Als der Bär am Zelt anklopfte

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VIRGINIA: DURCH POCAHONTAS HEIMAT

Klara: Selbstverständlich ziehen wir am Starttag die Just-married-Radshirts an, die uns Freundinnen geschenkt haben. Sie sind knallgelb und auf Flos steht „just“, auf meinem „married“. Stehen wir nebeneinander und umarmen uns, ergibt das Ganze Sinn und es bildet sich sogar ein großes rotes Herz auf unseren Bäuchen.

Kaum rollen wir gut gelaunt und etwas nervös los, werden wir auch schon freundlich angehupt. Uns wird zugewunken und die Leute rufen uns begeistert Glückwünsche zu: „How romantic!“, „Congrats!“ So geht das den ganzen Tag! Es ist herrlich – wir haben fast das Gefühl, nochmals ein bisschen zu heiraten. Direkt von Washington aus gelangen wir auf den Mount Vernon Trail. Es geht entlang des Potomac-Flusses bis nach Alexandria, einer südlichen Vorstadt Washingtons mit Backsteinhäuschen, bunt bemalten Fensterläden und verlockenden Eisbuden. Dort essen wir gemütlich zu Mittag, bevor wir bis zum ehemaligen Wohnhaus George Washingtons fahren. Der schöne Radweg ist ab hier Geschichte. Jetzt geht es nur noch auf vier- bis sechsspurigen, stark befahrenen Straßen weiter, an den ersten Ausläufern der Appalachen rauf und runter, von einer Ampel zur nächsten. Alles sieht gleich aus, eine Einkaufsmeile nach der anderen, wie sie wohl in jeder größeren Stadt Nordamerikas zu finden sind: Walmart, Radioshack, McDonald’s und Starbucks … Zum Verrücktwerden. Es wird schon dunkel, als wir endlich den ersten und einzigen State Park weit und breit entdecken. Diese kleinen Naturschutzgebiete bieten häufig die Möglichkeit zu campen – ideal für Reisende wie wir. So können wir uns die sporadisch auftauchenden, heruntergekommenen Motels sparen. Im dunklen, tiefen Wald des Parks ergattern wir eine einfache Hütte und kochen noch schnell Pasta, bevor wir in die Schlafsäcke fallen und sofort einschlafen.

In den kommenden Tagen werden wir auf unmissverständliche Art und Weise mit dem Begriff der rolling hills und den Appalachen vertraut gemacht. Hatten wir in Island mit einer sogenannten Wellblechpiste zu tun, bei der uns kleine, wellenartig aneinandergereihte Erhebungen das Fahren schwer machten, so fordert uns nun ein steiler Hügel nach dem anderen. Hier, im Land von Pocahontas und den Blue Ridge Mountains, gibt es viel Wald und neben der üppigen Fauna und den „Meine-kleine-Farm-Höfen“ findet sich allerlei spannendes Getier. Allen, die gleichfalls Pocahontas kennen, braucht man ja nichts zu erzählen, allen anderen sei gesagt: Waschbären, putzige Kaninchen, Eichhörnchen, Schildkröten, Füchse, zutrauliche Rehe und Eulen versüßen unsere Radtage.

Die meisten US-Touristen sind aber aus einem ganz anderen Grund in Virginia: Sie klappern ein Bürgerkriegsmonument nach dem anderen ab, denn hier wurde das intensivste Kapitel dieses Konflikts geschrieben. Die Rednecks, wie die Südstaatler genannt werden, mussten 1865 nach rund vier Jahren Krieg vor den Yankees aus dem Norden kapitulieren und somit die Sklaverei aufgeben.

