Der Jüngling

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Der Jüngling
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Der Jüngling

Der Jüngling

© 1868 Fjodor M. Dostojewski

Aus dem Russischen von Hermann Röhl

erstmals veröffentlicht 1915

Umschlagbild: Fjodor M. Dostojewski

© Lunata Berlin 2019

Inhalt

Erster Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Dritter Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Über den Autor

Erster Teil

Erstes Kapitel

Ich habe dem Drange nicht widerstehen können, mich hinzusetzen und diese Geschichte meiner ersten Schritte auf der Lebensbahn aufzuzeichnen, obwohl es eigentlich nicht nötig wäre. Aber eines weiß ich ganz genau: um meine ganze Lebensgeschichte zu schreiben, werde ich mich niemals mehr hinsetzen, und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte. Man muß doch gar zu sehr in sich selbst verliebt sein, um von sich selbst zu schreiben, ohne sich zu schämen. Ich entschuldige mich nur damit, daß ich nicht in der Absicht schreibe, in der es alle anderen tun, nämlich um vom Leser gelobt zu werden. Wenn ich mich plötzlich dazu entschlossen habe, alles, was mir im letzten Jahr begegnet ist, eingehend niederzuschreiben, so habe ich es infolge eines inneren Bedürfnisses getan: einen so starken Eindruck hat alles Geschehene auf mich gemacht. Ich werde nur die Ereignisse verzeichnen und alles fremde Beiwerk, namentlich schriftstellerische Finessen, möglichst vermeiden; so ein Schriftsteller schreibt dreißig Jahre lang und weiß zuletzt gar nicht, wozu er eigentlich so lange geschrieben hat. Ich aber bin kein Schriftsteller und will kein Schriftsteller sein, und ich würde es für eine Unschicklichkeit und für eine Gemeinheit halten, wenn ich das Innerste meiner Seele und meine besten Empfindungen auf den Büchermarkt schleppte. Zu meinem Verdruß ahnt mir aber, daß es doch wohl nicht ganz ohne Schilderung von Empfindungen und ohne Reflexionen (vielleicht sogar von trivialer Art) abgehen wird: so sittenverderbend wirkt auf den Menschen eine jede literarische Tätigkeit, auch wenn er sie nur für sich ausübt. Die Reflexionen aber werden vielleicht sogar einen sehr trivialen Eindruck machen, weil das, was man selbst für wertvoll hält, in den Augen eines Fremden leicht wertlos erscheint. Aber lassen wir das alles abgetan sein! Nun habe ich doch eine Vorrede geschrieben; weiter soll aber nichts mehr in diesem Genre vorkommen. Zur Sache also, obgleich nichts schwieriger ist, als zur Sache zu kommen – vielleicht auf allen Gebieten.

Ich fange an, das heißt, ich möchte meine Aufzeichnungen mit dem 19. September vorigen Jahres beginnen, also genau an dem Tag meiner ersten Begegnung mit ...

Aber wenn ich so gerade damit herauskäme, wem ich begegnete, ehe noch jemand irgend etwas weiß, so würde das abgeschmackt sein; ich glaube sogar, daß dieser ganze Ton abgeschmackt ist: obwohl ich mir fest vorgenommen, habe, nicht nach literarischen Finessen zu trachten, bin ich doch von der ersten Zeile an in dieses Fahrwasser hineingeraten. Außerdem ist, wie es scheint, zum vernünftig Schreiben der bloße Wunsch, es zu tun, noch nicht ausreichend. Ich bemerke ferner, daß es sich wohl in keiner europäischen Sprache so schwer schreibt wie im Russischen. Ich habe das, was ich hier soeben niedergeschrieben habe, jetzt noch einmal durchgelesen und finde, daß ich weit klüger bin, als ich in dem Geschriebenen erscheine. Woher kommt es, daß bei einem klugen Menschen das, was er sagt, weit dümmer ist als das, was unausgesprochen in ihm zurückbleibt? Ich habe das während dieses ganzen verhängnisvollen letzten Jahres an mir auch beim mündlichen Umgang mit anderen zu wiederholten Malen bemerkt und mich sehr darüber geärgert.

Obgleich ich mit dem 19. September beginnen will, möchte ich doch erst ein paar Worte darüber hersetzen, wer ich bin, wo ich vorher gelebt hatte und wie es somit an jenem Vormittag des 19. September in meinem Kopf teilweise aussah, damit die nachfolgenden Ereignisse dem Leser und vielleicht auch mir selbst verständlicher sind.

