Allein

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„Hast du dir weh getan?“, wollte sie wissen. Sie dachte, sie hätte zu fest zugepackt. Julia schüttelte den Kopf. „Komm, zeig mal her“, blieb die Lebensretterin hartnäckig.

Julia wich einen Schritt von der Frau zurück und schüttelte erneut den Kopf. „Nein, mir ist nichts passiert“, trotzte sie.

„Aber dein Ellenbogen,... was ist damit?“, versuchte es die Frau nochmals, die nicht wissen konnte, was das Mädchen tatsächlich beschäftigte.

Panik machte sich in Julia breit. Wenn die Frau den Stein entdecken sollte, dann würde sie sicher wissen wollen, woher sie ihn hatte. Man würde ihn ihr wegnehmen … ihren einzigen Besitz!

Die Frau fixierte Julia und bemerkte, dass irgendetwas mit diesem kleinen Mädchen nicht stimmte. „Wo sind denn deine Eltern?“, fragte sie.

Julia machte wortlos auf dem Absatz kehrt und begann in Richtung Rolltreppe zu laufen. Die Frau rief ihr nach: „Wenigstens bedanken hättest du dich können, wer weiß was geschehen wäre, wenn ich ...“

Den Rest hörte Julia nicht mehr. Sie wollte nur weg von hier, so schnell und weit sie ihre kleinen Füße trugen. Egal wohin, ... nur nicht ins Heim zurück.

3.

Etwa zum gleichen Zeitpunkt, als der Kristall in Julias Ärmel zu rutschen begann und sie dadurch in diese lebensgefährliche Situation manövriert hatte, bimmelte das Glöckchen über der Geschäftstüre von Arturs Laden zum wiederholten Male an diesem Tag.

Er blickte zum Eingang und beobachtete, wie ein junger, breitschultriger Mann hereinkam. Dieser sah eigentlich sehr gepflegt und wirklich gut aus, wenn man die dicke Narbe an seiner linken Wange ignorierte, doch irgendetwas an seinem Verhalten kam ihm merkwürdig vor. Seine Bewegungen wirkten äußerst kontrolliert und Artur bemerkte sofort, dass er sich verstellte.

Ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

Er hatte keine Ahnung, warum ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging. Während der Kunde auf ihn zukam, schweifte dessen Blick durchs Geschäftslokal, als wäre er auf der Suche nach etwas Bestimmten. Diese suchende Geste, die nicht länger dauerte als ein, zwei Sekunden, erinnerte Artur an eine Szene, die in amerikanischen Kriminalfilmen häufig vorkam, wenn ein Polizist einen Ort betrat, an dem ein Verdächtiger oder ein Zeuge befragt wurde. Derselbe Blick, die gleiche Körperhaltung, sogar der billige Konfektions-Anzug passte ins Bild. Nur der obligate Griff zur Polizeimarke fehlte noch.

„Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?“, begrüßte Artur den merkwürdigen Kunden, der sich absolut nicht in die Reihen seiner sonstigen Kundschaft eingliedern ließ.

„Tag!“, erwiderte der Angesprochene einsilbig und musterte Artur von Kopf bis Gürtel. Mehr war von ihm nicht zu sehen. Der Rest verbarg sich hinter dem Verkaufstisch. Artur fühlte sich plötzlich unbehaglich. Seine Nase fing an zu jucken. Das tat sie immer, wenn er sich in seiner Haut nicht wohl fühlte, doch er unterdrückte das dringende Bedürfnis sich zu kratzen.

„Ich interessiere mich für einen ihrer Bergkristalle.“ Sein Blick war starr auf Arturs Augen gerichtet, während er sprach.

„Aber gerne, der Herr“, entgegnete Artur. „Wie hätten Sie ihn denn gern? Als Handstein, Pyramide oder vielleicht als Kette oder Anhänger, ich habe auch noch ...“

„Einen dieser Exemplare aus der Auslage“, unterbrach ihn der Fremde unfreundlich.

Ein Bulle, ich hab’s gewusst!

Das mit den Bergkristall-Rohspitzen war eine heikle Geschichte. Sollte es sich bei seinem Gegenüber wirklich um einen Polizisten handeln - und alle Indizien sprachen dafür -, dann war Artur geliefert.

