Als der Bär am Zelt anklopfte

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QUINCY UND BOBBY AUF STREIFZUG

Klara: Bis auf den letzten Tag ist der Wind in Kansas leider nicht, wie erhofft, unser Freund, sondern wir kämpfen mit starkem Gegenwind, sodass wir – bei kaum 14 km/h – schon ganz dumm im Kopf werden.

Flo hat im Allgemeinen wirklich so seinen Ehrenkodex. Meist lässt er es sich einfach nicht nehmen, mir den Windschatten zu spenden. Bei Kilometer 130 bremst er aber abrupt und murmelt: „Ich brauche eine Banane! Mir ist schwarz vor Augen.“ Dann muss ich übernehmen, ebenfalls schon im Automatikmodus und mit Tunnelblick, und könnte mich schieflachen, als Flo nach dem Aufsteigen ruft: Upps, ich habe vergessen mich anzuschnallen!“ Wir sehen anscheinend so erbärmlich aus, dass uns sogar ein vorbeifahrender Motorradfahrer fragt, ob wir etwas bräuchten. Er trägt einen Eierschalenhelm mit Streifen, Jeans und ein kariertes Hemd und ist uns gleich sympathisch. Ein paar Kilometer später, in der Stadt Eureka, treffen wir wieder auf ihn. Nathan, der Postmann, wie er sich nennt, ist Engländer und schon seit ein paar Jahren auf einem alten, roten Postmotorrad unterwegs, dass er sich in Australien gekauft hatte. Zuerst fuhr er von dort bis nach Hause. Dann ließ er das Motorrad nach New York verschiffen, um die USA zu durchqueren. Wir verstehen uns auf Anhieb gut und wollen uns kaum verabschieden. Später sollte sich herausstellen, dass er in der Motorcycle-Community weltweit schon eine kleine Berühmtheit ist, jedenfalls bekommen wir mehrmals von einem britischen Motorradfahrer auf einer alten roten Schüssel zu hören.


Ein Pläuschchen unter Kollegen der Landstraße: Wo geht’s hier nach Newton?

Zwischenzeitlich sind wir von unserer Colafixierung kurz auf Arizona-Icetea umgestiegen – nur um festzustellen, dass der im Ernstfall nichts bringt. Flo entwickelt im Anbetracht unserer sonst so durchtrainierten Körper den Begriff Colabauch! Na toll! Mein Gegenargument: Wir brauchen eiskalte Getränke, denn das Wasser in unseren Trinkflaschen ist dank 35 bis 40 Grad Lufttemperatur kinderbeckenwarm.

Mittlerweile haben wir auch eine Hautfarbe angenommen, die der Nudisten auf der Donauinsel würdig wäre – wenn auch nicht am gesamten Körper. Besonders ledrig (man könnte es auch rot nennen) sind wir auf der linken Seite, wo uns, aufgrund der schnurgeraden Straße von Ost nach West, stets die Sonne von Süden aus bestrahlt.

In Toronto, einer ausgestorbenen Wildweststadt mit genau 129 Einwohnern, essen wir das denkbar unhygienisch hergerichtete Sandwich aller Zeiten. Der Typ ist nass vor Schweiß, wischt sich mit der Hand über die Stirn und durch die fettigen Haare und schneidet gleichzeitig unseren Käse auf. Zur Ablenkung und angeregt durch die immer westernmäßigere Umgebung beginnt Flo mit der rauen Bruststimme eines Cowboys zu sprechen: „Hygiene? Ich weiß doch nicht mal, wie man das Ding buchstabiert.“ Schnell entstehen die Charaktere Quincy (Flo mit tiefer Stimme und Banane als Revolver-Hilfs-sheriff und Bandit in einem) und Bobby, der etwas unterbelichtete (das bin ich – na großartig!) Handlanger Quincys. Wir filmen mit unserer Kamera mehrere Kurzwestern, die allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nur für uns lustig sind. Das dafür aber umso mehr!

