Allein

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Die Häuser und Straßen zeichneten sich pechschwarz bis dunkelgrau ab, deren Konturen nur sehr schwer zu unterscheiden waren. Die Wasseroberfläche des Kanals und der Himmel zeigten sich in etwas helleren Grautönen, aber nur solange, bis die Wolken den Mond wieder freigaben, dann konnte er auch Einzelheiten wie Bäume, Büsche, Autos und die Fensterscheiben der gegenüberliegenden Häuser erkennen. Der Erdtrabant hing sichelförmig am Firmament, würde aber demnächst untergehen, was Robert jedoch nicht sehen konnte, denn das Fenster, an dem er stand, war nach Nordosten gerichtet. Die Luft, die er atmete, war so rein, dass es ihm vorkam, als ob er sich gar nicht in der Stadt, sondern irgendwo auf dem Land befände. Das betraf auch die unheimliche Stille, die ihn momentan umgab. Sie war beinahe perfekt, diese Stille. Robert schloss die Augen und lauschte. Sogar die Natur schweigt. Bis auf ein kleines Lüftchen steht alles still ...

Er blickte auf seine Armbanduhr, wobei er das Ziffernblatt in Richtung Kerze drehte, damit er etwas erkennen konnte. Der kleine Zeiger stand zwischen zwei und drei, und der große kurz vor sechs. Der Sekundenzeiger überrundete gerade den Minutenzeiger und begann seinen Anstieg, um die Runde zu beenden.

Wenn meine Uhr richtig eingestellt ist, dann ist es exakt vor vierundzwanzig Stunden geschehen. Nur noch eineinhalb Minuten ... was ist...

Er hörte ein schwaches Rauschen, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Das ist nicht der Wind, es ist zu ... konstant! Er konzentrierte sich voll und ganz darauf.

Bilde ich mir das nur ein, oder wird es tatsächlich lauter? Es hat einen Ursprung, soviel steht fest. Das Rauschen kommt von Osten, es klingt wie ... wie das Rauschen aus meinem Kofferradio ... und dem Autoradio.

Plötzlich war es draußen pechschwarz. Der Mond war binnen eines Sekundenbruchteils untergegangen. Das Rauschen schwoll immer noch an.

Was auch immer das zu bedeuten hat, es nähert sich mit großer Geschwindigkeit!

Zu dem Rauschen gesellten sich noch andere Geräusche. Ein extrem tiefer Basston, der ebenfalls konstanter Natur war. Außerdem ein feines kratzendes Sirren, das auf und ab wogte. Es klang wie das Zirpen von Millionen Grillen in einer lauen Sommernacht.

Vielleicht ein Insektenschwarm? Robert konzentrierte seinen Blick in östlicher Richtung, doch dort war es stockdunkel, wie auch sonst überall. Wind setzte ein, zuerst ganz schwach, doch nach und nach wurde er stärker. Robert sah auf seine Armbanduhr. Es war wenige Sekunden vor halb drei.

Plötzlich hellte sich der Horizont auf, als ob eine Tür in einem fensterlosen Raum langsam geöffnet würde, in den das Licht mit zunehmender Intensität ins Innere flutete. Der Himmel verwandelte sich wie bei einer Zeitrafferaufnahme. Einzelne Wolken zogen gigantischen Ufos gleich in atemberaubendem Tempo über Robert hinweg. Sie strömten auf den Horizont zu, der sich inzwischen rot gefärbt hatte. Es wirkte, als ob der Himmel im Osten in lodernden Flammen stünde und die Wolken ansaugte wie ein Schwarzes Loch die Materie eines ganzen Sonnensystems.

Der Wind hatte sich erst eingependelt auf eine gleichbleibende Stärke und war ganz plötzlich wieder abgerissen. Im Moment war es windstill. Der Lärm jedoch war weiter angeschwollen. Das Rauschen war nun nicht mehr so konstant wie zu Beginn. Robert konnte hören, wie es durchzogen war mit einem Knistern und peitschendem Klatschen und Knacken. Ein Basston vibrierte einem australischen Didgeridoo ähnlich und komplettierte das Orchester. Das Grillenzirpen entpuppte sich als eine kaum erträgliche Flut von unzähligen Einzelgeräuschen im höchsten, für das menschliche Ohr gerade noch hörbaren, Frequenzbereich, die jeweils nur Bruchteile von Sekunden dauerten. Einzelne hielten ein wenig länger an und rissen mit einem Schnalzlaut abrupt wieder ab. Kaum merkbar war im Hintergrund außerdem ein leises Pfeifen zu hören, wie von einem unter Druck stehenden Kochtopf oder Teekessel. Das war neben dem dröhnenden Bass das einzige gleichbleibende Geräusch, das er im Augenblick wahrnehmen konnte.