Vor zwei Tagen, am Donnerstagnachmittag, war ein Geologie Student, Namens Georg Bäumler - den er allerdings nur flüchtig kannte -, zu ihm ins Geschäft gekommen und hatte ihm zwölf Bergkristall-Rohspitzen auf die Theke gelegt. Artur hatte sie untersucht und Georg gefragt, woher diese Kristalle stammten. Dieser erzählte eine abenteuerliche Geschichte von seiner letzten Expedition ins Salzkammergut, deren Wahrheitsgehalt Artur zwar bezweifelte, doch die Geschichte hatte wenigstens einen gewissen Unterhaltungswert gehabt. Immerhin handelte es sich um sehr schöne Exemplare von unglaublicher Reinheit, wie sie selten vorkam. Doch noch seltsamer erschien ihm die Tatsache, dass alle zwölf beinahe gleich groß waren. Er hatte sie abgemessen. Sie maßen zwischen neunzehn und einundzwanzig Zentimeter und hatten einen Durchmesser von etwa vier Zentimeter. Er konnte sich kaum vorstellen, dass ein einzelner so viel Glück haben konnte, einen einzigartigen Fund, wie diesen zu machen. Dennoch hatte Artur nach einigem Zögern dem Drängen des Jungen nachgegeben und ihm die Mineralsteine bis auf einen abgekauft. Den wollte der junge Mann selbst behalten.

An und für sich war gegen den Handel zwischen den beiden nichts einzuwenden, doch Artur hatte beschlossen die Rohspitzen unter der Hand weiterzuverkaufen. Schnelles Geld - keine Steuern. Die wunderschönen Bergkristalle hatten wie erwartet rasch Abnehmer gefunden. Am Freitag hatte er vier Stück verkauft, zwei davon an weibliche Kundschaft, zwei an Männer. Eine Kundin, eine Rentnerin Namens Hermine Stöger, war heute in der Früh wiedergekommen und hatte ihm erzählt, dass ihr die Handtasche gestohlen worden war, unmittelbar nachdem sie das Geschäft verlassen hatte. Sie käme soeben von der Polizeidienststelle, wo sie Anzeige erstattet hatte. Die Handtasche wurde in der Nähe in einem Müllcontainer gefunden und sie hatte die Tasche samt Inhalt zurückbekommen, jedoch ohne Bargeld. Das war verschwunden. Auch der Kristall war nicht mehr aufgetaucht. Artur drückte sein Bedauern über diesen Vorfall aus und gab ihr 20 % Rabatt auf den zweiten Kristall, den sie kaufte, denn sie wollte unbedingt einen haben, und es war ihm ein Bedürfnis gewesen, ihr nach dem ganzen Ärger eine kleine Freude zu bereiten.

Das war allerdings nicht der einzige, den er heute schon abgesetzt hatte. Zwei Teenager waren am Vormittag ins Geschäft gekommen und hatten ebenfalls einen mitgenommen. Er hatte sich noch gewundert, dass so junge Leute Geld für so etwas ausgaben. Schnelles Geld - keine Steuern, hatte er gedacht. Daher rührte auch das schlechte Gewissen, das er jetzt verspürte.

„Hallo, haben Sie mich nicht verstanden?“ Die knarrende Stimme des Polizisten schnitt seine Gedanken entzwei. „Ich sagte, dass ich eine der Spitzen aus der Auslage möchte!“

Artur verspürte plötzlich den Drang, das Geschäft zu verlassen und davonzulaufen. Die Richtung war ihm egal. Hauptsache raus aus dem Geschäft und weg von dem unheimlichen Kerl.

„Entschuldigen Sie, ... selbstverständlich, ... einen Moment bitte“, stammelte Artur, umrundete den Ladentisch und steuerte auf die Auslage zu, „Ich hole sie, dann können Sie einen auswählen.“

Ich mach’ einfach die Tür auf und renne los. Nach links oder rechts, wo wäre es wohl gescheiter? ... So ein Unsinn! Denk nach! Woher sollte die Polizei wissen, dass ich die Steine unversteuert verkaufe und mir so ein bisschen was nebenbei verdiene? Nur weil der alten Stöger die Tasche geklaut wurde, und der Kristall nicht mehr aufgetaucht war, heißt das noch lange nicht, dass sie einen Verdacht in dieser Richtung haben. Es weiß ja niemand davon. Nicht einmal Georg hat die geringste Ahnung, dass ich die Spitzen steuerfrei verscherble!

„Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, Opa“, ertönte es hinter seinem Rücken.

