Sprachenlernen und Kognition

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Sprachenlernen und Kognition
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Jörg Roche / Ferran Suñer

Sprachenlernen und Kognition

Grundlagen einer kognitiven Sprachendidaktik

A. Francke Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0098-4

Inhalt

  Vorwort

  Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF/DaZ

 1. Sprachenlernen und Kognition1.1 Kognitive Linguistik1.1.1 Welt, Sprache und Denken1.1.2 Der Weg zur kognitiven Linguistik1.1.3 Grundannahmen der kognitiven Linguistik1.1.4 Organisationsprinzipien natürlicher Sprachen1.1.5 Die Rolle der kognitiven Linguistik in der Sprachdidaktik1.1.6 Zusammenfassung1.1.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle1.2 Sprache und das mehrsprachige Gehirn1.2.1 Die historisch ersten Erkenntnisse zu Gehirn und Sprache1.2.2 Zweisprachigkeit und Lateralisation: das bilinguale Gehirn1.2.3 Neuroplastizität und Zweitspracherwerb1.2.4 Zusammenfassung1.2.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle1.3 Die Untersuchung des mehrsprachigen Gehirns1.3.1 Die Untersuchung anatomischer Unterschiede mittels struktureller Bildgebung1.3.2 Die Untersuchung der aktiven Areale mittels Verfahren der funktionellen Bildgebung1.3.3 Fazit1.3.4 Zusammenfassung1.3.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle

 2. Konzepte, Bilder und Bildschemata2.1 Bildschemata und Metaphorisierung2.1.1 Bilder in der Sprache2.1.2 Wie funktioniert die Metaphorisierung?2.1.3 Die Verwendung von Bildschemata in der Sprache2.1.4 Piktoriale und multimodale Metaphern2.1.5 Die Verarbeitung von Metaphern2.1.6 Metaphern in der Sprachvermittlung2.1.7 Zusammenfassung2.1.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle2.2 Raum und Zeit2.2.1 Beziehungen von Raum und Zeit2.2.2 Dimension der Temporalität2.2.3 Räumlichkeit und Temporalität in Lernergrammatiken2.2.4 Zusammenfassung2.2.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle2.3 Kognitive Grammatik2.3.1 Grammatik und Konzeptualisierung2.3.2 Praxisbeispiele2.3.3 Zusammenfassung2.3.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle

 3. Konstruktionen und Chunks3.1 Grammatik als Konstruktionsinventar3.1.1 Modelle der Konstruktionsgrammatik3.1.2 Die Einheiten der Konstruktionsgrammatik3.1.3 Das Konstruktionsinventar3.1.4 Zusammenfassung3.1.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle3.2 Konstruktionen im Fremdsprachenlernen3.2.1 Die audiolinguale Methode3.2.2 Fokus auf bedeutungsvolle Wortsequenzen3.2.3 Abstrakte Konstruktionen und Instanziierungen3.2.4 Deutsche Konstruktionen mit Lokalisierungsverben3.2.5 Zusammenfassung3.2.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle3.3 Chunking und Dechunking3.3.1 Konstruktionen in DaF-Lehrwerken3.3.2 Lokalisierungsverben in caused-motion-Konstruktionen3.3.3 Dechunking-Übungen3.3.4 Zusammenfassung3.3.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle

 4. Das mehrsprachige mentale Lexikon4.1 Sprachverarbeitung4.1.1 Wie wird Sprache produziert?4.1.2 Sprachrezeption und -produktion: analoge Prozesse?4.1.3 Modell der Sprachverarbeitung4.1.4 Zusammenfassung4.1.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle4.2 Die Organisation des mehrsprachigen mentalen Lexikons4.2.1 Was ist das mentale Lexikon und was ist dort enthalten?4.2.2 Wie ist das mentale Lexikon organisiert?4.2.3 Welche sprachlichen Ebenen sind im mentalen Lexikon repräsentiert?4.2.4 Wie ist das mehrsprachige mentale Lexikon organisiert?4.2.5 Wie ist das semantisch-konzeptuelle System im mehrsprachigen Lexikon organisiert?4.2.6 Wie entwickeln sich die Verbindungen zwischen dem semantisch-konzeptuellen System und den Wortformen?4.2.7 Zusammenfassung4.2.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle4.3 Erwerb des mehrsprachigen Lexikons4.3.1 Wie verläuft der Wortschatzerwerb in der L2?4.3.2 Inzidentelles Wortschatzlernen und explizite Wortschatzvermittlung4.3.3 Kommunikative Strategien bei Wortfindungsproblemen4.3.4 Konsequenzen für die Wortschatzvermittlung im Fremdsprachunterricht4.3.5 Zusammenfassung4.3.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle

 5. Text und Textualität5.1 Text als mentale Konstruktion5.1.1 Textgeleitete und wissensgeleitete Leseprozesse5.1.2 Konsequenzen für die Praxis5.1.3 Mentale Textrepräsentationen5.1.4 Textoberfläche5.1.5 Lernen aus Texten5.1.6 Lesekompetenz bei IGLU5.1.7 Zusammenfassung5.1.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle5.2 Kontrastive Textologie5.2.1 Textsorten und Textualität5.2.2 Textgemeinsamkeiten im Vergleich: transkulturelle Textsortenzüge5.2.3 Textuelle Merkmale im interkulturellen und intertextuellen Vergleich5.2.4 Zusammenfassung5.2.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle5.3 Hypertext5.3.1 Grundlagen zum Hypertext5.3.2 Was ist das eigentlich Neue am Hypertext?5.3.3 Lernen mit Hypertexten5.3.4 Potenziale der Hypertexte5.3.5 Probleme und Lösungsansätze5.3.6 Anwendung von Hypertexten im Unterricht5.3.7 Zusammenfassung5.3.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle

