Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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Der Fürst antwortete nicht; sie schwiegen wieder ungefähr eine Minute lang.



»Ich liebe Gawrila Ardalionowitsch ...«, sagte sie hastig, aber kaum hörbar und ließ den Kopf noch tiefer sinken.



»Das ist nicht wahr«, erwiderte der Fürst, ebenfalls beinah flüsternd.



»Dann lüge ich also? Es ist doch wahr, ich habe ihm mein Wort gegeben, vorgestern, auf dieser selben Bank.«



Der Fürst erschrak und dachte einen Augenblick nach.



»Das ist nicht wahr«, sagte er noch einmal in entschiedenem Ton. »Sie haben sich das alles nur ausgedacht.«



»Sehr höflich von Ihnen! Wissen Sie, er hat sich gebessert; er liebt mich mehr als sein Leben. Er hat vor meinen Augen seine Hand verbrannt, nur um mir zu beweisen, daß er mich mehr liebt als sein Leben.«



»Er hat seine Hand verbrannt?«



»Jawohl, seine Hand. Sie mögen es glauben oder nicht, das ist mir ganz gleich.«



Der Fürst schwieg wieder. Aglajas Worte klangen nicht scherzhaft; sie war ärgerlich.



»Wie? Hat er denn eine Kerze hierher mitgebracht, wenn das hier vorgegangen ist? Anders kann ich mir die Sache nicht vorstellen ...«



»Jawohl ... eine Kerze. Was ist daran unwahrscheinlich?«



»Eine bloße ganze Kerze oder eine auf einem Leuchter?«



»Nun ja ... nein ... eine halbe Kerze ... ein Stümpfchen ... eine ganze Kerze ..., das ist ja ganz egal; lassen Sie doch das Gerede ...! Meinetwegen kann er auch Zündhölzer mitgebracht haben! Er zündete die Kerze an und hielt eine ganze halbe Stunde lang den Finger in die Flamme; ist das etwa nicht möglich?«





»Ich habe ihn gestern gesehen; seine Finger sind ganz heil.«



Aglaja brach nun auf einmal ganz wie ein Kind in ein prustendes Gelächter aus.



»Wissen Sie, warum ich eben gelogen habe?« wandte sie sich dann mit der kindlichen Zutraulichkeit an den Fürsten; ihre Lippen zitterten immer noch vor Lachen. »Deswegen: wenn man lügt und dabei in geschickter Weise etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches einflicht, wissen Sie, etwas, was sehr selten ist oder überhaupt nicht vorkommt, dann erscheint die Lüge weit glaubhafter. Das habe ich früher beobachtet. Es ist mir nur deshalb mißglückt, weil ich es nicht richtig verstanden habe ...« Auf einmal machte sie wieder ein finsteres Gesicht, wie wenn ihr etwas einfiele.



»Wenn ich damals«, sagte sie, indem sie sich zu dem Fürsten hinwandte und ihn mit ernster, ja trauriger Miene ansah, »wenn ich Ihnen damals das Gedicht vom ›armen Ritter‹ deklamiert habe, so wollte ich Sie damit zwar für einiges loben, zugleich aber wollte ich auch Ihr Benehmen in gewisser Hinsicht als Torheit hinstellen und Ihnen beweisen, daß ich alles wußte ...«



»Sie sind sehr ungerecht gegen mich und gegen jene unglückliche Frau, von der Sie soeben einen so schrecklichen Ausdruck gebrauchten, Aglaja.«