Artur war schweißgebadet. Seine Nase juckte wie verrückt. „Ich mach’ ja schon, immer langsam mit den jungen Pferden“, erwiderte er, griff nach dem mit violettem Samt überzogenen Kissen, auf der die Bergkristalle lagen. Er trug seine kostbare Fracht vorsichtig mit beiden Händen und kehrte zu seinem Platz hinter dem Ladentisch zurück. Es lagen noch vier Rohspitzen darauf.

Vier? Artur zählte sie nochmals, obwohl man auf einen Blick sehen konnte, dass es vier Stück waren.

Ich dachte, es wären noch fünf da, dachte er verwirrt.

„Hier bitte, der Herr“, sagte er und deponierte die Unterlage mit den vier Bergkristallen auf der Theke. Der unfreundliche Kunde griff nach dem ersten Stein und begutachtete ihn.

Ich hatte elf Stück, rechnete Artur, während er den Mann beobachtete. Gestern habe ich vier verkauft und heute waren es zwei. Das macht elf weniger sechs ... fünf! Es sollten noch fünf da sein, oder habe ich jemanden vergessen mitzuzählen?

Der seltsame Kunde legte die erste Spitze wieder hin und nahm die nächste in die Hand. Er drehte sich zu dem Schaufenster, hielt den Kristall in Augenhöhe und blickte hindurch.

Wahrscheinlich hat mich der Typ derartig durcheinandergebracht, dass ich mich glatt nicht mehr erinnern kann, an wen ich den fehlenden Stein verkauft habe.

Der Typ legte Stein Nummer zwei auf das Tablett zurück und begann Nummer drei zu inspizieren. Er wog ihn zuerst in seiner Hand und führte ihn danach in Augenhöhe, um die Klarheit zu prüfen, wie bei den beiden Vorgängern. Artur kam es so vor, als würde die Narbe an der Wange seines Gegenüber zu glühen beginnen.

Der Kerl hat eine Ausstrahlung wie ein Massenmörder. Was macht so einer mit einem Bergkristall. Was hat der Typ überhaupt mit Mineralien zu schaffen. Ich hoffe er verlässt bald mein Geschäft, sonst muss ich mich übergeben.

Der Mann war so sehr in die Begutachtung der Bergkristallspitzen vertieft, dass er nicht merkte, wie er von Artur unter die Lupe genommen wurde. Er griff nach dem letzten Stein und unterzog diesen der gleichen Prüfung.

Groß, kräftig, braungebrannt, ein richtiger Macho, der die Frauen mit seinen Muskeln beeindrucken möchte. Ein richtiger Fiesling. Grob, unfreundlich, äußerst unsympathisches Auftreten und eine Aura, die einem das Fürchten lehrt. Was veranlasst so einen Menschen einen Bergkristall zu kaufen?

 

„Den hier nehme ich“, riss der Fiesling Artur abermals unsanft aus den Gedanken. „Was habe ich zu bezahlen?“ Der Kunde zeigte auf den allerersten Stein, den er betrachtet hatte.

So ist es meistens! Artur hatte die Erfahrung gemacht, dass die Menschen instinktiv diejenigen Dinge zuerst in die Hand nahmen, für die sie sich schlussendlich entschieden. Artur nannte ihm den Preis, und der Mann zog, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Bündel mit Geldscheinen aus der Hosentasche, öffnete die Spange, die die Scheine zusammenhielt und knallte den abgezählten Betrag auf die Theke.

„Ihre Preise sind ganz schön gepfeffert“, bemerkte der Kunde.

Trotz des rhetorischen Protestes, was den Preis betraf, blieb die Stimme des unsympathischen Einkäufers ungewöhnlich sachlich, wodurch Artur zu der Überzeugung gelangte, dass durch den Erwerb des Kristalls der Druck, unter dem der Kunde gestanden hatte, offenbar nachgelassen hatte.

Ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch! Artur erinnerte sich wieder daran, was er gedacht hatte, als der Mann sein Geschäft betreten hatte.

„Auf Wiedersehen!“, verabschiedete sich dieser unerwartet höflich. „Und einen schönen Tag wünsch ich noch.“

„Gleichfalls“, erwiderte Artur verdutzt, „Auf Wiedersehen!“

Der Fiesling hatte tatsächlich gelächelt.

Er hat gegrinst. Das war kein Lächeln!