Ein paar Tage später – mit 42 Grad der heißeste Tag bisher – feiern wir den Labor Day mit einem Besuch in Gregs Sportsbar. Greg setzt dabei anscheinend eher auf Fritteuse statt auf Qualität. Mit dem Resultat, dass wir weder Fisch (meine Schrimps) noch Fleisch (Florians Steakfingers) noch Pommes auseinanderkennen.

Die Landschaft Kansas kennen wir dafür schon zur Genüge, sodass wir sogar froh sind über die Sicherheitsnoppen, die motorisierte Verkehrsteilnehmer vor einer nahenden Kreuzung warnen. Nach ein paar Stunden monotonem Dahinstrampeln ist diese Abwechslung ein echtes Highlight. In Newton allerdings haben wir ein echtes Problem.

Flo: „Jetzt beruhig dich!“, schnauze ich Klara an. „Nein du!“, kontert sie. Eine verzwickte Situation in der Kleinstadt Newton. Keiner will sich eingestehen, dass er nicht mehr richtig tickt und die anstehende Entscheidung zwischen hier nächtigen oder doch weiterfahren womöglich unter falschen Gesichtspunkten beurteilt. Diese sinnvolle Diskussion ohne jeglichen Konsens hat weniger rationale Gründe, sie ist vielmehr ein Produkt übereifrigen Radfahrens. Die letzten beiden Wochen fuhren wir ohne Pause durch und machten dabei viele Kilometer, zu viele – Ben, der TransAm-Fahrer aus Boston, der bisher immer gleichauf war, konnte unseren Eifer kaum glauben und fragte uns per E-Mail, ob wir plötzlich einen Motor eingebaut hätten. Die weiten Ebenen Kansas gefielen uns die letzten Tage wirklich sehr gut, auch wenn wir gegen Hitze und Durst anzukämpfen hatten. Vorbei an brennenden Ölförderanlagen, endlosen Weizenfeldern und riesigen Mühlen strampelten wir in meditativer Monotonie dahin. Selbst der stetige Gegenwind samt Mehlstaub machte uns nichts aus – bis er mich von der Straße wehte: Glücklich radelte ich singend dahin – passenderweise: „Aus der Bahn, aus der Bahn, weil ich nicht mehr bremsen kann … “ –, als mich eine starke Windböe erfasste. Out of control wurde ich in den Straßengraben katapultiert, wo ich auf einmal hilflos herumstand. Der anfängliche Spaß über diese lustige Reiseanekdote wich schnell dem Frust über zwei platte Reifen. Das dornige Buschgras war härter als meine sonst so robusten Tourenreifen. Ab diesem Zeitpunkt – wir haben wohl zu viel Sonne erwischt – wurden wir dann zunehmend schlapper und gereizter. Normalerweise umarmen wir uns inmitten der trostlosen Gegend, stecken unsere Köpfe in die Arme des anderen und versuchen uns so kurz in andere Sphären zu beamen. Einmal nickt Klara dabei sogar im Stehen ein!


Übernachten in der Firestation. Flo übt schon mal für den Ernstfall.

Doch diese vertrauten Rituale kann ich nun, an dieser Kreuzung in Newton, wohl nicht vorschlagen. „Aus! Stopp! Schnitt!“, rufe ich zerstreut und schnipse wie verrückt vor Klaras Gesicht herum, um mich und meine ebenbürtig durchgeknallte Reisepartnerin runterzubringen. Und tatsächlich: Es wirkt! Ich schlage vor, die Spannung durch einen Kaffee im gegenüberliegenden Bioladen rauszunehmen, und Klara lässt sich darauf ein. Die Stimmung steigt wieder und einstimmig beschließen wir, in der Stadt zu bleiben. Beide sehen wir ein, dass wir übertrieben haben und eine Pause brauchen. Aber nicht irgendwo, sondern in der firestation, wo alle TransAm-Fahrer schlafen dürfen. Der Feuerwehrhauptmann führt uns durch die Zentrale, zeigt, wie der Pizzaofen funktioniert, und erzählt uns ein paar Anekdoten aus seinem Leben als Feuerwehrmann, bevor er uns den Raum zeigt, in dem jährlich bis zu dreihundert TransAm-Fahrer beherbergt werden. Wieder mal sind wir fasziniert von der Unkompliziertheit der Amerikaner. Die nächtlichen Einsätze – die firefighters rutschen wirklich eine Stange hinunter – bekommen wir nur vage mit. Wir sind einfach zu müde und liegen uns vertraut in den Armen, auch wenn die Sirene angeht. Beide haben wir heute viel für kommende Situationen dieser Art gelernt und können mit solchen Momenten in Zukunft besser umgehen, ohne sie zu persönlich zu nehmen.