Ich habe das Gymnasium absolviert und stehe jetzt schon im einundzwanzigsten Lebensjahr. Mein Familienname ist Dolgorukij, und mein legitimer Vater ist Makar Iwanow Dolgorukij, ein ehemaliger Leibeigener der Herrschaft Wersilow. Auf diese Weise bin ich in legitimer Ehe geboren, obwohl ich ein entschieden illegitimer Sohn bin und meine Herkunft nicht dem geringsten Zweifel unterliegt. Das ging folgendermaßen zu:

Vor zweiundzwanzig Jahren besuchte der Gutsbesitzer Wersilow (das nämlich ist mein Vater), der damals fünfundzwanzig Jahre alt war, sein Gut im Gouvernement Tula. Ich vermute, daß er zu jener Zeit noch sehr charakterlos war. Es ist merkwürdig, daß dieser Mann, der seit meiner frühesten Kindheit einen solchen Eindruck auf mich gemacht und einen so gewaltigen Einfluß auf meine ganze seelische Entwicklung ausgeübt hat und vielleicht durch seine Persönlichkeit noch auf lange Zeit hinaus für meine Zukunft bestimmend gewesen ist, daß dieser Mann auch jetzt noch in sehr vieler Hinsicht für mich ein vollständiges Rätsel geblieben ist. Aber davon später. Das läßt sich nicht so von vornherein erzählen. Von diesem Mann werde ich ohnehin in meinem Heft fortwährend zu reden haben.

Er war damals, das heißt im Alter von fünfundzwanzig Jahren, gerade Witwer geworden. Er war mit einer Frau verheiratet gewesen, die zwar den höchsten Gesellschaftskreisen angehörte, aber nicht sehr reich war, einer geborenen Fanariotowa, und hatte von ihr einen Sohn und eine Tochter. Meine Nachrichten über diese so früh von ihm gegangene Gattin sind nur sehr unvollständig und in meinem Material nicht so ohne weiteres zu finden, und auch vieles von Wersilows privaten Lebensverhältnissen ist mir unbekannt geblieben, so stolz, hochmütig, verschlossen und geringschätzig benahm er sich fast immer gegen mich, obgleich er mich zuzeiten durch sein sozusagen demütiges Wesen mir gegenüber in Erstaunen versetzte. Ich erwähne jedoch zur Charakterisierung im voraus, daß er im Laufe seines Lebens drei Vermögen durchgebracht hat und sogar sehr beträchtliche, im ganzen über vierhunderttausend Rubel und vielleicht noch mehr. Jetzt besitzt er natürlich nicht eine Kopeke...

Er kam damals, Gott weiß warum, auf sein Gut, wenigstens drückte er sich mir gegenüber in der Folgezeit so aus. Seine kleinen Kinder hatte er, wie das so seine Gewohnheit war, nicht bei sich, sondern zu Verwandten gebracht; so behandelte er seine Kinder sein ganzes Leben lang, sowohl die legitimen als auch die illegitimen. Das Gesinde auf diesem Gut war sehr zahlreich; darunter befand sich auch der Gärtner Makar Iwanow Dolgorukij. Ich möchte hier einfügen, um es ein für allemal abzutun: selten hat sich wohl jemand über seinen Familiennamen so geärgert, wie ich es mein ganzes Leben lang getan habe. Das war natürlich dumm von mir, aber ich tat es doch. Jedesmal, wenn ich in eine Schule eintrat oder mit Leuten zusammenkam, denen zu antworten, ich nach meinem Lebensalter verpflichtet war, wiederholte sich dasselbe: jeder Lehrer, jeder Erzieher, jeder Inspektor, jeder Pope, jeder, den man sich nur denken kann, hielt es, nachdem er nach meinem Familiennamen gefragt und gehört hatte, daß ich Dolgorukij heiße, für nötig hinzuzufügen:

 

»Fürst Dolgorukij?«

Und jedesmal mußte ich all diesen müßigen Fragern antworten:

»Nein, einfach Dolgorukij.«

Dieses einfach brachte mich schließlich beinahe um den Verstand. Ich bemerke dabei als Kuriosität, daß ich mich an keine einzige Ausnahme erinnere: alle stellten sie jene Frage. Manchen war die Sache offenbar ganz egal, und ich weiß auch in der Tat nicht, was für ein Interesse jemand daran haben konnte. Aber alle fragten sie so, alle ohne Ausnahme. Und wenn der Frager dann gehört hatte, daß ich einfach Dolgorukij sei, maß er mich gewöhnlich mit einem stumpfen, gleichgültigen Blick, welcher bekundete, daß er selbst nicht wußte, warum er gefragt hatte, und ging weg. Am beleidigendsten waren derartige Fragen von seiten der Schulkameraden. Denn wie geht es dabei zu, wenn ein Schüler einen Neuen befragt? Der ängstliche, verlegene Neue ist am ersten Tag seines Eintritts in die Schule (was für eine es auch sein mag) das allgemeine Opfer: man befiehlt ihm dies und jenes, hänselt ihn und behandelt ihn wie einen Bedienten. Da stellt sich so ein gesunder, wohlgenährter Bengel gerade vor sein Opfer hin und mustert dieses eine Weile mit strengem, hochmütigem Blick. Der Neue steht schweigend vor ihm da, sieht ihn, wenn er nicht feige ist, von der Seite an und wartet, was da kommen wird.