Das Glöckchen bimmelte. Der Mann zog von außen die Tür zu. Und Artur fiel ein Stein vom Herzen. Er war fort. Artur nahm das Geld von der Theke und verstaute es in der Kassa. Dann nahm er die Unterlage, auf der die verbliebenen drei Kristalle nebeneinander lagen wie neugeborene Drillinge und trug sie zum Schaufenster zurück. Er deponierte sie an der vorgesehenen Stelle und öffnete die Tür, um frische Luft herein zu lassen. Danach trat er hinaus auf den Gehweg, blieb vor der Eingangstüre stehen, schloss die Augen und spürte die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Zufrieden sog er die warme Sommerluft durch die Nase ein. Er versuchte die Erinnerung an den unangenehmen Käufer zu verdrängen. Auch an den verschollenen Stein verschwendete er keinen Gedanken mehr, wenngleich er noch am selben Tag einen weiteren verkaufte.

4.

Zu Mittag machte Artur seinen Laden dicht und startete ins Wochenende. Am Montagmorgen ließ er eine Stunde später als üblich, die rubinroten Rollläden zum allerletzten Mal in die Höhe gleiten. Der Tag gestaltete sich ziemlich ruhig, immerhin war Ferienzeit und der Montag immer einer der schwächsten Verkaufstage, dennoch setzte er noch einen der Bergkristall-Rohspitzen ab, sodass ihm nur noch eine letzte übrig blieb.

Nach der Ladenschlusszeit blieb er noch lange in seinem kleinen Büro, einer Kammer, die kaum größer als die Toilette nebenan war, sitzen und schlief erschöpft über der Monatsabrechnung ein, ohne zu bemerken, dass sich die Welt um ihn herum zu verändern begann. Eine Verwandlung, die wahrscheinlich auch seinem Leben eine neue Richtung gegeben hätte, wenn er am nächsten Morgen vor das Geschäft getreten wäre und den neu angebrochenen Tag erlebt hätte. Doch er bekam unerwarteten Besuch.

3 Die erste Nacht

1.

Lisa hatte den ganzen Nachmittag damit zugebracht, eine Erklärung für den Schlamassel zu finden, in dem sie sich befand. Doch je länger sie darüber grübelte, was mit ihr geschehen war, desto fantastischer wurden ihre Überlegungen. Keine kam ihr realistisch oder logisch genug vor, um sie akzeptieren zu können.

Sie war knapp davor überzuschnappen. Einmal begann sie wie irre zu kichern, dann verfiel sie in Weinkrämpfe. Als sie sich wieder beruhigt hatte, nahm sie einen Block und einen Bleistift zur Hand und begann eine Liste zu schreiben.

Sie hatte beschlossen mit ihrem Fahrrad - sie besaß weder ein Auto noch einen Führerschein - zu ihren Eltern nach Kärnten zu fahren, um die Lage in ihrer ehemaligen Heimatgemeinde zu peilen. Sollte sie dort auch keine Menschen antreffen, dann konnte sie immer noch überlegen, wie es weitergehen sollte. Ob sie nun hier in der Großstadt diese Katastrophe ausstand oder auf dem Land, erschien ihr nach längeren Überlegungen keinen großen Unterschied auszumachen. So würde sie sich wenigstens Gewissheit verschaffen, wie es um ihre Familie stand. Untätig herumzusitzen und zu warten, bis sich die Situation von allein verbessern würde, das kam für sie auf Dauer jedenfalls nicht in Frage.

Die Fahrt, dessen war sie sich absolut bewusst, würde ziemlich beschwerlich werden, denn sie musste das halbe Land durchqueren. Und noch dazu bei dieser Affenhitze! Sie plante für die Reise drei Tage ein. Das war einigermaßen großzügig geschätzt, doch ihr Tagespensum hing nicht nur von ihrer Kondition allein, sondern auch von diversen anderen Begebenheiten ab, die sie im Vorhinein schwer abschätzen konnte. Immerhin hatte sie noch nie eine Strecke dieser Größenordnung, im Fahrradsattel sitzend, bewältigt.

Gerade in dem Augenblick, als sie die Liste der Dinge fertiggestellt hatte, die sie auf ihre Reise mitnehmen wollte, begann der Krawall, der sich anhörte wie Schüsse, die von einer Waffe abgegeben wurden. Schüsse, ich bin nicht allein, hatte sie gedacht und sich gefreut - jedenfalls für einen kurzen Moment.