Klara: Ich muss es schon zugeben: Manchmal bin ich froh, dass mein Partner mit den schnellen Beinchen ab und an die Notbremse zieht. In Newton, total unterzuckert und wie von Sinnen, hätte ich nämlich wahrscheinlich noch ewig weiterdiskutiert – ohne selbst zu wissen, worum es eigentlich genau geht. Ich brauchte wohl einfach ein Ventil für meine Erschöpfung. Obwohl ich wusste, wie gern ich auf dieser Radreise war und mich aus freiem Willen dazu entschieden hatte, ertappte ich mich jetzt, Flo den Schwarzen Peter zuzuschieben. Schließlich sei er der Profisportler und für mich alles noch hundertmal anstrengender, redete ich mir ein. Nun war ich aber froh, dass ich auf Flos Schnipsen und seine Aufforderung zum Innehalten noch einsteigen konnte. Dieses Kühlen-Kopf-bewahren-Können, das er in diesem Moment zeigte, ist eine Eigenschaft, für die ich ihn unheimlich liebe. Schon eine halbe Stunde nach dem Theater mussten wir beide über unsere eigene Unfähigkeit und die irre Situation lachen. Für die weitere Reise war dies sicherlich ein wichtiger Moment: Ich weiß ab nun sofort, wann es sich eigentlich nur um eine Überforderungssituation meiner- oder seinerseits handelt, und kann alles gelassener sehen. Oft reicht schon eine Banane oder ein Tag Pause und die Welt ist wieder in Ordnung.

Flo: Am nächsten Morgen sind wir schon wieder motiviert: Weckerläuten, aufstehen, einpacken, frühstücken, weiterradeln. The same procedure as every day! In den Ebenen kommen wir gut voran, obwohl der Horizont nie näher zu kommen scheint. In diesem Abschnitt verzichtet unsere Karte sogar auf ein Höhenprofil. Es wäre identisch mit der Straßenführung – ein gerader Strich über Hunderte Kilometer. Uns gefällt diese Monotonie, auch wenn wir zeitweise verrückt im Kopf werden. Gelegentlich bekommen wir wie aus dem Nichts Lachanfälle. Einfach so. Wir nennen dieses Stadium den Schalter umlegen und bloß treten und treten und treten. Zeitweise reißt uns einer dieser riesigen Oversized Trucks aus unserem Tritt, wenn er mit gewaltigen Schaufeln, riesigen Silos oder gar ganzen Häusern an uns vorbeirast. Ja, die Amerikaner sind ein flexibles Volk und wechseln oft ihren Wohnort. Und wenn es sein muss samt Haus.

ENDLICH IN COLORADO

Klara: Colorado, da dachte ich an „Dr. Quinn – Ärztin aus Leidenschaft“ (im Nachhinein vielleicht eine nicht ganz so qualitätsvolle Serie, wie ich damals, als knapp Zehnjährige, angenommen hatte). Ich dachte an gen Westen ziehende Planwagen, an sanft geschwungene Bergrücken und Holzhäuschen. Ein bisschen dachte ich auch an Bären, aber nicht so sehr. Dies sollte sich aber bald ändern!