Wir schlafen weiterhin meist in State Parks, campen aber auch eine Nacht bei Katzenfrau Maria. Maria entspricht mit ihrer ausgewaschenen schwarzen Dauerwelle, der rauchigen Stimme und einem Kaffeebecher und einer Zigarette zwischen den Fingern äußerlich dem perfekten Katzenfreundinnen-Klischee. Es gibt zwanzig Katzen auf ihrem Campingplatz – und gegen Mitternacht auch in unserem Vorzelt. Sie arbeiten für mich“, schwärmt Maria mit liebevollem Blick auf ihre felligen Freunde. Auf unser mimisch leider nicht zu vermeidendes Unverständnis hin (sagen wir so: wir sind keine Katzenfreunde) erklärt sie: „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viele Ratten ich ohne sie hier hätte!“

Zwischen den endlos anmutenden Hügeln Virginias habe auch ich meine Auf und Abs und manches Mal ein ziemliches Motivationsproblem, was für Florian, der inzwischen schon total im Radfahren aufgeht, auch nicht immer so unterhaltsam ist. Auf bisherigen Radurlauben hatte ich nach spätestens zwei Wochen stets ein Hochgefühl erlebt und war schnell auch körperlich fit gewesen, doch diesmal machen mir die steilen Anstiege einen Strich durch die Rechnung. Ich bin matt, müde und das mit der Kondition scheint einfach nicht wirklich zu werden. Innerlich verfluche ich bereits die verdammten Hügel der Appalachen und hoffe, bald ein besseres Gefühl zu bekommen.

Flo: „Unterstützt unsere Truppen!“, heißt es auf Werbebannern und Plakaten. „Alle gaben etwas, manche gaben alles!“, lesen wir auf Mahnmahlen in Privatgärten. Ja selbst der Kauf einer bestimmten Würstchenmarke unterstützt die Heimatfront. Viele Bürger leben hier in Angst und Schrecken, obwohl die von den USA geführten Kriege Tausende Kilometer weit entfernt sind. „In den letzten Jahren scheint auf unserem Land ein Fluch zu liegen. Wir müssen immerfort kämpfen“, lässt uns die Südstaatlerin Mary geknickt wissen. „Na ja, meistens seid es aber ihr, die irgendwo einen Krieg anzetteln“, denken wir uns und geben ein etwas bedrücktes Lächeln zurück. Die ihrerseits erwartete, verständnisvolle Bestätigung bleibt von unserer Seite aus.


Die ersten Tage in den USA sind ernüchternd: viel Verkehr und wir ohne Plan.

Kriegsverherrlichung an sich gehört in der Gegend rund um Virginia einfach dazu. In kleinen Dörfern zieren Gedenktafeln – meist direkt neben den Schulen – die Ortschaft. Sie heben die leider Gottes gefallenen, oft blutjungen, ortsansässigen Soldaten öffentlich in den Himmel. Diese sind echte Helden für potenzielle Nachwuchssoldaten, die oft aus dieser verarmten Gegend rekrutiert werden. Dies alles erinnert mich an ein Gespräch, das ich mit einem jungen Kerl aus Arkansas während meines Auslandssemesters führte. Er schwärmte mir von den enormen Vorteilen einer Karriere bei der Army vor: „Da kriegst du jede Menge Kohle. Alles was du dafür tun musst, ist die gesamte Scheiße in Afghanistan in die Luft zu jagen!“


„Privateigentum!“ Die vielen Verbotsschilder haben Frustpotenzial.

Ein weiterer Grund, warum wir mit der Mentalität Virginias nur langsam warm werden, sind die vielen Verbotsschilder. Jedes noch so kleine Fleckchen, jeder Baum, jede Wiese scheint mit einem Betreten-verboten-Schild versehen zu sein. Diese erfreuen unser Camperherz nicht unbedingt, da wir täglich bis zu 20 Kilometer Umweg in Kauf nehmen müssen, um einen Campingplatz zu erreichen. Wir fühlen uns schon fast unwillkommen. Die in Summe 1500 Kilometer extra würden wir in unserem Drei-Monats-Visum sicher nicht mehr unterbringen. Einmal überlegen wir sogar, die Schildchen vor einem Wald einfach zu übersehen, doch noch im selben Moment hören wir den schießwütigen Eigentümer im Wald herumballern. Der Höhepunkt ist aber ein Schildchen auf einem offiziellen Campingplatz. Wir sind auf dem Weg zur Rezeption und werden sogleich von einer unübersehbaren, wohl spaßig gemeinten Tafel willkommen geheißen: „Stay out! Violaters will be shot! Those who get up will be shot again!“