Erstaunt verfolgte er die Bahn der Sonne, die in der ersten halben Minute seit ihrer Geburt, die unglaubliche Strecke bis zu ihrem Höchststand zurückgelegt hatte. Das konnte er durch das Fenster zu seiner Rechten beobachten, denn das Wohnzimmer war ein Eckzimmer, mit vier Fenstern, von denen zwei nach Nordosten und die restlichen zwei nach Südosten gerichtet waren. Dann machte Robert eine andere, in gleichem Maße erstaunliche Entdeckung. Nachdem er seinen Blick vom Himmel gelöst hatte, entdeckte er dass die Straße vor seinem Haus sich in einen bunten, durchschimmernden und sich windenden Wurm verwandelt hatte, der in den verschiedensten Farben schillerte, wie die Oberfläche eines Opals.

Die Straße ... kein Wurm ... das sind Autos, stammelte sein Verstand. ... Menschen ... aber wieso ... so schnell ... die Zeit?

Er sah auf seine Uhr. Es waren kaum drei Minuten vergangen, seit er dieses Phänomen beobachtete. Mit einem Mal verdunkelte sich der Himmel, der in der Zwischenzeit von Gewitterwolken bedeckt worden war. Die Windrichtung hatte sich scheinbar auch geändert, denn die Wolken flogen nun geradewegs auf Robert zu. Die Welt außerhalb Roberts Wohnung verwandelte sich in ein verschleiertes Grau.

Es regnet! Er streckte die Hand aus dem Fenster, doch er wurde nicht nass. Wenige Sekunden, nachdem das Gewitter ausgebrochen war, riss der Himmel auf, die Wolken wurden auseinandergefegt und die Umgebung hellte sich wieder auf. Robert konnte sehen, wie der Asphalt in kürzester Zeit trocknete. Der Wurm wälzte sich noch immer entlang der Straße, am Fuß seines Hauses und genauso am gegenüberliegenden Ufer.

Es muss jetzt früher Nachmittag sein. Seine Gedanken begannen wieder koordiniert durch seine Gehirnwindungen zu fließen. Der Überraschungseffekt war vorüber. Seit seinen ersten außergewöhnlichen Wahrnehmungen waren fünf Minuten vergangen.

Der Tag läuft, jedenfalls wettermäßig, so ab wie der, den ich gestern selbst durchlebt habe. Nur im Zeitraffertempo ... und wie es aussieht mit anderen Menschen! Robert betrachtete fasziniert das Treiben unter und über ihm. Die Wolken überquerten noch immer mit schwindelerregender Geschwindigkeit den Himmel, auch wenn sie nur mehr vereinzelt vorüberzogen.

So sehr er sich auch anstrengte, konnte er keine einzelnen Fahrzeuge in dem Wurm ausmachen. Aber er bemerkte wohl, dass die vor dem Haus parkenden Autos sprunghaft wechselten. Erst stand hinter seinem Colt ein weißer Volkswagen, dann entstand für zwei Sekunden eine Lücke. Plötzlich parkte in derselben ein dunkelblauer BMW. Das gleiche Schauspiel ereignete sich vor seinem Wagen. Ein grauer Mercedes wechselte übergangslos in einen roten Wagen, dessen Marke Robert von oben nicht erkannte. Die ganze Zeit wurden Fahrzeuge getauscht, verschwanden, tauchten aus dem Nichts auf. Nur der schwarze Colt stand unbewegt auf seinem Platz.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, erst ganz langsam, dann nach und nach schneller. Robert sah die Schatten wachsen, von Sekunde zu Sekunde immer länger werden. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite begannen golden zu schimmern, die Fensterscheiben funkelten für wenige Augenblicke wie Sprühkerzen, als sich die untergehende Sonne in ihnen spiegelte, und erloschen wenig später wieder. Alles verwandelte sich allmählich in eine graue Masse. Nur die Autoschlangen auf den Straßen begannen rotorange und weiß zu leuchten. Auch die Straßenbeleuchtung konnte Robert eindeutig sehen. In den Häusern gingen nach und nach die Lichter an. Manche gingen auch gleich wieder aus. Die Welt vor seinem Fenster hatte sich in einen riesengroßen Flipper verwandelt, dessen Lämpchen wie verrückt flimmerten.