 

Wir freuten uns während der gesamten bisherigen USA-Durchquerung auf diesen Bundesstaat. Von entgegenkommenden Radfahrern wurde uns ständig davon vorgeschwärmt, dass für uns ab da die absoluten Highlights beginnen sollten. Dies sollte sich zum Glück auch bewahrheiten …

An unserem letzten Tag in Kansas wachen wir gegen vier Uhr morgens durch stürmisches Getöse auf und glauben fast, uns würde das Zelt davonfliegen. „Ein nahender Tornado?“, fragten wir uns aufgeregt, denn die sind hier nicht so unüblich. Die vielen Tornadoschutzkeller in dieser Gegend sind uns schließlich schon länger aufgefallen. Hätten wir da schon gewusst, was unser Zelt in Patagonien noch alles aushalten würde müssen, wären wir etwas beruhigter gewesen (dort wäre dieser Sturm nicht mehr als eine zarte Sommerbrise; dazu aber an anderer Stelle mehr). In diesem Moment aber finden wir das Ganze beängstigend. So beängstigend, dass wir trotz eingefangener Erkältung kaum noch weiterschlafen können. So früh als möglich kriechen wir aus dem Zelt, das wir netterweise in einem Stadtpark (die Stadt ist eine ausgestorbene Siedlung im Nirgendwo) aufstellen durften, und machen uns auf den Weg zum einzigen Zeichen von Leben: zur Tankstelle (wie könnte es auch anders sein). Dort fragen wir nervös den Besitzer, der gelangweilt den Betrag unserer Frühstücksmuffins zusammenrechnet, ob der Wind auch wirklich kein Anzeichen für einen gefährlichen Tornado sei. Der verneint, fragt uns die gute alte „East or west?“-Frage und bringt uns damit endlich zur Besinnung: „Ihr fährt nach Westen? Na, worauf wartet ihr dann noch? Mit dem Rückenwind seid ihr in ein paar Stunden in Colorado!“ Mit dieser Prophezeiung gibt es für uns jetzt kein Halten mehr. Trotz Schnupfen und Husten schwingen wir uns auf die Räder und fahren ohne jegliche Anstrengung endlich die zuvor so sehr gewünschten 30 km/h.

Es ist noch immer flach, doch die riesigen Felder weichen nun einer buschigen Graslandschaft, die dank einem wolkenverhangenen Himmel eher trist auf uns wirkt. Natürlich befinden wir uns noch immer auf der 96-West und die machte nun schon lange keine ordentliche Kurve mehr. Gegen Nachmittag wird der Wind etwas schwächer und die Sonne brennt wieder herunter. Alle 20 bis 30 Kilometer gelangen wir in eine kleine Ortschaft. Sugar City gefällt uns von allen Kaffs am besten – man kann sich denken, warum. Dazwischen kommen noch ein paar verschlafene Dörfer, die hauptsächlich aus fabriksartigen Rinderfarmen zu bestehen scheinen. Unzählige Tiere türmen sich beinahe übereinander, Lkws laden im staubigen Dunst fließbandartig Futter ab. Es stinkt erbärmlich und die Rinder leiden. Uns vergeht für eine Weile jegliche Lust auf Fleisch und Burger.

Bis Pueblo, unserem 135 Kilometer entfernten Tagesziel, machen wir dank des Rückenwindes nur drei kurze Stopps. Den ersten, um eine Tarantel zu fotografieren. Die Spinne ist genau so groß, wie der Mittelstreifen breit ist! Den zweiten, um mit drei entgegenkommenden Radlern zu quatschen. Die drei gleichen Tick, Trick und Track, stammen aber nicht aus Entenhausen, sondern ursprünglich aus New York. Sie sind in San Francisco gestartet und zu allerlei Scherzen aufgelegt. Allerdings beschweren sie sich (jetzt schon!) über zu viel scenery und wollen endlich wieder mehr Zivilisation. Die Landschaft gen Westen werde immer wunderbarer, schwärmen sie uns vor. Da wissen wir nicht so genau, was wir ihnen umgekehrt vorschwärmen sollen, denn eines ist klar: Bei uns gab es bis jetzt fast nur scenery und die war nicht immer so abwechslungsreich …