»Wie heißt du mit Familiennamen?«

»Dolgorukij.«

»Fürst Dolgorukij?«

»Nein, einfach Dolgorukij.«

»Soso, einfach Dolgorukij! Du Schafskopf!«

Und er hat recht: es kann nichts Dümmeres geben, als Dolgorukij zu heißen, ohne Fürst zu sein. Diese Dummheit schleppe ich ohne Schuld mit mir herum. In späterer Zeit, als ich schon anfing, mich sehr darüber zu ärgern, gab ich auf die Frage: »Bist du Fürst?« immer zur Antwort: »Nein, ich bin der Sohn eines Gutsknechts, eines ehemaligen Leibeigenen.«

Und später, als meine Wut schon den höchsten Grad erreicht hatte, antwortete ich auf die Frage: »Sind Sie Fürst?« in festem Ton: »Nein, einfach Dolgorukij, der illegitime Sohn meines ehemaligen Gutsherrn, des Herrn Wersilow.«

Ich hatte mir diese Antwort schon in der sechsten Klasse des Gymnasiums ausgedacht, und obwohl ich bald zu der festen Überzeugung gelangte, daß sie dumm war, hörte ich doch nicht gleich damit auf. Ich erinnere mich, daß ein Lehrer - übrigens war er der einzige - fand, ich sei »von rachsüchtigen, freiheitlichen Ideen erfüllt«. Im allgemeinen aber wurde diese schroffe Antwort mit einer für mich beleidigenden Nachdenklichkeit aufgenommen. Schließlich sagte ein mit einer besonders scharfen Zunge begabter Mitschüler, mit dem ich etwa nur einmal im Jahr ein Gespräch führte, zu mir mit erregter Miene, aber ein wenig zur Seite blickend:

»Solche Gefühle machen Ihnen natürlich Ehre, und Sie haben ohne Zweifel allen Grund, darauf stolz zu sein; aber an Ihrer Stelle würde ich mich doch meiner illegitimen Herkunft nicht zu sehr rühmen... aber Sie setzen dabei ja geradezu ein Gesicht auf, als ob Sie Namenstag feierten!«

Seitdem hörte ich auf, mich dessen zu rühmen, daß ich illegitim bin.

Ich wiederhole: es ist sehr schwer, russisch zu schreiben: da habe ich nun ganze drei Seiten darüber vollgeschrieben, wie ich mich lebenslänglich über meinen Familiennamen geärgert habe, und dabei ist der Leser sicherlich, schon zu der Schlußfolgerung gelangt, ich sei eben darüber ärgerlich, daß ich kein Fürst, sondern einfach Dolgorukij bin. Mich darüber noch einmal zu äußern und mich zu rechtfertigen, würde unter meiner Würde sein.

Unter diesem zahlreichen Gutsgesinde also war auch ein Mädchen, und dieses war eben achtzehn Jahre alt, als der fünfzigjährige Makar Dolgorukij auf einmal die Absicht aussprach, es zu heiraten. Ehen des Gutsgesindes wurden zur Zeit der Leibeigenschaft bekanntlich nur mit Erlaubnis der Herrschaft geschlossen und manchmal geradezu auf Anordnung derselben. In der Nähe des Gutes wohnte damals die Tante; das heißt, sie war nicht meine Tante, sondern selbst Gutsbesitzerin; aber ich weiß nicht, warum – nicht nur ich, alle nannten sie lebenslänglich die Tante, ganz allgemein die Tante, und so wurde sie auch in der Familie Wersilow genannt, mit der sie in Wirklichkeit kaum verwandt war. Es war dies Tatjana Pawlowna Prutkowa. Damals besaß sie noch selbst in jenem Gouvernement und Kreis fünfunddreißig Seelen. Sie verwaltete nicht eigentlich das etwa fünfhundert Seelen umfassende Gut Wersilows, sondern führte nur als Nachbarin die Aufsicht, und diese Aufsicht war, wie ich gehört habe, nicht schlechter als die eines gelernten Verwalters. Übrigens gehen mich ihre geschäftlichen Kenntnisse hier nichts an; ich will nur hinzufügen – und ich weise dabei jeden Gedanken an Schmeichelei und Gunstbuhlerei zurück –, daß diese Tatjana Pawlowna ein edeldenkendes und sogar ein originelles Wesen war.