Dann war sie unsicher geworden, ob dies als ein gutes oder weniger gutes Omen zu deuten wäre. Immerhin waren Schutz und Sicherheit, die die Großstadt normalerweise boten, im Augenblick nicht vorhanden. Wie es aussah, war Lisa auf sich allein gestellt und konnte unmöglich wissen, ob hinter diesem Lärm nicht auch Menschen mit üblem Ansinnen steckten. Wer garantierte ihr, dass es rechtschaffene Leute waren, die in der Gegend herumballerten? Obwohl sie zugeben musste, dass die Schüsse zu periodisch klangen, um bloß als wilde Schießerei abgetan werden zu können. Sie machten einen einigermaßen koordinierten Eindruck, sodass sie durchaus als Signal aufgefasst werden konnten.

Dieses Lebenszeichen anderer Menschen hatte natürlich ihre Pläne, das Reiseziel betreffend, durchkreuzt. Lisa spekulierte nun mit der Möglichkeit, anstelle der beschwerlichen Landpartie die Stadt mit dem Rad zu erkunden, doch sie wollte nicht sofort und ohne Plan losfahren. Sie wollte erst in Ruhe darüber nachdenken, wie sie es am besten anstellen konnte, ohne Gefahr zu laufen, in eine Falle zu tappen. Besondere Zeiten erforderten eben besondere Vorsichts-Maßnahmen. Kurz vor fünf Uhr waren die Schüsse verklungen. Lisa war noch etwa zehn Minuten an einem der beiden Wohnzimmerfenster gesessen und hatte gelauscht, ob sie wieder beginnen würden.

Sie trennte den Zettel mit den aufgelisteten Reiseutensilien vom Block ab und begann eine neue Liste mit Dingen, die sie für ihre Erkundungsfahrt durch die Stadt brauchen würde, anzufertigen. Die erste Version warf sie nicht in den Papierkorb, sondern heftete diese an die Pinnwand über ihrem Schreibtisch, denn sie konnte ja nicht wissen, ob sie die Auflistung nicht doch noch irgendwann benötigen würde. Aufgeschoben war bekanntlich nicht gleich aufgehoben.

Als Lisa die neue Liste fertiggestellt hatte, las sie diese nochmals durch und fügte hier und dort etwas hinzu. Dann erhob sie sich von ihrem Schreibtisch, um die Dinge zusammenzutragen. Sie ordnete die Sachen auf dem Esstisch an, der innerhalb kürzester Zeit vollständig bedeckt war.

Dort reihten sich folgende Sachen aneinander: Ein Ersatzschlauch für die Fahrradreifen, Flickzeug für dieselben, ein Schraubenzieherset, eine verstellbare Zange, eine Stabtaschenlampe mit zwei Batterien, die sie selbstverständlich auf ihre Funktionstüchtigkeit kontrolliert hatte, eine Straßenkarte von Wien, ein Kompass, Schreibzeug, bestehend aus einem Block im Format A5 und zwei Kugelschreibern, ein dünner Regenponcho, der zusammengeknüllt in einem Kunststoffsack steckte und nicht mehr Platz brauchte als drei Paar Socken, ein dünner Pullover, falls es abends abkühlen sollte und ein Schweizer Taschenmesser. Des weiteren lagen auf dem Tisch noch eine Rolle Spagat, eine Trinkwasserflasche, ein Feuerzeug, Streichhölzer, eine Trillerpfeife, Sonnencreme, ihre Sonnenbrille, ein Schweißband für die Stirn, ein mit Brot, Käse, Obst und Gemüse gefülltes Tupperware, eine Packung Taschentücher, Verbandszeug in einem Necessaire und zuletzt ein langes Fleischmesser, für das sie eine Scheide aus Zeitungspapier und Klebestreifen bastelte. Sie hoffte, dass ihre Waffe nie zum Einsatz kommen würde, doch Vorsicht war bekanntlich schon immer besser als Nachsicht gewesen.

Lisa fühlte sich für kurze Zeit in ihre Kindheit zurückversetzt, in der sie einige Jahre bei den Pfadfindern war. Damals hatte sie auch, mit einer Liste und einer Packordnung ausgestattet, die diversen Utensilien zusammengetragen, auf dem Zettel abgehakt und danach in den Rucksack gestopft. ... Von wegen Packordnung!