»Ich habe den Ausdruck deswegen gebraucht, weil ich alles weiß! Ich weiß, daß Sie vor einem halben Jahr vor aller Ohren ihr Ihre Hand antrugen. Unterbrechen Sie mich nicht; Sie sehen, ich führe nur Tatsachen an, ohne eine Kritik daran zu knüpfen. Darauf ist sie mit Rogoschin davongelaufen; dann haben Sie mit ihr in irgendeinem Dorf oder in irgendeiner Stadt zusammen gelebt, und sie ist von Ihnen weggegangen und hat sich zu irgendeinem andern begeben.« (Aglaja errötete stark.) »Dann ist sie wieder zu Rogoschin zurückgekehrt, der sie wie ... wie ein Wahnsinniger liebte. Darauf sind Sie, der Sie ebenfalls ein sehr verständiger Mensch sind, ihr jetzt schleunigst hierher nachgereist, sowie Sie erfahren hatten, daß sie nach Petersburg zurückgekehrt war. Gestern abend haben Sie sich zu ihrem Verteidiger aufgeworfen, und jetzt eben haben Sie von ihr geträumt ... Sie sehen, daß ich alles weiß; Sie sind ja doch um ihretwillen hierher gereist, nicht wahr, um ihretwillen?«



»Ja, um ihretwillen«, antwortete der Fürst leise; er ließ traurig und nachdenklich den Kopf sinken und ahnte nicht, mit was für einem funkelnden Blick Aglaja ihn betrachtete. »Um ihretwillen, nur um zu erfahren ... Ich glaube nicht an ihr Glück mit Rogoschin, obgleich ... kurz, ich weiß nicht, was ich hier für sie tun, wie ich ihr helfen könnte; aber ich bin trotzdem hergekommen.«



Er zuckte zusammen und sah Aglaja an; diese hörte ihm voll Haß zu.



»Wenn Sie hergereist sind, ohne zu wissen, wozu, so lieben Sie sie sehr«, sagte sie schließlich.



»Nein«, versetzte der Fürst, »nein, ich liebe sie nicht. Oh, wenn Sie wüßten, mit welchem Entsetzen ich an jene Zeit zurückdenke, die ich mit ihr verlebte!«



Ein Schauder überlief bei diesen Worten seinen Körper.



»Erzählen Sie mir alles!« sagte Aglaja.



»Es ist nichts darunter, was Sie nicht anhören könnten. Warum ich den Wunsch hegte, gerade Ihnen all dies zu erzählen und einzig und allein Ihnen, das weiß ich nicht; vielleicht weil ich Sie tatsächlich sehr liebte. Diese unglückliche Frau ist fest überzeugt, daß sie das am tiefsten gesunkene, lasterhafteste Wesen der ganzen Welt ist. Oh, reden Sie nicht Übles von ihr, werfen Sie keinen Stein auf sie! Sie hat sich schon selbst mit dem Bewußtsein ihrer unverdienten Schande nur zu sehr gequält! Und was trifft sie denn für eine Schuld, o mein Gott? Oh, alle Augenblicke ruft sie ingrimmig aus, sie bekenne sich nicht schuldig; sie sei das Opfer andrer Leute, das Opfer eines Wüstlings und Bösewichts; aber obgleich sie so redet, ist sie doch die erste, es nicht zu glauben, und ist vielmehr in tiefster Seele davon überzeugt, daß sie selbst daran schuld ist. Sobald ich versuchte, diese ihre düstere Auffassung zu bekämpfen, stieg ihre Seelenpein dermaßen, daß mein Herz, solange ich an diese schreckliche Zeit zurückdenken werde, nie wieder recht fröhlich sein wird. Es ist mir, als hätte ich einen Stich ins Herz bekommen, der nicht aufhört zu bluten. Sie lief von mir weg; wissen Sie, warum? In Wirklichkeit nur, um mir zu beweisen, daß sie ein gemeines Weib sei. Aber das Schrecklichste dabei ist dies: sie wußte vielleicht selbst nicht, daß sie nichts weiter wollte als mir das beweisen, sondern lief weg, weil sie sich innerlich getrieben fühlte, eine schändliche Handlung zu begehen, um sich dann selbst sagen zu können: ›Siehst du, du hast eine neue Schandtat begangen; also bist du ein gemeines Geschöpf!‹ Oh, vielleicht verstehen Sie das nicht, Aglaja! Wissen Sie wohl, daß in diesem steten Bewußtsein der Schande für sie vielleicht ein schrecklicher, unnatürlicher Genuß liegt, eine Art von Rache, die sie an jemand nimmt? Mitunter brachte ich sie dahin, daß sie wieder Licht um sich zu sehen glaubte; aber sofort regte sie sich dann wieder von neuem auf, und das ging so weit, daß sie mich voll Bitterkeit beschuldigte, ich dächte hoch über ihr zu stehen (obgleich mir das nie in den Sinn gekommen war), und mir schließlich, als ich ihr die Ehe anbot, geradezu erklärte, sie verlange von niemand ein hochmütiges Mitleid oder irgendwelche Hilfe oder ein ›zu sich Hinaufheben‹. Sie haben sie gestern gesehen; glauben Sie wirklich, daß sie sich in dieser Gesellschaft glücklich fühlt, daß sie in diesen Kreis hineinpaßt? Sie wissen nicht, wie hochgebildet sie ist, und was sie alles begreifen kann! Sie hat mich manchmal geradezu in Erstaunen versetzt!«