Robert hatte zuerst gar nichts bemerkt, doch als er sich - inspiriert durch die anderen erhellten Fenster - umdrehte, erstrahlte sein eigenes Wohnzimmer im künstlichen Licht. Der Strom war wieder da!

Oh Gott, vielleicht ist dies der Wendepunkt. Jetzt wird alles wieder gut! Was auch immer mit mir geschehen ist... ich glaube, es ist vorbei! Robert fühlte sich in jenem Augenblick wie ein Kleinkind vor dem Weihnachtsbaum am Abend der Bescherung. Er tanzte durch das Wohnzimmer, kam wieder ans Fenster zurück und blickte erwartungsvoll in die Nacht hinaus. Die Autoschlange hatte sich praktisch aufgelöst. Einzelne Lichtpünktchen schossen mit ungeheurer Geschwindigkeit die Straße entlang. Die Lichter in den Wohnungen gingen nach und nach wieder aus.

Die Geräusche hatten sich ebenfalls verändert. Robert hatte sich schon so daran gewöhnt, dass er sie gar nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte, obwohl es nach wie vor unangenehm laut gewesen war. Die optischen Reize hatten seine gesamte Aufnahmefähigkeit in ihren Bann gezogen. Doch jetzt, da der Pegel nachließ, und das Konzert der etwas anderen Art im Abklingen war und allmählich wieder in dieses altbekannte Rauschen überging, lenkte er seine Aufmerksamkeit abermals darauf.

Es bildet sich zurück, zu seinem ursprünglichen Geräusch. Der ganze Spuk geht zu Ende. Ich bin mir sicher, dass das Rauschen auch bald wieder abgeklungen ist, und was dann folgt ...

Noch bevor er diesen Satz zu Ende denken konnte, vernahm er ein Gurgeln, das genauso klang wie das Gurgeln des Wassers in einer Badewanne, wenn der letzte Rest in den Abfluss gesaugt wird.

... werde ich sehen, wenn es soweit ist.

Dann ging das Licht aus und er stand im Dunkeln.

Es ist soweit. Die Kerze war durch einen Luftzug irgendwann ausgelöscht worden. Er hatte bis jetzt auch genug Licht und andere Dinge, die seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Bis jetzt. Ganze zehn Minuten! Für zehn Minuten Licht und Strom. Zehn Minuten Zivilisation, Menschen, Hoffnung. Aus und vorbei.

 

Neiiin! Die Stadt hatte wieder das unbelebte Gesicht von vorhin angenommen. Ihr Antlitz wirkte wie das einer Filmkulisse nach Beendigung der Dreharbeiten. Alles wirkte unecht, einer Maske gleich. Wenn man dahinter blickt, dann gibt es dort nichts zu sehen. Robert fühlte sich in jenem Moment, in dem er an seinem Fenster stand und auf die verlassenen und vom Mond nur spärlich beleuchteten Straßen und den Kanal hinabblickte, wie eine vergessene Requisite. Er fürchtete sich davor, dass sich dieses Schauspiel wiederholen könnte. Der Tag, der innerhalb von zehn Minuten vor seinen Augen vorbeizog, während er hilflos zusehen musste, wie es geschah.

Er war der vertrauten Welt so nah gewesen und gleichzeitig doch so fern. Dieser Gedanke versetzte ihn in Panik und jagte ihm eiskalte Schauer den Rücken hinab.

Was kommt jetzt noch? Was kann ich noch ertragen, ... was muss ich noch ertragen? Weshalb ausgerechnet ich?

3.

Lisa öffnete das Küchenfenster und beugte sich weit hinaus, um das Geräusch besser hören zu können. Es klang wie das Rauschen einer Meeresbrandung, nur schien es eine einzelne gigantische Flutwelle zu sein, die sich näher und näher wälzte. Sie spähte in die Richtung, aus der es kam, doch die anderen Häuser des Blocks, die diesen Innenhof bildeten, versperrten ihr die Sicht.