Kaum wieder auf den Rädern, kommt auch schon die erste Kurve seit über zehn Tagen daher und es fühlt sich für uns beinahe ungewohnt an, den Lenker wieder einmal schwenken zu müssen. Hinter der Kurve dann die ersten sanften Hügel und vor allem das ersehnte Willkommensschild für Colorado. Grund, den dritten Stopp einzulegen. Wir wähnen uns unbeobachtet, es scheint auch wirklich weit und breit niemand zu sein: kein Haus, kein Auto, nur der Wind, das (riesige) Schild und wir. Sehr verlockend, hier ein paar „Colorado: Wir sind da!“-Fotos zu machen. Nach ein paar langweiligen Einstiegsfotos – wir zwei händchenhaltend vor dem Schild – bricht Flos kabarettistisches Element durch und er beginnt zu blödeln. Von unten hängt er sich wie ein Affe kopfüber ans Schild, springt, von der Straße kommend, mit gewaltigem Anlauf quer durchs Bild (und sieht dabei aus wie die vom Wind verblasene Mary Poppins) und spornt auch mich an, jegliche Hemmung abzulegen. Unser Übermut siegt. Wir kommen dabei ganz schön ins Schwitzen und hätten wohl noch lange so weitergemacht, hätte uns nicht plötzlich eine blecherne Stimme mit den Worten: „Wenn ihr so weitermacht, seid ihr bald so fertig, dass ihr es nie nach Pueblo schafft!“ erschreckt. Wir fühlen uns erwischt und blicken uns peinlich berührt um. Da entdecken wir schräg hinter uns einen Sheriff in seinem Polizeiauto, das er hinter einen Busch geparkt hat. Aus dem heruntergelassenen Fenster schwenkt er sein Megafon und amüsiert sich sichtlich darüber, uns so ertappt zu haben. Da lachen auch wir mit. Mit „Have a good time in Colorado“ verabschiedet er uns. Das hätte er gar nicht extra betonen brauchen, die haben wir jetzt schon!


In der Monokultur der Weizenfelder kommt eine kleine Sonnenblume groß raus.

Flo: „Ab sofort seid ihr im Bärenland!“, teilt uns David nebenbei mit, als er uns für den kommenden Morgen zum Frühstück in sein kleines Blockhaus einlädt. „Wir haben jede Menge Schwarzbären hier in der Gegend. Ein Jungtier habe ich schon vor ein paar Tagen erschossen. Die Mutter werden wir auch noch erwischen, schließlich schleicht sie hier öfter durchs Dorf“, erklärt er, während wir ihn mit großen Augen anstarren. Wetmore, der Ort, von dem David, einer der wenigen Bewohner dieses Dorfes, redet, besteht aus nicht mehr als ein paar Holzhäuschen, einer Bibliothek, einer kleinen Kirche und dem liebsten Futtersuchplatz der trauernden Bärenmutter – unserem Zeltplatz!

Es ist der Vorabend meines Geburtstages. Heute schafften wir nur 50 Kilometer von Pueblo bis hierher. Wir brachen erst nachmittags auf und hatten ein paar Defekte am Rad zu reparieren. Klaras hinterer Gepäcksträger machte uns bereits seit der ruppigen Hochlandpiste Islands zu schaffen und so musste in Pueblo ein neuer her. Außerdem war es nach 5500 Kilometern höchste Zeit, die Ketten zu wechseln. Kaum hatten wir uns endlich in Bewegung gebracht, merkten wir die Erkältung der letzten Tage. Wir sind ziemlich schlapp. Endlich erreichen wir aber die ersten Ausläufer der Rocky Mountains und in Wetmore, am Fuße unseres ersten Passes, dürfen wir neben der Bibliothek unser Zelt aufschlagen. David hält es zwar für übertrieben, doch der Dorfreverend teilt unsere Meinung und lässt uns unsere Lebensmittel im Gemeinschaftssaal der Bücherei anstatt in unserem Zelt verstauen. „Sicher ist sicher“, denken wir.