»Haben Sie ihr dort auch solche ... Predigten gehalten?«



»O nein«, fuhr der Fürst nachdenklich fort, ohne den Ton der Frage zu beachten; »ich habe fast immer geschwiegen. Ich wollte oft reden; aber ich wußte manchmal wirklich nicht, was ich sagen sollte. Wissen Sie, in manchen Fällen ist es das beste, wenn man gar nichts sagt. Oh, ich liebte sie; ich liebte sie sehr ... aber dann ... dann ... dann hat sie alles erraten.«



»Was hat sie erraten?«



»Daß ich nur Mitleid mit ihr habe, und daß ich ... sie nicht mehr liebe.«



»Woher wissen Sie, ob sie sich nicht wirklich in jenen ... Gutsbesitzer verliebt hatte, mit dem sie davonging?«



»Nein, das war nicht der Fall; ich weiß alles: sie machte sich nur über ihn lustig.«



»Und hat sie sich niemals über Sie lustig gemacht?«



»N-nein. Sie hat vor Ärger über mich gelacht; oh, sie hat mir damals im Zorn schreckliche Vorwürfe gemacht – und hat selbst furchtbar dabei gelitten! Aber ... dann ... oh, erinnern Sie mich nicht daran, erinnern Sie mich nicht daran!«



Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.



»Wissen Sie wohl, daß sie fast täglich an mich Briefe schreibt?«



»Also das ist wahr!« rief der Fürst in starker Aufregung.



»Ich hatte es gehört, wollte es aber immer noch nicht glauben.«



»Von wem hatten Sie es gehört?« fragte Aglaja, erschrocken zusammenfahrend.



»Rogoschin sagte es mir gestern, nur nicht sehr deutlich.«



»Gestern? Gestern morgen? Wann gestern? Vor dem Konzert oder nachher?«



»Nachher, am Abend, kurz vor Mitternacht.«



»Ah so! Nun, wenn es Rogoschin war ... Aber wissen Sie, was sie mir in diesen Briefen schreibt?«



»Ich werde mich über nichts wundern; sie ist geisteskrank.«



»Da sind die Briefe.« Aglaja zog drei in Kuverts steckende Briefe aus der Tasche und warf sie vor den Fürsten hin. »Schon eine ganze Woche lang redet sie mir zu, bittet und beschwört mich, ich möchte Sie heiraten. Sie ... nun ja, sie ist klug, obwohl sie geisteskrank ist, und Sie sagen ganz richtig, daß sie viel klüger ist als ich ... sie schreibt mir, sie habe sich in mich verliebt; sie suche täglich eine Gelegenheit, mich zu sehen, wenn auch nur von weitem. Sie schreibt mir, Sie liebten mich; sie wisse das, sie habe es schon längst bemerkt, und Sie hätten mit ihr dort von mir gesprochen. Sie will Sie glücklich sehen; sie ist überzeugt, daß nur ich Sie glücklich machen kann ... Sie schreibt so wild ... so sonderbar ... Ich habe die Briefe niemandem gezeigt; ich habe damit auf Sie gewartet; wissen Sie vielleicht, was das alles zu bedeuten hat? Haben Sie keine Vermutung?«

 





»Das ist Irrsinn, ein Beweis ihrer Geisteskrankheit«, sagte der Fürst, und seine Lippen bebten.