Plötzlich lösten sich ihre Füße vom Küchenboden, und sie verlor das Gleichgewicht. Sie fiel kopfüber aus dem Fenster und ruderte wie wild mit den Armen. Ihr Mund öffnete sich - sie wollte schreien -, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Die Luft strich durch ihre Kehle, aber ihre Stimmbänder wollten einfach nicht schwingen. Verzweifelt ruderte sie mit ihren Armen, um dem scheinbar Unvermeidlichem doch noch zu entgehen. Der Rasen kam unerbittlich näher, doch knapp über dem Boden wurde ihr Fall gebremst, und sie flog horizontal über ihn hinweg. Sie steuerte auf die mächtigen Kastanien zu und gewann allmählich an Höhe. Als sie die Baumwipfel erreicht hatte, flog sie eine leichte Linkskurve und schwebte über das Dach eines der Häuser, die ihr vorhin die Sicht versperrt hatten.

Was sie auf der anderen Seite sah, verschlug ihr fast den Atem. Ein riesiger See erstreckte sich von der Hausmauer unter ihr bis zu einem Gebirgszug, der sie an ihre Heimat, an Kärnten, erinnerte.

Ein Traum, es ist nur ein Traum. Irgendwie wusste sie aber, dass dieser See nicht in Kärnten lag, sondern im Salzkammergut. Sie war schon einmal dort gewesen!

Attersee, ... das ist der Attersee! Das Rauschen war auf dieser Seite des Hauses lauter und kam noch immer näher, aus der Richtung, in der die Berge lagen. Lisa konnte jedoch die Ursache nicht erkennen.

Die ganze Szenerie wirkte friedlich, nahezu idyllisch, … wäre da dieses unangenehme Geräusch nicht gewesen.

... Lisa ... Lisa ...

Eine verzerrte Frauenstimme rief ihren Namen.

... Lisa ... Sie kannte diese Stimme.

Das ist der See. Der See ruft meinen Namen!

Sie blickte zur Wasseroberfläche hinunter. Sie wollte nicht dorthin, doch der See zog sie auf magische Weise zu sich hinab, auf eine unter der Oberfläche treibende Gestalt zu. Sie schwebte über dem Wasserspiegel und beobachtete, wie der Körper unter dem Wasser immer höher stieg, bis sie ihn beinahe berühren konnte. Lisa hätte ihren Arm nur ausstrecken müssen, doch nichts widerstrebte ihr im Augenblick mehr, als genau das zu tun. Das Gesicht der Gestalt wurde unter der schaukelnden Wasseroberfläche immer deutlicher erkennbar. Es war das verzerrte Abbild ihrer Freundin... Susi... Susi Kramer!

Oh mein Gott, das ist sie! Lisa sah, wie Luftblasen von Susis geöffnetem Mund aufstiegen. Die Lippen bewegten sich, als ob sie ihr etwas Wichtiges sagen wollte, doch Lisa konnte nichts hören, außer dem brausenden Geräusch, das nun überall zu sein schien. Dennoch konnte sie ihren Blick nicht von Susis schreckensgeweiteten Augen und den aufsteigenden Luftbläschen nehmen. Sie starrte wie gebannt auf die blasse aufgedunsene Gestalt ihrer ertrunkenen Freundin und war unfähig sich zu bewegen.

Plötzlich begann Susis Körper wieder hinab zu sinken. Die Leiche streckte ihre Arme nach Lisa aus, noch immer die Lippen bewegend. Sie sank immer tiefer dem dunklen, schlammigen Seeboden entgegen und wurde immer unscheinbarer, bis sie nicht mehr zu erkennen war. Einzelne Luftblasen stiegen noch an die Oberfläche, dann war der See wieder ruhig.

Susi, rief sie. „Susi!“

Lisa schreckte hoch. Sie war von ihren eigenen Rufen wach geworden.

Nur ein Traum, ... es war nur ein ... das Rauschen konnte sie aber immer noch hören. Ebenso hörte sie ein Peitschen, Pfeifen und Klatschen, einen tiefen Basston, Grillenzirpen und Schnalzen.

Was ist das? Lisa überlegte kurz, ob sie aufstehen, oder unter die Decke kriechen sollte. Sie entschied sich für die erste Möglichkeit und kletterte aus dem Bett. Als sie am Badezimmer vorbeikam, bemerkte sie, dass die Neonröhre leuchtete. Auch im Wohnzimmer brannte das Licht. Sie drehte beides ab, denn es war taghell. Sie schlurfte zum Fenster und öffnete es, um hinauszusehen. Dieses infernale Getöse war zwar überall zu hören und schien aus keiner bestimmten Richtung zu kommen wie in ihrem Traum, doch draußen war es entschieden lauter als innerhalb der Wohnung.