Zum Glück haben Virginia und seine Bewohner auch noch ganz andere Seiten zu bieten. Wenn man sich auf die Menschen einlässt, erfährt man die berühmte southern hospitality, die Gastfreundschaft der Südstaatler. Da ist zum Beispiel George, ein Farmer, auf dessen Ranch wir unser Zelt aufstellen dürfen. Er mäht extra ein besonders schönes Fleckchen an seinem See für uns aus. Einen unerwarteten Wolkenguss dürfen wir sogar noch bei einer kühlen Limonade in seinem Haus abwarten. Seine interessante Lebensgeschichte inklusive seiner köstlichen Ausführungen über seine beruflichen Erlebnisse im Beerdigungs-Business gibt es obendrauf.

Oder Rhoda, eine Mennonitin, die wir im Bear Creek Lake State Park treffen. Mit ihrem weißen Häubchen als Kopfbedeckung fällt sie uns gleich auf. Vom Auto aus beginnt sie mit uns zu quatschen. Sie sei frisch von Idaho hierher gezogen und erkunde jetzt die Gegend. Auch ihr Traum sei es schon immer gewesen, einmal mit dem Fahrrad quer durch ihr Land zu fahren. Nach einem netten Gespräch verabschieden wir uns herzlich voneinander. Kaum haben wir eine Stunde später unser Zelt aufgestellt, steht Rhoda plötzlich mit frisch gebackenem, warmen Kuchen und Milch vor uns, um uns noch einmal offiziell in ihrem Land willkommen zu heißen. Als wir uns überschwänglich bedanken, meint sie nur, wir sollen diese Gastfreundschaft einmal an andere weitergeben. „That’s trail magic“, das sei der Zauber des Pilgerns, meint sie. Und wir nehmen uns ganz fest vor, auch zu Hause Fremden diese Herzlichkeit entgegenzubringen.


ZWEI IDIOTEN GEBEN VOLLGAS 5. August 2012

Flo: Vorgestern hätten die gesetzestreuen Amerikaner wirklich einen verständlichen Grund gehabt, sich über uns zu ärgern. Fuhren wir doch unerhörterweise ein paar Meilen auf der Interstate, was sich als waghalsig, dumm und andererseits als sehr schnell herausstellte – Letzteres meint zumindest Klara, die mich davon überzeugte, die Abkürzung über die Autobahn zu nehmen. Dabei schubste sie mich quasi in die Auffahrt und schon waren wir bei den Fahrradfahrverbotsschildern vorbei und direkt am Pannenstreifen unterwegs. Jetzt gab es bis zum nächsten Exit in rund sieben Meilen kein Zurück mehr. Ich starb tausend Tode! Gesteuert vom Überlebenstrieb versuchte ich Klara wild gestikulierend mitzuteilen, dass sie dichter an meinem Hinterrad fahren sollte, um den Windschatten besser ausnutzen und so mehr Tempo machen zu können. Ich wollte nämlich keine Minute zu viel auf diesem gefährlichen Pflaster verbringen. Sie verstand aufgrund des Lärms der vorbeirasenden Lastwagen natürlich kein Wort und durch mein sinnloses Gestikulieren stürzte ich auch noch fast. Klara blieb ganz cool (oder dachte vielleicht einfach gar nicht so weit?). In meinem Kopf sah ich mich jedenfalls schon von einem Truck überrollt oder von einem Sheriff geschnappt. Ich zumindest mache mich ab jetzt nicht mehr lustig, wenn es im Verkehrsfunk heißt: „Zwei Tschechen per Fahrrad am Pannenstreifen der A1 Richtung Attersee …“

 