»Sie weinen doch nicht?«



»Nein, Aglaja, nein, ich weine nicht«, erwiderte der Fürst, sie anblickend.



»Was soll ich denn dabei tun? Wozu raten Sie mir? Ich darf doch solche Briefe nicht länger annehmen!«



»Oh, unternehmen Sie nichts gegen diese Frau, ich flehe Sie an!« rief der Fürst. »Was haben Sie mit dieser geistigen Dunkelheit zu tun; ich werde alles aufbieten, damit sie nicht mehr an Sie schreibt.«



»Wenn es so steht, dann sind Sie ein herzloser Mensch!« rief Aglaja. »Sehen Sie denn nicht, daß sie nicht in mich verliebt ist, sondern daß sie Sie liebt, einzig und allein Sie? Haben Sie wirklich alle Empfindungen ihrer Seele erkennen können und nur dieses Gefühl nicht bemerkt? Wissen Sie, was hier vorliegt, was diese Briefe bedeuten? Das ist Eifersucht; das ist mehr als Eifersucht! Diese Frau ... glauben Sie etwa, daß sie wirklich Rogoschin heiraten wird, wie sie hier in den Briefen schreibt? Wenn wir uns trauen lassen, wird sie sich am nächsten Tag das Leben nehmen!«



Der Fürst fuhr zusammen; das Herz wollte ihm stillstehen. Aber er blickte Aglaja erstaunt an: es war für ihn eine sonderbare Empfindung zu erkennen, daß dieses Kind schon längst ein Weib war.



»Gott weiß es, Aglaja, daß ich mein Leben opfern würde, um ihr die Ruhe der Seele wiederzugeben und sie glücklich zu machen; aber ... ich kann sie nicht mehr lieben, und sie weiß das!«



»So bringen Sie sich doch zum Opfer; das steht Ihnen ja so gut! Sie sind ja ein so großer Wohltäter. Und sagen Sie nicht ›Aglaja‹, zu mir; Sie haben auch vorhin schon einfach ›Aglaja‹ zu mir gesagt ... Sie müssen ihr zu einem neuen Leben behilflich sein, Sie sind dazu verpflichtet; Sie müssen mit ihr wieder wegreisen, um ihrem Herzen Frieden und Ruhe wiederzugeben. Und Sie lieben sie ja auch!«



»Ich konnte mich nicht in dieser Weise zum Opfer bringen, obgleich ich es einmal gewollt habe und ... vielleicht auch jetzt möchte. Aber ich weiß bestimmt, daß sie mit mir zugrundegehen würde, und deshalb verlasse ich sie. Ich sollte heute um sieben Uhr zu ihr kommen; aber ich werde jetzt vielleicht nicht hingehen. In ihrem Stolz würde sie mir meine Liebe nie verzeihen, und wir würden beide zugrundegehen! Das ist ja unnatürlich; aber hierbei ist eben alles unnatürlich. Sie sagen, daß sie mich liebt; aber ist denn das wirklich Liebe? Kann man denn, wenn man bedenkt, was ich schon gelitten habe, das für wahre Liebe halten? Nein, das ist etwas anderes, aber nicht Liebe!«



»Wie blaß Sie geworden sind!« rief Aglaja erschrocken.



»Das macht nichts; ich habe nur wenig geschlafen; da bin ich schwach geworden, ich ... Wir haben damals in der Tat von Ihnen gesprochen, Aglaja ...«



»Also, das ist wahr? Sie haben es wirklich fertiggebracht, mit ihr von mir zu sprechen? Und ... und wie war es nur möglich, daß Sie mich liebgewonnen hatten, da Sie mich doch erst ein einziges Mal gesehen hatten?«



»Ich weiß nicht, wie es hat geschehen können. In meinem damaligen verdüsterten Seelenzustand träumte mir, ahnte mir vielleicht etwas von einer neuen Morgenröte. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß Sie die erste waren, auf die sich meine Gedanken richteten. Wenn ich Ihnen damals schrieb, ich wisse nicht, wie es zugegangen sei, so war das die Wahrheit. All das war nur ein Hoffnungstraum, der mir infolge meines damaligen Angstzustandes kam ... Ich habe dann angefangen, mich zu beschäftigen, und würde in drei Jahren nicht wieder hergereist sein ...«



»Also sind Sie um ihretwillen hergereist?«



Aglajas Stimme hatte einen zitternden Klang.