Der Rucksack war kaum zugegangen, da sie stets viel zu viel mitnehmen wollte. Dann wurde sie immer vor die Entscheidung gestellt, auf irgendetwas zu verzichten. Den dicken Pullover? Niemals, denn sie gehörte zu der Kategorie, der stets Erfrorenen! Wenn die Pfadfindergruppe bis spät in der Nacht um das Lagerfeuer herumsaß und Lieder trällerte, oder wenn Lisa in der Früh aufstand, und die Wiese noch feucht vom Morgentau war, dann war die Zeit des dicken Pullovers gekommen. Auch von den Naschereien wollte sie sich nicht trennen, denn wenn man fast zwei Wochen in einem Sommerlager verbrachte, dann waren Süßigkeiten überlebensnotwendig. Da ließ sie schon eher das eine oder andere Paar Socken oder ein T-Shirt zuhause.

Im Vergleich zum Pfadfinderrucksack, der damals beinahe so groß gewesen war wie sie selbst, war ihr gewöhnlicher Alltagsrucksack, den sie nun mitzunehmen gedachte, ein Zwerg. Er war aus blau weiß-kariertem Stoff und bestand aus einem Hauptfach und zwei kleinen Außentaschen, in die nicht gerade viel hineinpasste, aber er erfüllte wenigstens den Zweck, dass sie ihn auf dem Rücken tragen konnte, und dass alle Dinge, die sie vorbereitet hatte, hineinpassten.

Sie hatte ihn so gepackt, dass der dünne Pullover eine weiche Polsterung für ihr Rückgrat bildete und der Griff des Fleischmessers knapp hinter ihrem rechten Ohr herausragte, sodass sie im Verteidigungsfall leichten Zugriff auf die Waffe hatte, ohne erst umständlich den Rucksack vom Rücken nehmen und aufbinden zu müssen.

Komm her, Kleine, ich dreh’ dir deinen hübschen kleinen Hals um und reiß dir den Schädel ab! ... Moment, Herr Gewaltverbrecher, ich hole nur mal schnell mein Messer aus dem Rucksack! … Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir so ein Spinner die nötige Zeit nicht gibt, um Maßnahmen zur Selbstverteidigung zu treffen.

Lisa betrachtete zufrieden den Rucksack und stellte ihn auf den Vorzimmerboden neben die Wohnungstür. Die Sonnenbrille, das Stirnband, die Trillerpfeife und die Taschenlampe, sowie das Schweizer Armeemesser reihte sie neben den Schlüsselbund auf das Vorzimmerschränkchen. Diese Sachen wollte sie in die Hosentasche stecken oder an sich tragen. Die Taschenlampe brauchte sie am nächsten Tag in der Früh als erstes, wenn sie den finsteren Gang durchqueren und das Stiegenhaus hinabsteigen würde. Die Trinkwasserflasche trug Lisa in die Küche und stellte sie neben das Abwaschbecken. Sie würde diese erst kurz vor dem Aufbruch mit frischem Leitungswasser befüllen. Sie konnte den Geschmack nach Kunststoff, den das Wasser nach einiger Zeit annahm, nicht ausstehen. Lisa schlurfte zum Küchenfenster und blickte in den Hof hinaus. Die Westseite des Hauses schräg gegenüber auf der anderen Seite der Kastanienbäume schimmerte rötlich golden und die Fensterscheiben reflektierten die schwächer werdenden Strahlen der untergehenden Sonne.

Dieser Tag ist unglaublich schnell vergangen, resümierte sie, nun ja immerhin habe ich den ganzen Vormittag verschlafen, ... und dann meine Ohnmacht. ... Ich weiß gar nicht, wie lang sie eigentlich gedauert hat. Wenn ich bedenke, wie kopflos ich zu Beginn agiert habe, nachdem ich realisiert hatte, was geschehen war. Und wie dumm meine erste Reaktion war. Ich bin froh, dass niemand Zeuge meiner Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit geworden ist. Ich habe immer geglaubt, dass ich anders in Extremsituationen reagieren würde, ... besser, überlegter und kühler, aber wer hätte gedacht, dass ich je in eine solche Situation geraten könnte? Eigentlich kommt mir das alles noch immer ziemlich absurd und unwirklich vor. Ich denke, dass ich noch ein bisschen Zeit brauchen werde, bis ich das volle Ausmaß der Situation, in der ich mich momentan befinde, begreifen werde

 