Klara: Jetzt sitzen wir also seit Tagen hier und warten im Claytor Lake State Park, bis der Postmann dreimal klingelt, oder, in unserem Fall, der UPS-Mann mit unseren Radkarten angebraust kommt. Das sind nicht irgendwelche Straßenkarten, sondern die Karten der Adventure Cycling Association mit unserer Route gen Westen, ohne die wir ab hier nicht mehr weiterfahren können beziehungsweise wollen. Schließlich irren wir schon seit einer Woche in Virginia herum, den halben Tag damit beschäftigt, uns im wirren Straßensystem fahrradfreundliche Routen zu suchen und abends einen Campingplatz zu finden. Wir haben genug vom Verkehr und den täglichen Extrakilometern auf dem Weg zu einem Schlafplatz. Wir wissen, in den Radkarten sind all diese Dinge eingezeichnet und damit ist Schluss mit den Strapazen. Aber die Lieferung der in New York mit einem dollarfressenden Internetanschluss bestellten Karten ließ mächtig auf sich warten.

Während der nervenaufreibenden Warterei werden wir ganz schön paranoid: Jedes Mal, wenn ein Fahrzeug an der nahe unserem Zeltplatz gelegenen Einfahrtsstraße vorbeirollt, schrecken wir nervös auf und hoffen, es sei was für uns dabei! Erwartungsfroh gehen wir mehrmals täglich zum Empfangszentrum des Parks und werden mit unserem Anliegen bald platzweit bekannt. Jeder weiß: Die zwei warten auf ihre Karten. Oft bekommen wir schon, noch bevor wir wieder mal nachfragen können, ein verneinendes Kopfschütteln, dem hoffnungsspendende Worte über ein baldiges Eintreffen folgen. Wir kommen uns teilweise ganz schön vertrottelt vor und vertreiben uns die Tage mit Wäschewaschen – die hier, in diesem feuchtschwülen Wetter, aber einfach nicht trocknen möchte. Irgendwann helfen uns dann die beiden Parkhosts Marion und Don liebenswerterweise aus. Sie sind für unseren, insgesamt fünf Zeltplätze umfassenden Abschnitt des State Parks verantwortlich und dürfen dafür die ganze Saison lang mit ihrem monströsen Campingbus (in den Ausmaßen eines typischen europäischen Reisebusses für 50 Personen) gratis campen. Für ihr jahrelanges Engagement haben sie sogar schon die goldene Ehrenanstecknadel erhalten. Don war Flugzeugingenieur bei der Army und dementsprechend haben sie ihren kleinen Vorgarten vor dem Bus gestaltet. Neben Windspielen und Topfpflanzen hängen hier unzählige US-Flaggen. Getoppt wird das alles von einem überlebensgroßen Denkmal. Dabei handelt es sich um eine Art Scherenschnitt aus schwarz lackierten Pressspanplatten in Form eines Soldaten, der vor einem Grab kniet. Darunter steht so etwas wie: „Danke für euren Einsatz für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit!“ Anders als es ihre uns befremdende antipazifistische Einstellung zunächst vermuten lässt, sind die beiden sehr hilfsbereit und fahren uns extra in den 20 Kilometer entfernten Waschsalon, wo wir endlich unsere Wäsche trocknen können. Als wir im Schritttempo durch den Campingplatz rollen, bleibt Don plötzlich stehen und steigt aus. Wir fragen uns gerade, was er bloß vorhat, da hebt er ein winziges Ästchen vom Weg auf, schwingt es triumphierend in die Höhe und erklärt: „That’s part of our job!“

Wir vertreiben uns außerdem die Zeit mit Baden am kleinen See des State Parks, was uns nicht ganz so viel Spaß macht. Denn hier erscheint uns alles sehr restriktiv: Sogar die Kinder rufen uns von der Ferne ermahnend zu, wenn wir, ohne uns unseres Vergehens bewusst zu sein, nicht im Badebereich – einem 20 Meter langen Uferstreifen –, sondern fünf Meter weiter drüben ins Wasser steigen wollen. Am Ministrand gibt es sogar baywatchgleiche Rettungsschwimmerinnen – mit rotem Badeanzug und Boje, versteht sich!