Und gerade sie stand den Heiratsabsichten des finsteren Makar Dolgorukij (er soll damals ein finsteres Wesen gehabt haben) nicht nur nicht entgegen, sondern redete ihm vielmehr dabei aus irgendeinem Grund noch außerordentlich zu. Sofja Andrejewna (die achtzehnjährige Gutsmagd, also meine Mutter) war schon seit einigen Jahren elternlos; ihr verstorbener Vater, ebenfalls Gutsknecht, welcher Makar Dolgorukij sehr hochschätzte und ihm irgendwie zu Dank verpflichtet war, hatte, wie man erzählte, sechs Jahre vorher auf seinem Totenbett, eine Viertelstunde vor seinem letzten Atemzug, so daß man es nötigenfalls als Irrereden hätte auffassen können, wenn er nicht ohnedies als Leibeigener rechtsunfähig gewesen wäre, Makar Dolgorukij zu sich rufen lassen und vor dem ganzen Gesinde und in Gegenwart des Geistlichen, indem er auf seine Tochter wies, laut und in eindringlichem Ton zu ihm gesagt: »Zieh sie auf und heirate sie!« Das hatten alle gehört. Was Makar Iwanow anlangt, so weiß ich nicht, in welcher Gesinnung er sie später heiratete, das heißt, ob mit großem Vergnügen oder nur, um damit eine Pflicht zu erfüllen. Das wahrscheinlichste ist, daß er den Eindruck völliger Gleichgültigkeit machte. Er war ein Mensch, der es schon damals verstand, sich zu »präsentieren«. Nicht, daß er ein großer Bibelkenner oder besonders belesen gewesen wäre (obgleich er die ganze Ordnung des Gottesdienstes auswendig kannte und namentlich mit den Lebensbeschreibungen mehrerer Heiligen Bescheid wußte, allerdings mehr vom Hörensagen); auch nicht, daß er so eine Art Klugschwätzer unter dem Gesinde gewesen wäre, sondern er legte einfach eine große Hartnäckigkeit, manchmal sogar Wagemut an den Tag, redete mit Selbstbewußtsein, nahm sein Urteil nie zurück und führte schließlich »einen achtungsvollen Lebenswandel«, wie er sich selbst wunderlicherweise ausdrückte. Von der Art war damals sein Wesen. Natürlich hatte er sich allgemeine Achtung erworben, aber doch konnte ihn, wie gesagt wird, niemand leiden. Das änderte sich, als er von dem Gesinde weggegangen war: nun erinnerte man sich seiner wie eines Heiligen, der viel zu leiden gehabt hatte. Das ist mir zuverlässig bekannt.

Was den Charakter meiner Mutter anlangt, so hatte Tatjana Pawlowna sie bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr bei sich behalten, trotz der dringenden Ratschläge des Verwalters, sie nach Moskau in die Lehre zu geben, und hatte ihr eine gewisse Bildung zukommen lassen, das heißt, sie im Nähen, im Zuschneiden, in anständigem, mädchenhaftem Benehmen und sogar ein wenig im Lesen unterwiesen. Zu schreiben hat meine Mutter niemals leidlich verstanden. In ihren Augen war die Ehe mit Makar Iwanow schon längst abgemachte Sache, und sie fand, daß alles, was damals mit ihr geschah, sehr gut und vortrefflich sei; zum Traualtar ging sie mit der ruhigsten Miene, die man in solchen Fällen überhaupt nur haben kann, so daß Tatjana Pawlowna selbst sie damals einen Fisch nannte. Alles dies über den damaligen Charakter meiner Mutter habe ich von Tatjana Pawlowna selbst gehört. Wersilow kam auf das Gut gerade ein halbes Jahr nach dieser Eheschließung.