Schwere, keuchende Atemzüge wecken mich an meinem großen Tag. „Wer rüttelt an unserem Zelt?“, denke ich mir noch im Halbschlaf. Plötzlich schießt es mir: Die Bärenmutter ist hier und hat verdammt schlechte Laune, weil ihr Baby getötet wurde! Wie gelähmt liege ich in meinem Schlafsack, denke mir: „Ich war es nicht“ und wecke Klara vorsichtig auf. Wir machen uns fast in die Hosen (wenn wir welche anhätten), weil wir uns in unserer Stoffhütte derart ausgesetzt fühlen. Neugierig umkreist die Bärin unser Zelt und tastet es mit der Nase ab. Sie ist so nah – wir können ihre Schnauze, nur durch den dünnen Zeltstoff von uns getrennt, ausmachen und ihren warmen Atem riechen. Nach einer Schocksekunde kommen wir zum Glück wieder zu Verstand. Wir sind bereit zur Verteidigung! Ich nehme den vorsorglich neben meinem Kopfkissen platzierten Kochtopf zur Hand und schlage zögerlich mit einer Gabel drauf. Klara klatscht in die Hände und zischt laut: „Hau ab!“ Ein nicht ganz so resolutes: „Husch! Husch!“ bringe ich noch zusätzlich heraus. Totstellen läge mir wohl eher. Trotz allem, die Bärin haben wir damit erfolgreich verjagt!

Am Frühstückstisch ist unsere Story für David nicht so aufregend (schließlich sitzen wir ja noch lebend vor ihm!). Er toppt unser Erlebnis mit dem Foto eines aufgebrochenen Bären, der die Überreste gleich zweier Menschen in seinem Magen vereint hat. Natürlich eine Ausnahmeerscheinung, denn die meisten Bären verhalten sich gegenüber Menschen äußerst passiv. Wir aber fühlen uns ab sofort wie Abenteurer im Wilden Westen.

Der restliche Geburtstag geht entspannter weiter. Uns gefällt es in den Bergen ausgesprochen gut, auch wenn wir uns körperlich noch ein wenig angeschlagen fühlen. Daher beschließen wir, auch an diesem Tag nicht allzu weit zu radeln. Außerdem wollen wir Geburtstag feiern. In Westcliff gönnen wir uns einen ordentlichen Caffè Latte, kaufen uns ein Sixpack Bier und probieren als Nichtraucher ganz im Stile von Cowboys mal ein Zigarettenpäckchen der Marke American Spirit aus – die müssen ja fast gesund sein, sind sie doch zu 100 % natural. Am Ortsrand finden wir noch einen phänomenalen Campingplatz mit imposantem Ausblick auf die umliegenden Viertausender. Klara zaubert sogar noch eine Fünftausend-Kalorien-Torte aus dem Campingtopf. Ein perfekter Geburtstag!

IN DEN ROCKY MOUNTAINS

Klara: Es ist Mitte September und wir sind bisher gut 6000 Kilometer gefahren. Unseren anfänglichen Düsenantrieb lassen wir jetzt aber ruhigen Gewissens hinter uns. Schließlich können wir jetzt einschätzen, dass sich die USA-Durchquerung locker ausgeht. Hier ist es außerdem so schön, dass wir oft nur halbe Fahrtage und umso mehr Stauntage einlegen. Wir verbringen Stunden damit, fasziniert auf schroffe Gebirgszüge zu blicken. Die Blätter der unzähligen Espen am Fuße der Berge sind golden verfärbt und zittern im Wind, tiefblaue Seen liegen in Talsenken.