Die folgenden Beobachtungen, die sie machte, ließen Lisa wieder einmal an ihrem Geisteszustand zweifeln. Sie sah, wie die Wolken am Himmel vorüberzogen, als wären es tieffliegende Überschallflugzeuge, wie diese immer mehr und mehr wurden, bis der Himmel bedeckt war von einer schwarzgrauen, brodelnden Wolkenmasse, die vorbeifloss wie ein Pyroklastischer Strom. Danach hüllte sich alles in ein nebeliges Grau, und Lisa verfolgte fassungslos, wie die Dächer ringsum nass wurden. Wenige Sekunden später riss die Wolkendecke wieder auf und die Dächer trockneten genauso schnell und mysteriös. Sie beobachtete, wie die Sonne innerhalb einer Minute die Strecke von drei Stunden zurücklegte, um schließlich wie jeden Tag an der üblichen Stelle hinter einem Dach zu verschwinden.

Ich muss noch träumen, so etwas gibt es nicht. Im Hof wurde es rasch dunkler, und das schnelle Ergrauen der Umgebung erweckte bei Lisa den Anschein, als ob alle Farben aus den Dingen gesaugt würden. Nach und nach verblassten sie zu einem stumpfen Grauton. Es war wieder Nacht geworden.

Wie schnell die Zeit verflieg! Unheimlich! Die Geräusche verebbten zu dem konstanten Rauschen, bis es mit demselben blubbernden Gurgeln endete, das auch Robert Lang im selben Augenblick hörte. Lisa verharrte einen kurzen Moment im Dunkeln. Dann stolperte sie ins Schlafzimmer und kroch unter die Bettdecke, nachdem sie die Kerze auf ihrem Nachtkästchen in Brand gesetzt hatte. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf. Vor allem aber hatte sie Angst. Angst davor einzuschlafen, während sich die Welt um sie herum zu einem noch unfreundlicheren Ort verwandeln konnte, als er ohnehin schon war. Angst davor, welche Überraschungen noch auf sie warteten. Sie fühlte sich wieder wie das kleine Mädchen, das bei einem Gewitter zu den Eltern unter die Bettdecke kroch. So sehr sie das Tageslicht herbeisehnte, fürchtete sie sich gleichermaßen vor den Entdeckungen, die sie auf ihrer Erkundungsfahrt durch die Stadt machen würde. So lag sie im Bett und erwartete sehnsüchtig den Tagesanbruch, doch die restliche Zeit zog sich unbarmherzig in die Länge wie ein alter, zähelastischer Kaugummi. Die Nacht wollte einfach nicht zu Ende gehen. Lisa nahm ein Buch zur Hand und begann darin zu lesen, doch sie schweifte mit ihren Gedanken immer wieder ab, sodass sie gar nichts von dem Text mitbekam, den ihre Augen überflogen. Sie musste immer wieder von neuem beginnen. Schließlich kapitulierte sie und legte das Buch wieder weg.

Doch jede Nacht muss irgendwann einmal dem Tag weichen, und so ging auch diese zu Ende. Im Morgengrauen schleppte sie ihre müden Knochen ins Badezimmer und half ihrem Kreislauf durch eine kalte Dusche auf die Sprünge. Es war zwar nicht gerade die angenehmste Art und Weise, sich auf die kommenden Ereignisse vorzubereiten, doch die wirkungsvollste und momentan einzige Alternative, die sich bot.

Auch wenn sie sich lieber wieder in ihrem Bett verkrochen hätte, wusste sie, dass das keine Lösung war. Sie musste unbedingt herausfinden, was geschehen war und wer die Signale abgegeben hatte. Sie musste andere Menschen finden!

4 Begegnungen

1.

Lisa schob ihr Fahrrad vom Haustor über den Gehsteig auf die Straße, rückte die Sonnenbrille zurecht und schaute währenddessen aus Gewohnheit die Gasse entlang, ob sich ein Fahrzeug näherte. Dann schwang sie ein Bein über den Rahmen des dunkelgrünen Citybikes und nahm auf dem Sattel Platz. Die Erkundungsfahrt konnte beginnen.

Der Himmel erstrahlte in wolkenlosem Blau, das auf einen wunderschönen, aber sehr heißen, Tag schließen ließ. Lisa hatte dementsprechend auf eine lange Hose verzichtet, obwohl sie sich damit sicherer gefühlt hätte. Mit der grauen Fitnesshose, die nur bis knapp über das Knie reichte und dem dazugehörenden Top, kam sie sich ungewöhnlich nackt und schutzlos vor, doch sie vermutete, dass sie mit einer langen Hose nur unnötige Qualen erleiden würde. Unnötig vor allem auch deshalb, weil sie ihre übertriebene Vorsicht einem hausgemachten Hirngespinst verdankte. Sie wusste, dass sie in dieser Angelegenheit ein wenig zu ängstlich war, doch man konnte in dieser Situation nicht vorsichtig genug sein. Wegen der nächtlichen Ereignisse, die bewiesen hatten, dass sämtliche physikalischen Gesetze aufgehoben worden waren, schloss sie, dass es auch um die anderen Gesetze nicht besser stehen konnte.