Ich will nur sagen, daß ich niemals habe in Erfahrung bringen oder in befriedigender Weise kombinieren können, wie eigentlich das Verhältnis zwischen ihm und meiner Mutter begonnen hat. Ich bin durchaus bereit zu glauben, was er mir im vorigen Jahr versichert hat, und zwar unter starkem Erröten, obwohl er über alle diese Dinge mit der ungezwungenen Miene des »geistig hochstehenden« Mannes sprach: daß eine Liebschaft überhaupt nicht stattgefunden habe und alles sich so gemacht habe. Ich glaube durchaus, daß es sich so gemacht hat, und der russische Ausdruck »so« ist ein allerliebster Ausdruck, aber dennoch hätte ich immer gern gewußt, aus welchen Anfängen sich dieses Verhältnis der beiden hat herausbilden können. Ich selbst habe alle diese Gemeinheiten bisher gehaßt und werde sie lebenslänglich hassen. Das Motiv meiner Wißbegierde ist in der Tat durchaus nicht etwa schamlose Neugier. Ich bemerke noch, daß ich meine Mutter bis zum vorigen Jahr fast gar nicht gekannt habe; ich wurde zu Wersilows größerer Bequemlichkeit, wovon ich übrigens später noch sprechen werde, schon in meiner frühen Kindheit zu fremden Leuten gegeben, und daher kann ich mir gar keine Vorstellung machen, wie sie damals ausgesehen haben mag. Wenn sie nun gar nicht so besonders schön gewesen ist, wodurch konnte sich dann ein solcher Mensch, wie es Wersilow damals war, zu ihr hingezogen fühlen? Diese Frage ist für mich insofern von Wichtigkeit, als sich dieser Mensch dabei von einer sehr interessanten Seite präsentiert. Deswegen also werfe ich die Frage auf, und nicht aus moralischer Verderbtheit. Er selbst, dieser finstere, verschlossene Mensch, sagte mir einmal mit jener liebenswürdigen Treuherzigkeit, die er, sobald er es für nötig hielt, Gott weiß woher nahm (es war, als zöge er sie aus der Tasche), er selbst hat mir gesagt, er sei damals noch ein »sehr dummer junger Hund« gewesen, und zwar nicht eigentlich mit sentimentalem Einschlag, sondern einfach so; er hätte damals eben erst »Anton Goremyka« und »Polinka Sachs« gelesen, zwei Literaturprodukte, die auf die damals heranwachsende Generation eine außerordentlich erzieherische Wirkung ausgeübt hätten. Er fügte hinzu, er sei vielleicht gerade infolge der Lektüre des »Antton Goremyka« damals auf sein Gut gefahren, und sagte das in vollem Ernst. In welcher Art mochte dieser »dumme junge Hund« mit meiner Mutter angeknüpft haben? Ich habe mir soeben lebhaft vorgestellt, daß, wenn ich auch nur einen einzigen Leser haben sollte, dieser gewiß über mich lacht als über einen ganz komischen jungen Menschen, der sich seine dumme Unschuld bewahrt hat und sich auf Reflexionen und Urteile über Dinge einläßt, von denen er nichts versteht. Ja, ich verstehe in der Tat noch nichts davon, bekenne das aber ganz und gar nicht mit einem Gefühl des Stolzes, da ich weiß, wie dumm sich eine solche Unerfahrenheit bei einem zwanzigjährigen Schlaps ausnimmt. Nur möchte ich diesem Leser sagen, daß er selbst nichts versteht und ich ihm das beweisen kann. Allerdings weiß ich nichts von den Weibern und will auch nichts von ihnen wissen, weil ich zeit meines Lebens auf sie pfeifen werde und mir das fest vorgenommen habe. Aber ich weiß doch sicher, daß manche Frau den Mann durch ihre Schönheit oder durch sonst etwas in einem Augenblick bezaubert, während man eine andere ein halbes Jahr lang studieren muß, ehe man erkennt, was an ihr ist, und daß, um eine solche Frau zu durchschauen und liebzugewinnen, es nicht ausreicht, sehen zu können und einfach zu allem bereit zu sein, sondern man außerdem auch noch einer besonderen Begabung bedarf. Davon bin ich überzeugt, obwohl ich nichts weiß, und wenn das Gegenteil der Fall wäre, so müßte man alle Frauen mit einemmal auf die Stufe gewöhnlicher Haustiere hinabdrücken und sie nur in dieser Stellung bei sich halten; vielleicht würden das viele sehr gern tun.