Ansonsten beobachten wir unzählige zutrauliche Rehe, Schmetterlinge und Eichhörnchen und genießen die vielen Begegnungen mit lieben Campnachbarn, die gern Marshmallows grillend vor den Lagerfeuern sitzen. Alle scheinen mittlerweile mit uns mitzufiebern, wann denn nun endlich die Karten kommen und unsere große Reise gen Westen so richtig durchstarten kann.

Wir warten und warten und warten. Innerlich sind wir aber nicht mehr so ruhig, sondern haben das Gefühl, uns läuft die Zeit, beziehungsweise das Drei-Monats-Visum, davon. Wenigstens hat mein Körper Zeit, sich zu erholen und endlich fit zu werden.

Siehe da, nach fünf Tagen passiert das Wunder – und noch dazu ganz still und heimlich! Diesmal werde ich durch unser raffiniertes System von Schere, Stein, Papier auserkoren, mal wieder beim Parkeingang nach einem Päckchen zu fragen, und man glaubt es kaum: Ohne dass wir es bemerkt hätten, hat der Postmann tatsächlich das langersehnte Paket geliefert. Wir können ihm nun nicht einmal jauchzend um den Hals fallen. Das ist ja wie Ostern und Weihnachten zusammen! Don und Marion applaudieren fast, als ich, stolz wie ein Pfau mit den Karten winkend, bei ihrem Camper vorbeischreite. Dann folgt ein kurzes Rechenspiel meinerseits: die uns bevorstehenden Kilometer dividiert durch die noch vorhandenen Tage und ein großer Schock. Bei der uns bevorstehenden durchschnittlichen Tageskilometerzahl möchte ich am liebsten jetzt sofort losstarten – auch wenn es schon dunkel wird! Flo beruhigt mich: Wir könnten ja ein paar Pausentage hereinradeln, wenn wir an anderen Tagen nur umso mehr schaffen. „Das sind ja großartige Aussichten“, denke ich mir und freue mich gleichzeitig, dass die Reise endlich wieder weitergeht. Kentucky: Der olympische Traum lebt.

Flo: Kentucky, das ist ein einziger grüner Tunnel in den Hügeln der Appalachen. So steile Hügel, dass wir einmal nach einem besonders anstrengenden Anstieg simultan auf unsere zuvor ausgebreitete Plane fallen und kaum noch klar sehen können. Zum Glück haben wir noch den, ansonsten für uns eher ungenießbaren, Maisbrei mit, der uns in der Not die nötige Energie bringt, doch noch weiterfahren zu können.


Claytor Lake State Park: Warten auf den Postmann

In den kommenden Tagen und Wochen versuchen wir, mindestens 20 Kilometer über unserem errechneten Tagesschnitt zu fahren, denn wir möchten uns unbedingt in den aufregenderen Bundesstaaten wie Colorado, Utah und Kalifornien mehr Zeit lassen können. Zum Glück funktioniert das mit unseren Karten auch perfekt, denn die tägliche Organisation des Schlafplatzes ist somit geregelt. Auf dem TransAmerica-Trail gibt es für alle, die das Crossing-the-States-Thing machen, gratis Schlafmöglichkeiten in Kirchen, Turnsälen und Stadtparks – besonders in Gegenden ohne touristische Infrastruktur. Dies erleichtert uns das Reisen in diesem Land enorm. Wir treffen jetzt auch ab und zu andere Radfahrer – eine Seltenheit und eine Freude in Kentucky, wo es eher unüblich scheint, sich zu bewegen. Sie alle fahren den Trail, der in den 1970er-Jahren zu Ehren der Nation entstanden ist. Er wurde für mostly unexperienced cyclists, also hauptsächlich für unerfahrene Radfahrer entwickelt. Um diesen Anspruch zu untermalen, wurde auf dem Kartencover ein Gruppenfoto eben solcher Radfahrer – in ausgefransten Jeansshorts, engen Rudershirts, mit Hornbrillen und wirren Lockenköpfen – abgedruckt. Ein Blick darauf genügt, um jegliche miese Stimmung zu vertreiben, wir sind very amused.