Sie bog in die Argentinierstraße ein, jedoch nicht wie am Tag zuvor bergauf in Richtung Südbahnhof, sondern bergab dem Zentrum entgegen. Sie kam am Rundfunkgebäude vorbei, einigen Botschaften und schließlich mündete der Radweg, dessen Verlauf sie gefolgt war, in den Karlsplatz. Auf ihrem Weg dorthin, hatte sie jede einzelne Seitengasse, an der sie vorbeigekommen war, kontrolliert, um nach eventuellen Lebenszeichen Ausschau zu halten.

Lisa passierte die Karlskirche im Schritttempo und sah sich um. Der künstlich angelegte Teich breitete sich ruhig und friedlich vor ihr aus. Keine Ente oder anderes Getier, das sich normalerweise im Wasser tummelte, war weit und breit zu sehen. Während sie den Teich umrundete, sah sie hinter jedes Gebüsch und in jeden Winkel des Parks, der untertags von Touristen, abends jedoch von Drogensüchtigen und Obdachlosen bevölkert wurde.

Nichts!

Sie stoppte vor der Einfahrt in die unterirdische Passage, die sich mehrere hundert Meter unter der Erde bis zur Oper erstreckte. Der schlauchförmige Gang hüllte sich schon recht bald in undurchdringliche Finsternis. Lisa schätzte, dass sie etwa dreißig Meter weit sehen konnte. Sie hatte zwar eine Taschenlampe dabei, aber sie dachte nicht einmal im Traum daran, die Passage zu inspizieren. Bei einer Stadt mit über vierhundert Quadratkilometern Fläche reichte es ihrer Meinung nach vollkommen aus, wenn sie ihre Suche auf die überirdischen Bereiche beschränkte. Sie musste nicht in jedes Mäuseloch kriechen.

Ein Mäuseloch, genauso kam ihr die Öffnung in die unterirdische Welt vor. Sie erschauerte bei dem Gedanken, was dort drinnen alles auf sie lauern konnte! Daher wendete Lisa, fuhr seitlich um den Eingang herum und überquerte den Platz im Schein der Morgensonne. Irgendwie genoss sie es sogar ein wenig durch die Straßen zu fahren, ohne auf den Verkehr achtgeben zu müssen. Sie konnte dadurch die Gebäude, deren Fassaden und auch alle Details, die das Stadtbild prägten wie Sträucher, Blumenbeete, Hydranten, Mülleimer, Sitzbänke, Laternenpfähle und viele andere Dinge, besser betrachten. Man bekam einen anderen Blick für die Kleinigkeiten, an denen man im Alltag normalerweise vorbeiraste, denn alles, was ihr Ablenkung verschaffen hätte können, war dieses Mal nicht vorhanden.

An der Ringstraße angekommen verharrte sie einen kurzen Moment und überlegte, ob sie deren Verlauf folgen, oder ob sie direkt über die Fußgängerzone in Richtung Stephansdom fahren sollte. Sie entschied sich für die zweite Alternative und lenkte das Fahrrad an der Staatsoper vorbei. Lisa hatte es nicht eilig und nahm sich die Zeit, um auch die Auslagen zu inspizieren, während sie die breite Straße entlang rollte. Beinahe hätte sie vergessen, warum sie eigentlich hierhergekommen war. Erst als sie, versunken in die Betrachtung mehrere Sommerkleider, eine Bewegung in ihrem Augenwinkel ausmachte, schrak sie aus ihrer leichtfertigen Unbekümmertheit hoch.

 

Was Sie bremste und ihr Kopf ruckte zur Seite. ... war das?

Sie konnte nichts sehen. So sehr sie ihre Augen auch anstrengte.

Da war doch etwas!

Ihr Herz pochte vor Aufregung. In ihrem Kopf schrillten die Alarmglocken.

Ich bin mir ganz sicher! Ein dunkler Schatten!

Sie reproduzierte in ihrem Gehirn das Bild von dem Umriss, den sie wenige Sekunden zuvor wahrgenommen hatte.