Ich weiß durch Mitteilungen von verschiedenen Seiten her positiv, daß meine Mutter keine Schönheit war, obgleich ich ein damals angefertigtes Porträt von ihr, das irgendwo existiert, nicht gesehen habe. Sich auf den ersten Blick in sie zu verlieben, war also nicht möglich. Zum Zweck eines bloßen Amüsements könnte sich Wersilow eine andere aussuchen, und eine solche war da, noch dazu eine unverheiratete, nämlich das Stubenmädchen Antissa Konstantinowna Saposhkowa. Ein Mensch aber, der mit dem Anton Goremyka im Kopf auf sein Gut kam und der dann auf Grund seines Rechts als Gutsherr die Heiligkeit der Ehe von auch nur einem einzigen Leibeigenen verletzte, der hätte sich doch stark vor sich selbst schämen müssen, denn ich wiederhole es: von diesem Anton Goremyka hat er noch vor einigen Monaten, also zwanzig Jahre nach jenen Ereignissen, in durchaus ernstem Ton gesprochen. Und diesem Anton wurde ja nur ein Pferd weggenommen, hier aber die Ehefrau! Es muß also etwas Besonderes stattgefunden haben, weswegen denn auch Mademoiselle Saposhkowa das Spiel verlor (meiner Ansicht nach war es für sie ein Gewinn). Ich habe ihm im vorigen Jahr mit all diesen Fragen ein paarmal zugesetzt, sobald es möglich war, mit ihm ein Gespräch zu führen (denn das war nicht immer möglich), und habe bemerkt, daß er trotz seiner weltmännischen Haltung und obwohl er zwanzig Jahre älter ist als ich, doch Ausflüchte machte. Aber ich ließ nicht locker, und wenigstens murmelte er einmal mit jener Miene vornehmer Geringschätzung, die er sich oft mir gegenüber . erlaubte, einen sonderbaren Gedanken vor sich hin: meine Mutter sei eine jener Schutzlosen gewesen, die man nicht eigentlich liebgewinne – im Gegenteil, durchaus nicht –, sondern gewissermaßen bedaure; ob wegen ihrer Demut oder weshalb sonst, das wisse nie jemand; aber dieses Bedauern halte länger an, und man fühle sich dadurch gebunden ... »Mit einem Wort, mein Lieber, die Sache gestaltet sich manchmal so, daß man nicht wieder loskommt.« Das hat er zu mir gesagt, und wenn es tatsächlich so zugegangen ist, so kann ich nicht glauben, daß er damals ein so dummer junger Hund gewesen ist, wie er zu jener Zeit gewesen zu sein angibt. Das mußte ich doch aussprechen.

 

Übrigens versicherte er mir bei demselben Gespräch, meine Mutter habe ihn aus »Unterwürfigkeit« geliebt: es fehlte nur noch, daß er behauptete, sie habe es gemäß ihrer Pflicht als Leibeigene getan! Er hat gelogen, um der Sache ein schönes Mäntelchen umzuhängen, gelogen gegen sein Gewissen und gegen Ehre und Anstand!

Alles dies habe ich natürlich zum Lob meiner Mutter gesagt, jedoch habe ich bereits erklärt, daß ich von ihrem damaligen Wesen gar keine Kenntnis habe. Wohl aber kenne ich die in ihrer Umgebung herrschenden strengen Anschauungen, in denen sie von klein auf heranwuchs und dann ihr ganzes Leben über verharrte. Und trotzdem geschah das Unglück. Bei dieser Gelegenheit muß ich mich korrigieren: ich bin in die Wolken hinauf geflogen und habe vergessen, eine Tatsache zu berichten, die ich vielmehr hätte ganz an die Spitze stellen sollen: nämlich die Sache begann bei ihnen geradeswegs mit dem Unglück. (Ich hoffe, der Leser wird sich nicht so anstellen, als verstände er nicht sogleich, wovon ich rede.) Kurz, es begann bei ihnen ganz in gutsherrlicher Manier, obwohl Mademoiselle Saposhkowa übergangen war. Aber hier will ich mich verteidigen und von vornherein bemerken, daß ich mir ganz und gar nicht widerspreche. Denn wovon in aller Welt konnte damals ein solcher Mensch wie Wersilow mit einer solchen Person wie meiner Mutter reden, sogar im Fall unbändiger Liebe? Liederliche Menschen haben mir gesagt, daß der Mann, wenn er mit einer Frau zusammenkommt, sehr oft völlig stillschweigend beginnt, was natürlich der Gipfel der Ungeheuerlichkeit und Ekelhaftigkeit ist; dennoch hätte Wersilow, auch wenn er es gewollt hätte, mit meiner Mutter wohl nicht anders anfangen können. Konnte er etwa damit beginnen, ihr Polinka Sachs zu erklären? Und überdies wird der Sinn der beiden wohl gar nicht auf die russische Literatur gerichtet gewesen sein; vielmehr haben sie nach seiner eigenen Mitteilung (er redete einmal etwas offener) sich in den Winkeln versteckt, einander auf den Treppen erwartet und sind wie Bälle mit roten Gesichtern auseinandergefahren, wenn jemand vorbeikam, und der »despotische Gutsbesitzer« hat vor der niedrigsten Scheuermagd gezittert, trotz all seiner Rechte den Leibeigenen gegenüber. Aber wenn das Verhältnis auch in der bei Gutsherren üblichen Art begonnen hatte, so gestaltete es sich doch nachher ganz anders, und es läßt sich dafür im Grunde keine Erklärung geben. Die Sache erscheint einem sogar immer dunkler. Schon allein die zeitliche Ausdehnung, die die Liebe der beiden gewonnen hat, bildet ein Rätsel, denn die erste Voraussetzung bei solchen Menschen wie Wersilow ist doch die, daß sie das betreffende Weib sofort wieder verlassen können, sobald das Ziel erreicht ist. Aber hier kam es anders. Mit einer hübschen, leichtfertigen Gutsmagd zu sündigen (aber meine Mutter war nicht leichtfertig), das war für einen liederlichen »jungen Hund« (und sie waren alle liederlich, alle ohne Ausnahme, sowohl die Fortschrittler als auch die Reaktionäre) nicht nur etwas Erlaubtes, sondern geradezu ein Ding der Notwendigkeit, besonders in Anbetracht seiner romantischen Stellung als junger Witwer und seines müßiggängerischen Lebens. Aber sich für das ganze Leben zu verlieben, das war denn doch ein starkes Stück. Daß er sie wirklich so lange geliebt hat, dafür kann ich mich nicht verbürgen, aber daß er sie sein ganzes Leben lang mit sich herumschleppte, ist sicher.