Mit den Karten können wir sehr entspannt dahinfahren und den lieben langen Tag vor uns hin plappern. Als Gesprächsthemen dienen auch die fanatischen Sprüche und Texte, die hier religiöse Gruppen überallhin pflastern. Wir sind eindeutig im Biblebelt und die Zehn Gebote finden sich an jedem zweiten Supermarkteingang. Nicht mehr ganz so lustig finden wir aber Selbsthilfebücher mit Titeln wie: „Satan, you won’t get my children“.


PROFESSIONELLE BEINE 12. August 2012

Klara: Ich erlebe eine Premiere: Ich bin oft weit und breit, zum Beispiel im riesigen Walmart, die Dünnste von allen! Etwas, das mir zu Hause selten passiert. Und dann die legs-Geschichte: Ich bin ja nun wahrlich kein Hirtermadl (Sie wissen schon, die mit den dünnen Wadeln)! Aber gleich so ein Trara um meine muskulösen Beine zu machen … In Kentucky werde ich ständig auf meine legs angesprochen. „Look at her legs! They are amazing“, höre ich im amerikanischen Singsang mindestens zwei Mal die Woche, während rotlackierte Zeigefinger auf meine untere Körperhälfte deuten. Oder, aus aktuellem Anlass (die Olympiade wird gerade in London ausgetragen): „Are you training for the olympics? Your legs look professional!“ Mir ist das peinlich, Flo findet es lustig und bestätigt mit ernster Miene, dass wir 2016 in Rio live dabei sein werden. Kentucky, das ist der Bundesstaat der Bluegrass-Musik (gefällt uns), der Bundesstaat der Rennpferdezucht – bis zu elf Millionen US-Dollar für einen Hengst – (finden wir interessant) und der Bundesstaat mit der größten Anzahl an offensichtlich Fettleibigen (finden wir schockierend). Kentucky, quo vadis?

Flo: Hier werden Stereotypen bedient. Auf den ersten Blick leben in Kentucky vor allem dicke, burgermampfende Menschen mit großen Autos. Menschen mit wenig Umweltbewusstsein und schlechten Bildungschancen. Das stellt zumindest Ben fest, ein Amerikaner aus Boston, der ebenfalls mit dem Rad nach San Francisco unterwegs ist: „Ich bin schockiert über mein Land! Für mich ist es hier mindestens so überraschend wie für euch Europäer. Ich hätte niemals für möglich gehalten, wie anders die Südstaatler sind.“ Kentucky ist einer der ärmsten Bundesstaaten der USA. Aufgrund der Schließung vieler Kohleminen und des Zusammenbruchs der Holzindustrie leben in gewissen Regionen bis zu 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Ein guter Nährboden für morbide Adipositas. Über 60 Prozent der Leute sind fettleibig oder übergewichtig. Wir zählen zum Glück noch nicht dazu, obwohl unsere Diät, die hier vorwiegend aus Fett und Zucker besteht, bereits Wirkung zu zeigen beginnt. In den kleinen Dörfern entlang unserer Route gibt es nämlich kaum frische und gesunde Nahrungsmittel und so schnabulieren wir Donuts, Burger und unsere tägliche Ration Pasta.


Von Kaff zu Kaff durch den Bible Belt. Selbst der Tabakladen hat eine Drive-through-Möglichkeit.

Auffällig ist hier auch, dass zahlreiche Autos einen Behindertenausweis am Nummernschild befestigt haben, um bei Supermärkten direkt vor dem Eingang parken zu dürfen (wenn es gemeinerweise keine Drive-through-Möglichkeit gibt). Erst einmal eingeparkt wird direkt vom Auto auf einen elektrischen Einkaufswagen – natürlich mit gemütlichem Sitz – gewechselt. Jetzt wird durch die riesigen Regalreihen geflitzt. Der mitgeführte Gehstock wird praktischerweise dafür verwendet, an die Leckereien im oberen Bereich der Regale zu kommen – nur um nicht unnötigerweise aufstehen zu müssen.