Da ist jemand die Straße entlanggekommen und plötzlich in irgendeinem Eingang oder Torbogen verschwunden! Oder in der Seitengasse dort vorne, das wäre auch möglich!

Lisa trat mit weichen Knien in die Pedale und lenkte das Fahrrad ganz langsam auf die Kreuzung zu, wo der Schatten untergetaucht war. Sie war nun hellwach und jederzeit bereit kräftiger in die Pedale zu treten, um beim kleinsten Anzeichen von Gefahr fliehen zu können. Als sie die Seitengasse erreicht hatte, blickte sie diese entlang, doch außer den geparkten Autos am Ende der Fußgängerzone, die ein Stück in jede Gasse hineinreichte, war nichts Außergewöhnliches zu erkennen.

Keiner da! Sie befand sich nun in der Mitte der Kreuzung und wähnte sich in sicherer Entfernung zu jeder möglichen Deckung, daher stoppte sie das Fahrrad und stieg mit einem Fuß auf das Pflaster. Sie drehte ihren Kopf in alle Richtungen und scannte die Umgebung systematisch ab. Aber da waren nur unzählige Schaufensterpuppen, die zu ihr zurückstarrten. Das war alles. Doch plötzlich, wie aus heiterem Himmel ...

...da! Als sie nicht hingesehen hatte, nahm sie im Verlauf der Seitengasse wieder eine Bewegung am Rande des Gesichtsfeldes wahr. Doch dieses Mal war sie absolut sicher, dass sich dort etwas bewegt hatte. Es war etwa dreißig Meter von ihrem Standpunkt entfernt gewesen.

Ein Kopf, ... da war ein Kopf, der irgendwo hervorgeguckt hat! Herrgott, ich hab da einen Kopf gesehen, … es war da vorne, bei ... bei dem Bekleidungsgeschäft, dachte sie hysterisch. In ihren Ohren rauschte es, wie bei dichtem Regenfall. Was mach ich jetzt? Keine Panik, Lisa, ermahnte sie sich selbst. Ich muss einen klaren Kopf bewahren... leichter gesagt, als getan! Sie versuchte als erstes ihren Atem, der stoßweise ging, zu beruhigen. Wenn es wirklich ein Mensch ist, der sich hier herumtreibt, dann stellt sich die Frage: Warum versteckt er sich?

Das war die Kernfrage, die es zu lösen galt. Diese Frage bereitete ihr Unbehagen. Wenn sich jemand versteckt, dann kenne ich nur zwei plausible Erklärungen für solches Verhalten. Entweder derjenige hat Angst vor mir; aber mal ganz ehrlich, weshalb sollte sich irgendwer vor mir fürchten? Oder er will nicht entdeckt werden, ... aber aus welchem Grund? Was kann jemanden dazu Veranlassen ... Ich weiß nicht, ob ich es wirklich so genau wissen will.

„Hallo?“, rief sie mit belegter Stimme, „Ist da jemand?“... „Hallo!“ Keine Antwort. „Wenn da irgendwer ist, dann melden Sie sich doch.“ Keine Bewegung beim Eingang des Geschäftes.

Was mach’ ich jetzt? Hinfahren und nachschauen? Riskiere ich es, oder fahre ich weiter? Wenn ich nicht nachsehe, werde ich vielleicht niemals erfahren, ob ich mich zu Unrecht gefürchtet habe.

„Ist da wer? Hallo, melden Sie sich!“, traute sie sich nun etwas lauter, zornig über das Unbehagen, das der vermeintliche Schatten bei ihr ausgelöst hatte. Ich glaube, ich sollte nachsehen!

Sie schätzte die Breite der Gasse. Davon hing ab, ob sie es wagen würde. Sie wollte dieses Risiko nur eingehen, wenn sie unbeschadet an der Stelle, wo sich der Spalt zwischen den Auslagen befand, vorbeikäme, auch wenn plötzlich jemand hervorspränge, um sie abzufangen.

Es müsste sich ausgehen! Lisa zögerte noch einmal kurz, fuhr einen Kreis mitten auf der Kreuzung, um Schwung zu holen... und looos!