Ich habe zwar nach vielem gefragt, aber ich muß bemerken, daß ich eine Frage, die wichtigste, nicht gewagt habe, meiner Mutter geradezu vorzulegen, obwohl ich ihr im vorigen Jahre so nahe gekommen bin und überdies als plumper, undankbarer junger Hund, in der Meinung, meine Eltern hätten mir gegenüber eine Schuld auf sich geladen, mit ihr nicht die geringsten Umstände machte. Die Frage war folgende: wie hatte sie, die schon ein halbes Jahr lang verheiratet war und noch ganz, gleich einer kraftlosen Fliege, im Banne der Vorstellungen von der Heiligkeit der Ehe stand, sie, die ihren Makar Iwanowitsch wie einen Gott verehrte, wie hatte sie in ganzen vierzehn Tagen sich bis zu einer solchen Sünde verlieren können? Meine Mutter war ja doch kein liederliches Frauenzimmer! Vielmehr will ich jetzt gleich vorausschicken, daß man sich eine reinere Seele, als sie auch nachher lebenslänglich gewesen ist, nur schwer vorstellen kann. Erklären kann man sich ihr Verhalten vielleicht damit, daß sie ohne Besinnung gehandelt hat, das heißt, nicht in dem Sinne, wie es heutzutage die Advokaten von ihren Mördern und Dieben behaupten, sondern unter der Einwirkung jenes starken Gefühls, das bei einer gewissen Herzenseinfalt des Opfers in verhängnisvoller, tragischer Weise zur Herrschaft gelangt. Wie kann man es wissen; vielleicht hat sie sich sterblich verliebt in... die Fasson seines Rockes, in seinen Pariser Scheitel, in seine französische Aussprache, obwohl sie von dieser Sprache keine Silbe verstand, in eine Romanze, die er zum Klavier sang, in irgend etwas, was sie noch nie gesehen und gehört hatte (und er hatte ein sehr schönes Äußeres), und sich dann gleichzeitig bis zur Bewußtlosigkeit in den ganzen Menschen verliebt mitsamt der Rockfasson und den Romanzen. Ich habe mir sagen lassen, daß das mit den Gutsmädchen zur Zeit der Leibeigenschaft manchmal vorgekommen ist, und gerade mit den anständigsten. Ich habe dafür Verständnis, und ein Schuft ist, wer das einzig aus der Leibeigenschaft und der »Unterwürfigkeit« erklären will! Also ist es doch möglich, daß dieser junge Mensch genug Verführerisches an sich hatte, um ein bis dahin so reines Wesen, und vor allen Dingen ein Wesen, das so ganz anders geartet war als er und aus einer ganz anderen Welt, einem ganz anderen Boden stammte, zu bezaubern und ins offene Verderben zu reißen. Denn daß sie ins Verderben gerissen war, das hat meine Mutter, wie ich hoffe, ihr lebelang eingesehen; nur als sie jenen Schritt tat, wird sie gar nicht an das Verderben gedacht haben; aber so geht es immer mit diesen »Schutzlosen«: sie wissen, daß es ihr Verderben ist, und springen doch hinein.

Nachdem die beiden ihre Sünde begangen hatten, beichteten sie sie sogleich. Er hat mir in geistvoller Art erzählt, daß er an der Schulter von Makar Iwanowitsch, den er eigens aus diesem Anlaß zu sich auf sein Zimmer habe kommen lassen, geschluchzt habe, und sie – sie lag in diesem Augenblick halb bewußtlos in ihrer ärmlichen Kammer...