Kein Wunder, dass wir oft unverständliche Blicke ernten, wenn wir vollbepackt – zwar sitzend, aber ganz ohne Motor – durch die Gegend fahren. No sports ist angesagt. Bei längerer Unterhaltung folgt auf Unverständnis aber meist Begeisterung und wir werden mehrmals (ernsthaft!) mit guten Wünschen für die Olympischen Spiele verabschiedet.


Das Pferd braucht zwar keinen Treibstoff, sein Besitzer aber schon: Kaffee und Cola gibt’s an jeder Tankstelle.

Klara: Manchmal kommen wir uns wirklich wie beim beinharten Training vor. Das Höhenprofil der schwülheißen Appalachen zeigt uns des Öfteren unsere körperlichen Grenzen auf. Schweiß läuft uns in die Augen. Mit unseren Händen können wir ihn bloß verwischen und verstärken dabei blöderweise meist nur das salzige Brennen in den Augen. Bei extrem steilen Passagen, wo die dicke Luft zu stehen scheint, haben wir besonders Mühe, auf den Rädern zu bleiben: Uns rutschen die Lenker aus den Händen, da diese klitschnass geschwitzt sind! Noch dazu brechen uns beim andauernden Hügelhochsprinten im Wiegetritt unsere zu schwach ausgelegten Alu-Gepäckträger. Provisorisch richten wir diese mit Kabelbindern (das Universaltool schlechthin!) und Draht wieder her. Ich lege damit sogar noch eineinhalbtausend Kilometer zurück, ehe ich in Colorado einen neuen Gepäckträger bekomme.

 

Flo: Klara ist ein wirklich gutmütiger und liebenswürdiger Mensch, aber bei einem Ford F150 oder einem Dodge Silverado hören sich auch bei ihr jede Freundschaft und die guten Manieren auf. Die überdimensionierten Pickups mit viel zu viel Hubraum und Spritverbrauch werden zu ihrem erklärten Feindbild. Nicht nur wegen der sinnlosen Ressourcenvergeudung und des furchteinflößenden Motorengeheuls dieser Maschinen (mehrmals wähnen wir einen Monster-Lkw hinter uns und stellen dann verblüfft fest, dass es doch nur eines dieser Autos ist), sondern vor allem aufgrund der Personen, die solche Autos fahren. In den USA zählen wir in vielen Bundesstaaten (anscheinend vor allem in den republikanischen) als minderwertige Verkehrsteilnehmer und Störelemente auf der Straße. Und das lassen uns die Autofahrer auch spüren, indem sie uns durch empfindlich nahes Überholen oft fast von der Straße drängen. Manchmal ist es wirklich knapp und uns kommt es vor, als hätten sie ihren Spaß damit. Manche können wohl auch nichts dafür – reden wir uns ein –, da die Fahrausbildung mangelhaft zu sein scheint. Es gibt aber auch unsere persönlichen Helden, wie zum Beispiel einen Truckfahrer, der über internen Funk seine Kollegen bittet, auf uns Acht zu geben, oder solche, die beim Überholen ausreichend Abstand lassen. Mehr brauchen wir eigentlich nicht, um uns auf der Straße wohlzufühlen.

Und dann sind da noch die Hunde. Die Leute mit den ärmlichsten Behausungen haben die bissigsten und aggressivsten Hunde. Das Bisschen, das sie haben, versuchen sie wohl durch die Köter energisch abzusichern. Klara hat aus dem letzten Radurlaub in Südrumänien ein kleines Trauma davongetragen und zuckt jedes Mal zusammen, wenn sie Hundegebell hört. Und ich mache mir jedes Mal riesige Sorgen um sie – aber nicht, weil ich fürchte, dass sie gebissen wird, sondern aufgrund ihrer eigenartigen Reaktionsgewohnheit, die mich immer an ein Huhn erinnert, das wie völlig verrückt orientierungslos durch die Gegend stakst. Sobald Klara einen anscheinend angriffslustigen Köter ortet, schwenkt sie unverzüglich nach links und gibt Vollgas. Ohne Rücksicht auf eventuell von hinten heranbrausende Trucks, die sie leicht niederbügeln könnten. Nur mit Mühe hat sie sich auf der Reise auch andere, vernünftigere Taktiken angeeignet.