»Ja, um ihretwillen.«



Es vergingen etwa zwei Minuten in finsterem Schweigen von beiden Seiten. Aglaja stand von der Bank auf.



»Wenn Sie sagen«, begann sie mit unsicherer Stimme, »wenn Sie selbst glauben, daß diese ... daß diese Frau ... irrsinnig ist, dann gehen mich ihre irrsinnigen Phantasien nichts an ... Ich bitte Sie, Ljow Nikolajewitsch, diese drei Briefe an sich zu nehmen und sie ihr in meinem Namen wieder zuzustellen! Und sagen Sie ihr«, rief Aglaja plötzlich mit erhobener Stimme, »wenn sie sich erdreisten sollte, mir noch einmal auch nur eine Zeile zu schicken, so würde ich mich bei meinem Vater beschweren, und sie würde ins Arbeitshaus gebracht werden ...«



Der Fürst sprang auf und sah Aglaja, ganz erschrocken über ihre plötzliche Wut, an; und auf einmal schien sich ein Nebel vor seinen Augen zu zerteilen ...



»Sie können nicht so fühlen ... das ist nicht wahr!« murmelte er.



»Es ist doch wahr! Es ist doch wahr!« schrie Aglaja, die kaum von sich selbst wußte.



»Was ist wahr? Was soll wahr sein?« ertönte neben ihnen eine ängstliche Stimme.



Vor ihnen stand Lisaweta Prokofjewna.



»Es ist wahr, daß ich Gawrila Ardalionowitsch heiraten werde! Daß ich Gawrila Ardalionowitsch liebe und mit ihm gleich morgen von zu Hause davonlaufen werde!« rief Aglaja ihr heftig zu. »Haben Sie es gehört? Ist Ihre Neugier nun befriedigt? Sind Sie damit einverstanden?« Und sie lief nach Hause.



Lisaweta Prokofjewna hielt den Fürsten zurück. »Nein, lieber Freund«, sagte sie, »geh jetzt nicht weg; tu mir den Gefallen und komm zu mir nach Hause, um mir Aufklärung zu geben ...! Was ist das nur wieder für eine neue Qual! Ich habe auch so schon die ganze Nacht nicht geschlafen.«



Der Fürst ging mit ihr nach Hause.





IX



Als Lisaweta Prokofjewna in ihre Wohnung kam, blieb sie gleich im ersten Zimmer; sie war außerstande weiterzugehen und ließ sich ganz kraftlos auf eine Chaiselongue niedersinken, wobei sie sogar vergaß, den Fürsten zum Platznehmen aufzufordern. Es war dies ein ziemlich großer Saal, mit einem runden Tisch in der Mitte, mit einem Kamin, mit einer Menge Blumen auf Gestellen an den Fenstern, und in der Hinterwand mit einer zweiten Glastür, die nach dem Garten führte. Sogleich kamen Adelaida und Alexandra herein und blickten den Fürsten und ihre Mutter fragend und erstaunt an.