Lisa schloss das Küchenfenster, um es gleich darauf zu kippen. Es widerstrebte ihr ein Fenster über Nacht ganz geöffnet zu halten, denn der Wind konnte es auf und zu schlagen, dann wäre sie gezwungen, mitten in der Nacht aufzustehen, um es zu schließen. Sie erwartete ein ähnlich schwüles Wetter, wie in der Nacht zuvor. Vor allem aber eine stille und besonders dunkle Nacht. Lisa verließ die Küche in Richtung Abstellkammer, um nach Kerzen zu suchen. Sie fand in einem Schuhkarton vier Stück längliche, blaue Kerzen und eine dicke bunte, die sie von ihren Eltern zu Weihnachten bekommen hatte. Die dünnen Stangen deponierte sie auf dem Wohnzimmertisch und trug die große Kerze ins Schlafzimmer. Sie schob einen Teller unter die Kerze, legte eine Streichholzschachtel darauf und stellte das Arrangement vor den überflüssigen Radiowecker ab. Dann begab sie sich wieder ins Wohnzimmer, wo sie zwei der blauen Kerzen in je einen gläsernen Doppel-Kerzenständer steckte.

Wie zu Omas Zeiten, dachte sie und lächelte, als sie das Gesicht ihrer Großmutter vor Augen hatte. Lisa kramte aus einer der Laden in der Wohnzimmerkommode ein Päckchen Spielkarten heraus, mischte sie durch und arrangierte die Karten für eine Partie Solitär. Während es draußen und auch im Inneren der Wohnung von Minute zu Minute dunkler wurde, spielte Lisa eine Partie nach der anderen, ohne zu bemerken, wie die Zeit verflog. Als die Lichtverhältnisse für ihre Augen zu anstrengend wurden, zündete sie die Kerzen an, gönnte sich ein Glas Haltbarmilch und spielte weiter. Irgendwann merkte sie, wie ihr die Augenlider zufielen und sie plötzlich in einen Sekundenschlaf fiel. Sie riss ihren Kopf, der nach unten gesackt war, wieder in die Höhe und rieb gähnend ihre müden Augen. Sie blies die Kerzen des einen Kerzenständers aus und nahm den anderen mit ins Badezimmer. Dort putzte sie im Eiltempo ihre Zähne, um möglichst schnell ins Bett zu gelangen. Nur fünf Minuten später versank ihr Kopf im daunenweichen Kopfpolster. Noch bevor sie richtig entspannen konnte, war Lisa schon eingeschlafen.

2.

Die Hitze des Tages hatte ihn ausgetrocknet. Ohne es recht zu merken, hatte er seinen Körper an die Grenze der Belastbarkeit geführt. Zwölf ereignisreiche und auch anstrengende Stunden waren vergangen, bevor der erste Schluck Wasser seine Kehle hinunterrann. Sein Innerstes fühlte sich an, wie mit Löschpapier ausgekleidet, das die Flüssigkeit gierig aufsaugte.

Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, stillte er seinen Hunger mit den Resten aus dem Kühlschrank. Eigentlich hatte er vorgehabt, für das Wochenende einige Lebensmittel einzukaufen, doch der Tagesablauf hatte auf Grund der aktuellen Ereignisse einen anderen Verlauf genommen. Bestürzt musste er feststellen, dass er für den Fall einer Katastrophe, bei der man sein Zuhause nicht verlassen konnte, keinerlei Vorkehrungen getroffen hatte. Ohne Trinkwasser hätte er wahrscheinlich keine vier Tage überleben können. Wenn er nicht verdurstet wäre, hätte ihn wahrscheinlich der Hungertod dahingerafft.

Robert fühlte sich nach beendetem Mahl zwar gestärkt, jedoch hundemüde. Er beschloss für zehn Minuten auszurasten, um seinem Magen Zeit zu geben, die zugeführte Nahrung zu verdauen. Er bettete sein Haupt auf einem der Zierpölster der Wohnzimmercouch, legte die Füße hoch, schloss seine Augen und begann zu summen … nur zehn Minuten. ... It´s been a hard day´s night and I´ve been working like a dog. ... It´s been a hard day´s night, I should be sleeping like a ... und glitt in die Traumwelt hinüber.

Er träumte wieder von dem See, doch diesmal lag er von Beginn an allein in einem Boot ohne Ruder. Er öffnete die Augen und blickte in den klaren Himmel. Das Boot schaukelte ganz leicht und Robert setzte sich auf. Am Ufer vor der Holzhütte stand eine Gestalt, die Robert als die seines Großvaters identifizierte. Er war gerade dabei den Angelhaken auszuwerfen. Robert erhob sich vorsichtig und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Der Boden schwankte, wie das bei Booten so üblich war, die auf dem offenen Wasser trieben.

Großvater, rief er, Hallo, Großvater!