Sie raste in die Seitengasse, immer weiter beschleunigend. Sie achtete darauf, dass der Sicherheitsabstand zu dem Geschäft nicht zu gering wurde. Keinen Augenblick ließ sie die Stelle aus den Augen, in der Erwartung, dass jeden Moment eine Gestalt hervorspringen konnte. Sie passierte den Eingang unbeschadet und ohne etwas zu entdecken. Lisa raste wie eine Irre mit angespanntem Gesichtsausdruck und offenstehendem Mund an dem Geschäft vorbei und sah ihr eigenes, verzerrtes Spiegelbild in der Schaufensterscheibe. Das war alles.

Am Ende der Fußgängerzone hätte sie beinahe ein dort abgestelltes Fahrzeug gerammt, doch sie konnte noch rechtzeitig ausweichen. Sie drehte um, und nachdem sich ihre Anspannung gelöst hatte, musste sie unwillkürlich kichern, als sie an ihren dummen Gesichtsausdruck dachte, der ihr aus der Scheibe entgegengeblickt hatte. Sie passierte die Stelle auf dem Rückweg abermals und ihr Lachen erstarb, als sie bemerkte, dass die Lücke zwischen den Schaukästen nicht den Geschäftseingang bildete, sondern dahinter ein frei zugänglicher Auslagenraum lag, in dem sich ohne weiteres jemand unentdeckt aufhalten konnte. Jemand der nur darauf wartete, dass sie näher käme.

Mach dich nicht lächerlich! Warum sollte sich irgendwer die Mühe machen und da rein schlüpfen, um vor dir zu flüchten? Du bist alles andere als eine Walküre!

Als sie wieder die Kärntnerstraße erreicht hatte und nach rechts abbog, blickte sie nochmals zurück und schüttelte den Kopf. Jetzt, da sie sich getraut hatte an dem Geschäft vorbeizuradeln und nichts geschehen war, machte die Stelle einen harmlosen Eindruck auf sie, obwohl es eine Weile dauerte, bis das mulmige Gefühl in der Magengrube abgeflaut war.

Wahrscheinlich habe ich mir das Ganze nur eingebildet, meine Phantasie hat mir da einen üblen Streich gespielt trotzdem sollte ich in Zukunft etwas mehr auf meine Umgebung achten, damit mir so etwas nicht wieder passiert.

Lisa setzte ihren Weg zum Stephansdom fort. Als sie außer Sicht war, trat eine Gestalt aus dem Bereich der Auslagen hervor.

2.

„Karin, wach auf!“, rief Naomi aufgeregt, „Es ist etwas Eigenartiges geschehen.“

Naomi war eine Französin, marokkanischer Abstammung, mit langem, krausem Haar, um das sie von jedem anderen Mädchen ihres Alters wegen seiner Dichte beneidet wurde. „Karin!“ Naomi rüttelte ihre Freundin unsanft.

„Lass mich schlafen“, murrte diese, „ich bin tot.“ Karin drehte sich zur Wand und versteckte ihren dunkelrot gefärbten Pagenkopf unter dem Polster.

„Wir haben keinen Strom, aber das ist noch nicht alles. Das musst du dir selber ansehen, sonst glaubst du es nicht.“ Naomi ließ nicht locker. Sie schnappte das Kopfpolster und warf es beiseite.

Karin setzte sich blinzelnd auf und rieb ihre verschwollenen Augen. „Naomi, du bist eine Nervensäge“, stellte sie knurrend fest, „Wenn das nicht wichtig ist, dreh’ ich dir höchstpersönlich den Hals um.“

Die Nervensäge verschränkte die Arme vor der Brust. „Du wirst staunen.“

„Wie spät ist es eigentlich?“, erkundigte sich Karin erbost, denn sie war gerade in Brad Pitts Armen gelegen und von ihm zärtlich auf den Mund geküsst worden, bevor Naomi es gewagt hatte sie zu wecken. Sie wünschte sich wieder in ihren Traum zurück.

„Es ist schon halb zwölf“, antwortete Naomi und zog Karin am Arm hoch, „Komm schon ich muss dir etwas zeigen.“

Karin war nun hellwach. „Halb zwölf? Das kann nicht sein.“ Erstaunt darüber, dass sie so lange durchgeschlafen hatte, ohne einmal munter geworden zu sein, folgte sie Naomi widerstandslos ins Wohnzimmer. „Was willst du mir zeigen? Und was sollte das bedeuten, wir hätten keinen Strom?“, wollte sie von ihrer kaffeebraunen Freundin wissen, die nun beim offenen Fenster stand. Jetzt erst bemerkte Karin, dass Naomi unten rum nur ihren Baumwollslip trug und trotzdem ungeniert an dem offenen Fenster verweilte.

You have finished the free preview. Would you like to read more?