Die jungen Mädchen standen in der Sommerfrische gewöhnlich gegen neun Uhr auf; nur Aglaja hatte es sich in den letzten zwei, drei Tagen angewöhnt, etwas früher aufzustehen und im Garten spazierenzugehen, aber nicht um sieben Uhr, sondern um acht oder noch später. Lisaweta Prokofjewna, die in der Nacht wirklich vor allerlei Sorgen nicht geschlafen hatte, war gegen acht Uhr aufgestanden in der Absicht, Aglaja im Garten aufzusuchen, da sie annahm, daß diese bereits auf sei, hatte sie aber weder im Garten noch in ihrem Schlafzimmer gefunden. Da war sie unruhig geworden und hatte ihre Töchter geweckt. Von dem Dienstmädchen hatten sie dann erfahren, Aglaja Iwanowna sei schon vor sieben Uhr in den Park gegangen. Die jungen Mädchen hatten über die neue Laune ihres romantisch veranlagten Schwesterchens gelächelt und der Mama bemerkt, Aglaja werde es am Ende noch übelnehmen, wenn diese in den Park ginge, um sie zu suchen; sie sitze jetzt gewiß mit einem Buch auf der grünen Bank, von der sie noch vor drei Tagen gesprochen und um derentwillen sie sich beinah mit dem Fürsten Schtsch. gezankt habe, weil dieser an der Lage der Bank nichts Besonderes habe finden können. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und Aglaja bei dem Rendezvous getroffen und die sonderbaren Worte der letzteren gehört hatte, war sie aus diesen Ursachen sehr erschrocken gewesen; aber als sie nun den Fürsten mit nach Hause genommen hatte, tat es ihr in einer Anwandlung von Feigheit leid, daß sie die Sache angefangen hatte; was war denn dabei, wenn Aglaja den Fürsten im Park traf und sich mit ihm unterhielt, selbst wenn es ein vorher verabredetes Rendezvous war?



»Glaube nicht, lieber Freund«, begann sie endlich, Mut fassend, »daß ich dich hierher geschleppt habe, um dich einem Verhör zu unterwerfen ... Nach dem gestrigen Abend hatte ich vielleicht überhaupt für lange Zeit nicht den Wunsch, mit dir zusammenzukommen, mein Bester ...«



Sie stockte ein wenig.



»Aber doch möchten Sie gern wissen, wie es zugegangen ist, daß ich jetzt mit Aglaja Iwanowna zusammen war?« sprach der Fürst ihren Gedanken sehr ruhig zu Ende.



»Nun ja, gewiß möchte ich das gern!« versetzte Lisaweta Prokofjewna auffahrend. »Ich fürchte mich nicht, offen zu reden; denn ich kränke niemand und beabsichtige niemand zu kränken ...«



»Aber ich bitte Sie, von Kränkung kann ja nicht die Rede sein; es ist ja sehr natürlich, daß Sie als Mutter das zu erfahren wünschen. Ich habe mich heute morgen mit Aglaja Iwanowna bei der grünen Bank Punkt sieben Uhr getroffen, und zwar infolge einer gestrigen Aufforderung von ihrer Seite. Sie ließ mich gestern abend durch ein Billett wissen, daß sie mit mir zusammenkommen und mit mir über eine wichtige Angelegenheit sprechen müsse. Wir haben uns demzufolge getroffen und eine ganze Stunde lang über Dinge gesprochen, die ausschließlich Aglaja Iwanowna angehen. Das ist alles.«



»Natürlich wird das alles sein, lieber Freund, ohne allen Zweifel«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna mit würdevoller Miene.



»Sehr gut, Fürst!« sagte Aglaja, die plötzlich ins Zimmer trat. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür, daß Sie auch mich für unfähig gehalten haben, mich durch eine Lüge zu erniedrigen. Haben Sie nun genug gehört, Mama, oder beabsichtigen Sie, das Verhör noch weiter fortzusetzen?«



»Du weißt, daß ich bisher noch nie vor dir habe zu erröten brauchen, obwohl du dich vielleicht darüber freuen würdest«, antwortete Lisaweta Prokofjewna tadelnd. »Lebe wohl, Fürst; verzeih, daß ich dir Umstände gemacht habe! Ich hoffe, du bist nach wie vor von meiner unveränderlichen Hochachtung gegen dich überzeugt.«



Der Fürst verbeugte sich sofort nach beiden Seiten und entfernte sich schweigend. Alexandra und Adelaida lächelten und flüsterten miteinander. Lisaweta Prokofjewna warf ihnen einen strengen Blick zu.