Aber genug von solchen Fragen und häßlichen Einzelheiten! Nachdem Wersilow meine Mutter von Makar Iwanow losgekauft hatte, fuhr er alsbald weg und schleppte sie seitdem, wie ich schon oben geschrieben habe, beinahe überall mit sich herum, mit Ausnahme der Fälle, wo er für längere Zeit wegreiste; dann überließ er sie meistens der Obhut der Tante, das heißt der oben erwähnten Tatjana Pawlowna Prutkowa, die sich in solchen Fällen immer einstellte. So wohnten die beiden zusammen in Moskau, so wohnten sie zusammen auf verschiedenen anderen Gütern und in anderen Städten, sogar im Ausland und zuletzt in Petersburg. Von alledem will ich noch später reden, oder es ist auch nicht der Mühe wert. Ich will nur sagen, daß ich ein Jahr nach der Trennung von Makar Iwanowitsch zur Welt kam, noch ein Jahr später meine Schwester, und wieder zehn oder elf Jahre später ein kränklicher Knabe, mein jüngster Bruder, der nach einigen Monaten starb. Die bei der Geburt dieses Kindes ausgestandenen Qualen machten der Schönheit meiner Mutter ein Ende; so ist mir wenigstens erzählt worden: sie begann schnell zu altern und zu kränkeln.

Aber die Beziehungen zu Makar Iwanowitsch wurden doch nicht abgebrochen. Wo Wersilow und meine Mutter sich auch befanden, mochten sie nun ein paar Jahre an einem Ort wohnen oder umherreisen, Makar Iwanowitsch ließ unter allen Umständen »der Familie« Nachricht von sich zugehen. Es bildete sich ein sonderbares Verhältnis heraus, das zum Teil einen ganz feierlich-ernsten Charakter hatte. Im Leben der Herrschaften hätte ein solches Verhältnis zweifellos einen komischen Beigeschmack gehabt, das weiß ich; aber hier war das nicht der Fall. Briefe schickte er zweimal im Jahr, nicht öfter und nicht seltener, und diese Briefe waren sich untereinander außerordentlich ähnlich. Ich habe sie gesehen; sie enthalten sehr wenig Persönliches, sondern nach Möglichkeit nur feierliche Benachrichtigungen über ganz universelle Ereignisse und feierliche Bekundungen ganz universeller Empfindungen, wenn man sich so über Empfindungen ausdrücken kann: Benachrichtigungen in erster Linie von seinem Gesundheitszustand, dann Erkundigungen nach dem Gesundheitszustand der Empfänger, darauf gute Wünsche, feierliche Empfehlungen und Segenssprüche – das war alles. Gerade diese Allgemeinheit und Unpersönlichkeit des Inhalts scheint von den Angehörigen dieser Gesellschaftsschicht für den verständigsten Ton und für die feinste Verkehrsform gehalten zu werden. »Unserer liebwerten und verehrten Gattin Sofja Andrejewna sende ich unsere ergebenste Empfehlung«... »Unseren liebenswürdigen Kindern sende ich unsern ewig unzerstörbaren väterlichen Segen.« Die Kinder wurden sämtlich mit Namen aufgezählt, in der Reihenfolge, wie sie hinzugekommen waren; auch ich war dabei. Ich füge noch die Bemerkung hinzu, daß Makar Iwanowitsch denn doch so klug war, »Seine Hochgeboren den hochverehrten Herrn Andrej Petrowitsch« niemals seinen »Wohltäter« zu nennen, obwohl er sich ihm unfehlbar in jedem Brief ganz ergebenst empfahl, ihn um seine Huld bat und ihm den Segen Gottes wünschte. Die Antwortschreiben an Makar Iwanowitsch wurden jedesmal alsbald von meiner Mutter abgesandt und waren immer in genau derselben Art abgefaßt. Wersilow beteiligte sich an diesem Briefwechsel selbstverständlich nicht. Makar Iwanowitsch schrieb von den verschiedensten Enden Rußlands her, aus Städten und Klöstern, in denen er manchmal lange Aufenthalt nahm. Er war ein sogenannter ewiger Pilger geworden. Niemals bat er um etwas; dafür erschien er mit Sicherheit alle drei Jahre einmal zu Hause zum Besuch und kehrte dann geradeswegs bei meiner Mutter ein, die – es traf sich immer so – eine eigene Wohnung hatte, getrennt von der Wohnung Wersilows. Davon werde ich später noch zu sprechen haben; hier bemerke ich nur noch, daß Makar Iwanowitsch sich nicht etwa im Salon auf den Sofas herumrekelte, sondern sich bescheiden irgendwo in einem Kämmerchen einquartierte. Er blieb nicht lange, nur etwa fünf Tage oder eine Woche.