Mittlerweile hat sich so etwas wie Reiseroutine eingestellt und wir lieben unsere täglichen Rituale. Morgens wachen wir auf, packen unsere Sachen und kochen Haferbrei und Espresso. Jeder Handgriff ist so eingespielt, dass wir ganz schön ins Strudeln kommen, wenn der eine dem anderen freundlicherweise eine Aufgabe abnimmt. Dann fahren wir ein paar Stunden, bevor es mittags meist eine größere Pause und einen gekauften Snack gibt. Abends kochen wir dann wieder. Es ist schon erstaunlich: Sobald wir einen langen Radtag hinter uns haben, freuen wir uns wieder auf unsere beinahe tägliche Ration Sugonudeln mit Streukäse. Kaum nehmen wir uns einen Tag frei, ätzen wir aber: „Was kochen wir heute? Auf keinen Fall Nudeln mit Tomatensoße! Ich habe mich abgegessen!“ – Nur um es tags darauf auf den letzten Kilometern schon gar nicht mehr richtig erwarten zu können, uns den Bauch damit vollzuschlagen.

Auch die gutgemeinten Warnungen unserer Bekannten daheim: „Wenn euch schon die Appalachen zu schaffen machen, dann wartet nur auf die Rockies“ sind zum Glück unbegründet. Denn: Passfahren ist, wie jeder Tourenradler sicher weiß, meist viel weniger anstrengend als das ewige Auf und Ab steiler Hügelgebirge. Eigentlich haben wir größtenteils sogar eher das Gefühl, mehr bergab als bergauf zu fahren. Die Steigungen der einzelnen Pässe sind angenehm und manchmal geht es bis zu 50 Kilometer am Stück bergab.


Über atemberaubende Pässe durch die Rocky Mountains

Hier geht endlich all das, was wir uns zu Hause immer ausgemalt hatten: Wir campieren in der freien Natur, baden in Wildbächen, sitzen am Lagerfeuer und sind den lieben langen Tag von offenherzigen Leuten umgeben.

In Salida sitzen wir vor einem Safeway-Supermarkt und essen ein Riesenbaguette, da beginnt es zu regnen. Salida, müssen wir dazusagen, ist derzeit der angesagte Wohnort in den Rocky Mountains, dessen Ruf uns im Verlauf der gesamten Reise verfolgt. Wir treffen in allen möglichen Ländern auf Amerikaner, und wenn wir sie fragen, woher sie sind, kommt von jedem Zweiten ein stolzes: „Ich bin aus Salida!“ oder „Wir haben einen Baugrund in Salida gekauft!“

 

Salida ist aber auch wirklich toll: Umgeben von Bergen, bietet es alle möglichen Outdoor-Erlebnisse direkt vor der Haustür und mit der Mischung aus weltoffenen Bewohnern und niedlichen Kaffeehäusern ist es sicher eine lebenswerte Kleinstadt. Jetzt aber regnet es, und zwar in Strömen. Bis auf einen kurzen Wolkenguss in Kentucky hatten wir seit Island keinen Niederschlag mehr und wir finden das kühle Nass richtig erfrischend. Also fahren wir ein paar Kilometer, suchen uns in einer Tankstelle kurz Unterschlupf und werden – mal wieder – prompt vom Besitzer auf einen Kaffee eingeladen. Dann ist der Regen auch schon vorbei. Eine Stunde später finden wir am Fuße des Monarch-Passes, den wir tags darauf überqueren wollen, einen gemütlichen Campingplatz am Fluss. Zeit für ein Lagerfeuer, finden wir!


Into the wild: Colorado zeigt sich von seiner besten Seite.

Am nächsten Morgen – es regnet wieder – fahren wir früh los und schlängeln uns die von bunten Laubbäumen gesäumten Serpentinen hinauf. Je höher wir kommen, umso kälter wird der Regen. Es ist anstrengend, aber auch unheimlich intensiv. Am 3500 Meter hohen Pass schneit es schon beinahe. Triefend stapfen wir in das Aussichtslokal und fühlen uns, aufgrund unserer Aufmachung, nicht sonderlich willkommen. Schnell ziehen wir uns im Foyer um und hängen die klatschnassen Sachen auf den Stühlen rund um unseren Tisch auf. Ein Anblick, den die Gastwirte an diesem Teil des beliebten TransAm-Trails sicher nicht zum ersten Mal sehen.