»Wir amüsieren uns nur darüber, Mama«, sagte Adelaida lachend, »daß der Fürst so wundervolle Verbeugungen machte; manchmal ist er plump wie ein Sack und nun auf einmal so gewandt wie ... wie Jewgeni Pawlowitsch.«



»Zartgefühl und Würde lehrt uns das Herz und nicht der Tanzmeister«, versetzte Lisaweta Prokofjewna in Form einer allgemeinen Sentenz, beendete damit das Gespräch und ging in ihr Zimmer hinauf, ohne Aglaja auch nur anzusehen.



Als der Fürst in seine Wohnung zurückkehrte (es war schon gegen neun Uhr), fand er in der Veranda Wjera Lukjanowna und das Dienstmädchen vor. Beide räumten zusammen auf und fegten nach der gestrigen Unordnung aus.



»Gott sei Dank! Wir sind noch gerade vor Ihrer Rückkehr fertig geworden!« sagte Wjera erfreut.



»Guten Morgen; mir ist ein wenig schwindlig; ich habe schlecht geschlafen; ich möchte es jetzt noch ein bißchen nachholen.«



»Hier in der Veranda, wie gestern? Schön! Ich werde allen sagen, daß sie Sie nicht wecken sollen. Papa ist weggegangen.«



Das Dienstmädchen ging hinaus; Wjera war schon im Begriff ihr zu folgen, wendete sich aber noch einmal um und trat mit besorgter Miene an den Fürsten heran.



»Fürst, haben Sie Mitleid mit diesem ... mit diesem Unglücklichen; jagen Sie ihn nicht heute weg!«



»Um keinen Preis werde ich ihn wegjagen; er kann so lange bleiben, wie er selbst will.«



»Er wird jetzt nichts anrichten, und ... verfahren Sie nicht zu streng mit ihm!«



»O nein! Warum sollte ich das tun?«



»Und ... lachen Sie ihn nicht aus; das ist das Allerwichtigste.«



»O, durchaus nicht!«



»Ich bin dumm, daß ich einem Mann wie Sie das erst noch sage«, sagte Wjera errötend. »Aber obwohl Sie müde sind«, fügte sie lachend hinzu, indem sie sich bald umwandte, um fortzugehen, »haben Sie doch in diesem Augenblick so prächtige Augen ... so glückliche Augen.«



»Wirklich glückliche?« fragte der Fürst lebhaft und lachte fröhlich auf.



Aber Wjera, die sonst natürlich und ungeniert wie ein Knabe war, wurde auf einmal verlegen, errötete noch stärker und ging, immer weiterlachend, schnell hinaus.



»Was für ein prächtiges Mädchen ...«, dachte der Fürst, vergaß sie aber im nächsten Augenblick wieder. Er ging in eine Ecke der Veranda, wo eine Chaiselongue mit einem Tischchen davor stand, setzte sich hin, bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß so etwa zehn Minuten lang; dann fuhr er auf einmal eilig und unruhig mit der Hand in die Seitentasche und zog die drei Briefe heraus. Aber die Tür öffnete sich von neuem, und Kolja kam herein. Der Fürst freute sich ordentlich, daß er die Briefe wieder in die Tasche stecken und die Lektüre verschieben mußte.

 



»Na, das war heute nacht eine tolle Geschichte!« sagte Kolja, indem er sich auf die Chaiselongue setzte und wie alle Menschen seines Schlages ohne weiteres zur Sache kam. »Was haben Sie jetzt für ein Urteil über Ippolit? Versagen Sie ihm Ihre Achtung?«



»Warum sollte ich das tun ...? Aber, Kolja, ich bin müde ... Außerdem ist es gar zu traurig, davon wieder anzufangen ... Was macht er aber jetzt?«



»Er schläft und wird noch zwei Stunden fortschlafen. Ich verstehe: Sie haben zu Hause nicht geschlafen, sondern sind im Park umhergewandert ... natürlich, die Aufregung ... wie wäre es auch anders möglich?«



»Woher wissen Sie, daß ich im Park umhergewandert bin und zu Hause nicht geschlafen habe?«