Klara: Der mittlerweile bewährte Ablauf bei unfreiwilligen Hundekontakten verläuft folgendermaßen: 1. Wer das Biest zuerst bemerkt, beginnt lautstark und im Maschinengewehrtempo: „He, he, he!!!“ zu rufen, der andere setzt, schockiert über den abrupten Abbruch des eben noch intensiv geführten Gesprächs, alsbald ein. 2. Ein schneller Blick nach hinten führt bei einem von uns als freundlich, aber interessiert eingeschätzten Hund zu einem gedehnten Ausruf: „Good dog!“ Ganz im Tonfall von Radkollegen und Nativespeaker Ben. Bei einem gemeinen Hund jedoch, einem mit kurzer Schnauze und lechzenden Zähnen, wird das „Good dog“ übersprungen, das Bein rausgestreckt und die „He, he, he“- Taktik durch ein lautes „Schleich di!“ (österreichisch für „Hau ab!“) verschärft. Das Tempo wird gesteigert und gemeine Schimpfwörter rutschen über die Lippen. Nützt gar nichts mehr, greift Flo zum ultimativen Mittel: Er nimmt eine Wasserflasche, hält sie bedrohlich gegen das Tier gerichtet und macht sprayähnliche Geräusche. Wenn es wirkt, dann wissen wir, dass dieser Hund bereits eine Begegnung mit dem Pfefferspray eines anderen Radfahrers hatte. Auf den von manchen Trans-Am-Fahrern mitgeführten Revolver (kein Scherz!) verzichten wir aus Selbstschutz freilich!

Und um meine, zugegebenermaßen zuweilen wirklich etwas irrationalen, Reaktionen zu rechtfertigen: Jeder, der hinten fährt, wird mir sofort zustimmen, dass an dem Sprichwort was dran ist: Den Letzten beißen die Hunde. Die letzten paar Tage in Kentucky werden wir immer wieder durch Verkehrsschilder darauf hingewiesen, auf die hier verkehrenden Amish in ihren Pferdekutschen Acht zu geben. Die „Amischen“, eine auf die Täufer zurückgehende protestantische Glaubensgemeinschaft, lehnen technischen Fortschritt weitgehend ab und wirken mit ihrer rückwärtsgewandten Lebensweise wie aus der Zeit gefallen. Uns gefällt der Kontrast und das friedliche Zusammenleben der Menschen und wir sind erstaunt, als wir in einem Amish-Lädchen einkaufen. Die Amish sind neben ihren Schreinerkünsten (für Gartenmöbel und Ähnliches) vor allem für ihre qualitativen Lebensmittel bekannt. Ein weiterer Grund für uns, hier Halt zu machen. Auf der Veranda des Häuschens laden massive Schaukelstühle zum Rasten ein, im Garten daneben springen drei Mädchen mit Häubchen und Leinenkleidern auf einem Trampolin und drinnen im Laden warten alle nötigen Utensilien, um endlich unseren heißersehnten Kaiserschmarren kochen zu können. Allerdings stellen wir schnell fest, dass auch die Amischen nicht auf chemische Düngemittel verzichten und hier nichts bio ist. Wirklich erstaunt sind wir aber über die, mehr oder weniger, gemeinsame Sprache. „Ihr kommt aus Österreich?“, fragt uns der bärtige Verkäufer, der etwa unser Alter hat und erklärt: „Na, dann können wir ja Deutsch reden.“ Das klingt allerdings leichter, als es ist. Während Flo anscheinend ein Amish-Gen in sich trägt und das über Jahrhunderte von unserem Deutsch getrennte und veränderte Deitsch der Amischen mehr oder weniger entschlüsseln kann, verstehe ich nur Bahnhof.

Nun sind wir nur noch eine Kutschenfahrt von Illinois entfernt und fahren mit einer Packtasche voll frischer Lebensmittel zufrieden gen Westen.