Die Gestalt nahm keine Notiz von ihm. Robert stellte sich auf eine der Sitzbänke, legte die Hände trichterförmig an den Mund und probierte es noch einmal.

Großvater! ... Huhuuuh!

Robert schwang seine Arme. Das Boot unter seinen Füßen neigte sich nach links und er versuchte vergeblich die Neigung auszugleichen. Seine Bemühungen kamen zu spät. Er spürte, wie es ihn zur Wasseroberfläche hinunterzog. Er breitete seine Arme aus und schlug damit auf und ab wie ein Vogel.

Los ... flieg! Ich weiß, dass ich es kann. ... Die Wasseroberfläche kam unerbittlich näher. ... Wieso funktioniert es gerade jetzt nicht? ... Er ruderte wie wild mit seinen Flügeln.

Der Aufprall auf der Wasseroberfläche war nicht so unangenehm, wie er erwartet hatte. Zum Glück war das Wasser nicht kalt. Er konnte es eigentlich kaum fühlen. Er spürte fast gar nichts, nur das rechte Knie tat ihm weh. Das Knie habe ich mir wohl an der Bootskante gestoßen. Irgendwie hatte er es geschafft, dass er mit dem Kopf nicht unters Wasser gelangt war, denn sein Gesicht und seine Haare waren trocken geblieben. Er spähte an der Bootswand entlang zu der Hütte am Waldrand, doch sein Großvater war verschwunden. Nach und nach dämmerte ihm, dass er sich in einem Traum befinden könnte. Deshalb ist mein Kopf nicht nass geworden. Er schlug die Augen auf, doch er konnte nichts sehen.

Mein Gott, ich bin blind! Er setzte sich auf. Seine Blase war schwer und voll, und sein Knie schmerzte. Robert war nicht erblindet. Das fand er schnell heraus, indem er zu den Wohnzimmerfenstern hinübersah. Die Umrisse der Wandöffnungen zeichneten sich deutlich vom Rest der dunklen Mauer ab. Die Fenster schienen ein wenig höher zu liegen als sonst. Das lag wohl daran, dass er während des Traumes von der Couch gefallen und zwischen ihr und dem Wohnzimmertisch auf dem Boden gelandet war.

Wie spät es wohl ist? ... Es ist viel dunkler als normal. ... Das liegt sicherlich daran, dass keine künstliche Beleuchtung vorhanden ist.

Er stemmte sich hoch und humpelte zur Toilette, wobei er beide Arme, tastenden Tentakeln gleich, von sich streckte. Robert fand sich trotz der schlechten Sicht verhältnismäßig gut in der finsteren Wohnung zurecht. Wo habe ich eigentlich die Taschenlampe abgestellt?

Während er sich erleichterte, fiel es ihm wieder ein. Er hatte die Taschenlampe gar nicht in die Wohnung mitgenommen, sondern bei der Signalpistole und der Leuchtmunition im Auto gelassen.

Die Kerzen! In der Abstellkammer mussten sich einige Kerzen befinden. Er hatte sie anlässlich eines romantischen Abendessens besorgt, das er für eine Arbeitskollegin bei sich zuhause vorbereitet hatte, doch seine Flamme hatte ihn sitzen gelassen. Sie war nicht erschienen. Sie hatte es nicht einmal für nötig befunden anzurufen. Es kam noch viel schlimmer. Sie hatte sich am darauffolgenden Tag nicht einmal bei ihm entschuldigt. Sie war ihm einfach aus dem Weg gegangen.

Schon wieder ein Traum von diesem See, und Großvater kam auch darin vor. Robert kramte in einem Regal im Abstellraum nach den Kerzen und ertastete mit den Fingern eine längliche Schachtel.

Das müssen sie sein! Er trug sie in die Küche, wo er eine Kerze aus der Verpackung herausnahm und den Docht mit Hilfe von Freds Zippo, das neben der Zigarettenschachtel auf der Arbeitsfläche lag, zum Brennen brachte. Warmes Licht verbreitete sich in der Küche und warf tanzende Schatten an die Wände. Er sah sich nach einem Kerzenständer um und fand einen in einem der Oberschränke. Er spießte die Kerze auf. Dann füllte er ein Glas mit Wasser, trank es in einem Zug aus und begab sich ins Wohnzimmer, wo er die Kerze samt Ständer auf dem Tisch abstellte. Er schlurfte zu einem der Wohnzimmerfenster, öffnete es und spähte in die Nacht hinaus.