»Wjera hat es mir soeben gesagt. Sie sagte, ich sollte jetzt nicht zu Ihnen hereingehen; aber ich konnte es doch nicht unterlassen; ich bin nur auf ein Augenblickchen gekommen. Ich habe die letzten zwei Stunden am Bett Wache gehalten; jetzt hat mich Kostja Lebedjew abgelöst. Burdowski ist weggegangen. Also legen Sie sich nur hin, Fürst! Gute Nacht ... na, oder guten Tag! Aber wissen Sie, ich bin doch sehr ergriffen!«



»Gewiß ... dieser ganze Vorgang ...«



»Nein, Fürst, nein; was mich so ergriffen hat, war die ›Beichte‹. Namentlich die Stelle, wo er von der Vorsehung und von dem zukünftigen Leben sprach. Das war ein gi-gan-tischer Gedanke!«





Der Fürst sah Kolja freundlich an, der natürlich nur gekommen war, um möglichst bald über den gigantischen Gedanken sprechen zu können.



»Aber die Hauptsache, die Hauptsache ist nicht der Gedanke selbst, sondern daß er unter solchen Um ständen geäußert wurde! Hätte das Voltaire oder Rousseau oder Proudhon geschrieben, so würde ich es gelesen und mir eingeprägt haben; aber es hätte mir nicht in dem Grade imponiert. Aber wenn ein Mensch, der bestimmt weiß, daß er nur noch zehn Minuten zu leben hat, wenn ein solcher Mensch so redet, das ist doch etwas Großartiges! Das ist doch die höchste Unabhängigkeit der eigenen Würde; das stellt doch eine direkte Herausforderung dar ... Nein, das ist eine gigantische Geisteskraft! Bei solcher Lage der Dinge zu behaupten, er hätte absichtlich unterlassen, ein Zündhütchen aufzusetzen, das ist eine Gemeinheit, eine Absurdität! Aber wissen Sie, er hat gestern eine listige Täuschung begangen: ich habe nie mit ihm seinen Koffer gepackt und die Pistole nie gesehen; er hat alles selbst gepackt, so daß ich bei seiner Behauptung zunächst ganz verblüfft war. Wjera sagt, Sie würden ihn hierbehalten; ich stehe dafür, daß keinerlei Gefahr droht, um so weniger, da wir alle bei ihm unausgesetzt Wache halten.«



»Wer von Ihnen ist denn in der Nacht bei ihm gewesen?«



»Ich, Kostja Lebedjew und Burdowski. Keller war eine Weile da und ist dann zu Lebedjew gegangen, um bei dem zu schlafen, weil bei uns nichts war, worauf er hätte liegen können. Ferdyschtschenko hat ebenfalls bei Lebedjew geschlafen und ist um sieben Uhr weggegangen. Der General wohnt dauernd bei Lebedjew; jetzt ist er ebenfalls weggegangen ... Lebedjew wird vielleicht gleich zu Ihnen kommen; er sucht Sie, ich weiß nicht weswegen, und hat schon zweimal nach Ihnen gefragt. Sollen wir ihn hereinlassen oder nicht, wenn Sie sich jetzt schlafen legen wollen? Ich will mich auch hinlegen und schlafen. Ach ja, eines wollte ich Ihnen noch erzählen: ich habe mich vorhin über den General gewundert. Burdowski weckte mich zwischen sechs und sieben oder genauer kurz nach sechs, damit ich die Wache übernähme. Ich ging für einen Augenblick hinaus und stieß plötzlich auf den General, der noch so betrunken war, daß er mich nicht erkannte; er stand wie ein Holzpfahl vor mir. Als er dann seine Gedanken einigermaßen gesammelt hatte, fuhr er ordentlich auf mich los mit der Frage: ›Was macht der Kranke? Ich bin hergekommen, um mich nach dem Kranken zu erkundigen ...‹ Ich berichtete ihm dies und das. ›Das ist ja schön‹, sagte er; ›aber ich bin hauptsächlich hergekommen und deswegen aufgestanden, um dich zu warnen; ich habe Grund zu der Vermutung, daß man in Herrn Ferdyschtschenkos Gegenwart nicht alles sagen darf und ... sich vor ihm hüten muß.‹ Können Sie das verstehen, Fürst?«



»Eigentümlich; übrige