Dass es Herbst wird, bemerken wir nicht nur an den buntgefärbten Wäldern, sondern auch am Frost, der sich nachts über unser Zelt legt.

Über Gunnison mit seinen Seen gelangen wir in ein paar gemütlichen Tagen nach Telluride. Dort kommen wir genau rechtzeitig an, um dem beliebten Blues’n’Brews-Festival beizuwohnen. Zu früheren Zeiten zog Telluride mit seinen zahlreichen Bordellen und Saloons jede Menge Banditen an – der Banküberfall des berühmtberüchtigten Gauners Butch Cassidy verschaffte der Kleinstadt zweifelhaften Ruhm. Heute drängen sich jährlich Tausende Besucher durch die Gassen aus buntbemalten Häusern, um in den Bars die neuesten lokalen Bierkreationen zu testen und auf der Wiese des Stadtparks zu Bluesmusik zu tanzen. Verschwitzt finden wir ein freies Tischchen in einem der Biergärten an der Hauptstraße und bestaunen das bunte Treiben, während die Sonne langsam hinter dem mächtigen Bergmassiv verschwindet, das sich unmittelbar hinter der Stadt auftut.


Wir müssen uns sputen. Der Herbst steckt in den letzten Zügen.

Einziges Problem: Wir sind nicht die Einzigen, die heute Abend hier zelten möchten, und der Campingplatz in Telluride ist wegen Überfüllung geschlossen. Trotzdem genießen wir den Abend in der Zivilisation (ich habe schon fast vergessen, dass es so etwas wie Mode gibt!) und suchen uns dann, hinter einer Gasleitung außerhalb der Stadt versteckt, einen Zeltplatz.

Den Lizard-Head-Pass möchten wir eigentlich gar nicht fahren, nicht weil er uns zu anstrengend ist, sondern weil er für das Ende unserer Zeit in Colorado steht. Oben angekommen, schießen wir ein paar Erinnerungsfotos: Aber nicht von uns, sondern von zwei Harley-Davidson-Fahrern, die mit der Clubzeitschrift in der Hand und in verdammt knapper Ledermontur posieren. Das Outfit ist an manchen Körperstellen tatsächlich so eng, dass wir unsere Blicke lieber auf die obere Körperhälfte der Biker richten. „Wenn wir alle 10.000 Feet (also alle über 3000 Meter) hohen Pässe Colorados abgefahren sind, bekommen wir den Ehrentitel des Harley-Clubs“, erklären sie mit stolzgeschwellter Brust, lassen sich kurz feiern, werfen einen flüchtigen Blick auf die traumhafte Kulisse und brausen auch schon wieder nach unten. Wir rollen den Pass hinunter und suchen uns nach 40 Kilometern bergab (ein Hochgefühl!) einen wilden Zeltplatz am Dolores-River.

Unser letzter Morgen in Colorado beginnt mit einer starken Sehnsucht nach österreichischen Backwaren. Wir träumen von mit Marillen gefüllten Topfengolatschen, während wir noch immer bergab in Richtung Dolores radeln. Gebäck oder Brot, wie wir es in Österreich kennen, ist hier, zumindest am Land, so unwahrscheinlich wie ein vierblättriges Kleeblatt. Seit unserer Abreise träumen wir von Kaisersemmeln, Krapfen und Kipferln. Wir wissen, diese Sehnsucht wird sich frühestens in San Francisco, und dann auch nur in einer teuren Luxusbäckerei erfüllen lassen. Kaum rollen wir jedoch in Dolores ein, fällt unser Blick auf die Reklametafel einer German Bakery! Wir können es kaum glauben und sitzen keine zwei Minuten später im warmen Stübchen der Bäckerei vor einer – so amerikanisch muss es dann doch sein – tellergroßen, mit heißer Karamellsoße überzogenen XXL-Nussschnecke. Ein wahrer Traum!

Wehmütig verlassen wir die letzte Kleinstadt Colorados und wissen: Dieses schöne Stückchen Erde mit seinen freundlichen Bewohnern sieht uns bald wieder!

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