, dahinter relativ zurückbleibende Fahrpreise andererseits verschoben hier allmählich die Relationen. Außerdem wurde in Deutschland in den 70er Jahren allgemein die 4. Wagenklasse eingeführt – zwar mit spartanisch ausgestatteten Wagen, aber dafür gegenüber der 3. Wagenklasse halbiertem Fahrpreis. Schließlich wurden um diese Zeit vermehrt tarifliche Regelungen zugunsten von Berufs- und Ausbildungspendlern im Sinne der Einführung hoch rabattierter Zeitfahrkarten geschaffen.70 Die allmähliche Zunahme des Angebotes an Reisezügen einerseits und das Wachstum der Zahl der gewerblichen Arbeitsstätten vor allem in den Zentren andererseits wirkten zusätzlich zugunsten einer Nutzung der Bahn als Verkehrsmittel beim Weg zur Arbeits- oder Ausbildungsstätte. Im Zusammenhang mit diesen, einander wechselseitig vorantreibenden Entwicklungen entstand, beginnend in den frühen 80er Jahren, in der Region eine Vielzahl neuer Stationen an den Hauptbahnen (vgl. Tab. 4).

Die Eröffnung eines Bahnhofes in Obervellmar am 1. Oktober 1896 erfolgte im Rahmen des Baues der von hier ausgehenden Nebenbahn nach Volkmarsen – bereits 1848 hatte es vergebliche Bemühungen um die Anlage einer Station gegeben.71


Station Eröffnung
Haueda 1. Oktober 1907
Lamerden 1. Juni 1894
Eberschütz 1. Februar 1911
Immenhausen 1. April 1882
Obervellmar 1. Oktober 1896
Kassel-Harleshausen 1. Juni 1893
Vernawahlshausen 1896
Kassel-Oberzwehren 1. Oktober 1891
Rengershausen 1. Juni 1912
Niedervellmar 1. Mai 1898
Wilhelmshausen 15. August 1909

Quellen: HStAM, Best. 605, 1, Nr. 535, 612, 642; Best. 150, Nr. 2090; Nachrichten KED Kassel 1895 - 1905, S. 22

 

Tab. 4: Neue Reisezugstationen an Hauptbahnen in der Region Kassel bis 1914

Auch an den schon 1880 vorhandenen Nebenbahnen wurden später neue Reisezughaltestellen eingerichtet: An der Waldkappeler Bahn Waldau (um 1900) und – mit der Verlängerung der Strecke bis zum Kasseler Hbf – Kirchditmold, an der Carlsbahn Stammen (1895) und Wülmersen (1899).

In der Regel oblag den an diesen neuen Stationen interessierten Gemeinden die Begleichung zumindest eines Teiles der Anlagekosten. In Stammen z. B. hatte die Gemeinde die Aufwendungen für den Bau des Bahnsteiges sowie die Beschaffung zweier Laternen zu übernehmen und musste weiterhin für die Vorhaltung eines Warteraumes Sorge tragen – ein Wirt erklärte sich bereit, seine 80 Meter vom Haltepunkt entfernte Gaststätte als Warteraum zur Verfügung zu stellen. Wegen der erheblich höheren baulichen Aufwendungen etwa im Kontext mit der Zweigleisigkeit und den für die hier längeren Züge auch längeren Bahnsteige lagen die Kosten für die Stationen an den Hauptbahnen um ein Vielfaches höher als an den Nebenbahnen. Daher wurden hier die Belastungen für die interessierten Gemeinden spürbar höher. Etwa 230 Mark hatte die Gemeinde Stammen für ihren am 1. Februar 1895 eröffneten Haltepunkt an der Carlsbahn zu zahlen, 1746 Mark hingegen die Gemeinde Eberschütz für die am 1. Februar 1911 eröffnete Station an der Hauptbahn nach Warburg.72

Die Verkehrsvolumina der neuen Stationen variierten beträchtlich: 1907 wurden nach Wülmersen 4.950 Fahrkarten verkauft, 5.274 für dort Zusteigende. Darunter befanden sich Zeitfahrkarten, sodass die Zahl der Reisenden höher lag. Im Haltepunkt Oberzwehren wurden 1907 56.809, zwei Jahre später schon 71.267 Fahrkarten verkauft, in einigen Frühzügen Richtung Kassel stiegen jeweils etwa 380 Arbeiter zu.73