 6. Textverarbeitung6.1 Leseprozesse an der Textoberfläche6.1.1 Grundlagen der Wortdekodierung beim Lesen6.1.2 Wortdekodierung und Leseerwerb in der Fremdsprache6.1.3 Zusammenfassung6.1.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle6.2 Höherstufige Prozesse des Lesens6.2.1 Die Bildung der Textbasis und der mentalen Modelle6.2.2 Die Rolle des Vorwissens beim Lesen6.2.3 Höherstufige Prozesse des Lesens in der Fremdsprache6.2.4 Strategien zur Förderung höherstufiger Leseprozesse6.2.5 Zusammenfassung6.2.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle6.3 Zur Rolle von Lernstrategien bei der Informationsverarbeitung6.3.1 Kognitive Fertigkeiten und Lernstrategien als Bedingungskomponente erfolgreichen Lernens6.3.2 Kognitive versus metakognitive Strategien6.3.3 Notwendigkeit einer Förderung von Lernstrategien6.3.4 Design- und Instruktionsprinzipien adäquater Fördermaßnahmen6.3.5 Zusammenfassung6.3.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle

 7. Multimedialität, Multimodalität und Multikodalität7.1 Bilder, Sprache und Gedächtnis – Grundlegende Theorien des Arbeitsgedächtnisses7.1.1 Grundlegende Begriffe der Text- und Bildverarbeitung7.1.2 Organisation und Integration von Text und Bild im Arbeitsgedächtnis7.1.3 Die Grenzen der Text- und Bildverarbeitung im Arbeitsgedächtnis7.1.4 Wie lässt sich die kognitive Belastung durch das Instruktionsdesign beeinflussen?7.1.5 Zusammenfassung7.1.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle7.2 Theorien des multimedialen Lernens7.2.1 Theoretische Grundlagen zu den Designprinzipien7.2.2 Anwendung der Designprinzipien7.2.3 Zusammenfassung7.2.4 Fragen zur Wissenskontrolle7.3 Multimediale Grammatikvermittlung7.3.1 Grammatische Metaphern und Animationen7.3.2 Die Wechselpräpositionen7.3.3 Die Modalverben7.3.4 Passiv und Aktiv7.3.5 Zusammenfassung7.3.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle

 8. Kognition und Sprachvermittlung8.1 Transferdifferenz im Modell der kognitiven Sprachdidaktik8.1.1 Kognitive Linguistik und Sprachvermittlung8.1.2 Umsetzung kognitionslinguistischer Ansätze in der Grammatikvermittlung8.1.3 Animationen8.1.4 Ein kognitionswissenschaftlicher Ansatz zur Grammatikvermittlung8.1.5 Transferdifferenz8.1.6 Zusammenfassung8.1.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle8.2 Grammatik und Handlung8.2.1 Zum Konzept der Gebrauchsbasiertheit im Unterricht8.2.2 Prinzipien des Erwerbs sprachlicher Kompetenzen8.2.3 Gründe für eine neue »Fehlerkultur«8.2.4 Wie ein erfolgreicher Unterricht aussehen kann8.2.5 Zum Konzept einer vollständigen Handlung8.2.6 Zur Didaktisierung von HandlungssituationenExperiment 28.2.7 Zusammenfassung8.2.8 Aufgaben zur Wissenskontrolle8.3 Kognitionslinguistisch basierte Fremdsprachenvermittlung8.3.1 Die kognitive Didaktik im Unterricht8.3.2 Operationalisierung von Metaphern in Erwerb und Unterricht8.3.3 Zusammenfassung8.3.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle

 

  Literaturverzeichnis

  Abbildungsverzeichnis

  Sachregister

Vorwort

Trotz vieler neuerer Bemühungen um Kompetenz-, Aufgaben- und Handlungsorientierung kommen in der Praxis der Sprachvermittlung weiterhin verbreitet traditionelle Verfahren zur Anwendung, beispielsweise bei der Festlegung der Lehrprogression, den Niveaustufen, der Fehlerkorrektur und der Leistungsmessung. Mit der Weiterentwicklung der kognitiven Linguistik und weiterer kognitiv ausgerichteter Nachbardisziplinen beginnt sich nun aber auch in der Sprachvermittlung in vieler Hinsicht ein Paradigmenwechsel zu vollziehen. Die kognitionslinguistischen Grundlagen dieses Paradigmenwechsels werden in diesem Band systematisiert und anhand zahlreicher Materialien, Grammatikanimationen und weiterführender Aufgaben für den Transfer in die Praxis aufbereitet. Der Band erscheint als der erste in einer neuen Reihe, die von (fakultativen) Online-Modulen für eine moderne Aus- und Weiterbildung begleitet wird. Diese Online-Module vertiefen den Stoff der Bücher und enthalten Zusatzlektüre und Zusatzaufgaben (www.multilingua-akademie.de). Das Digitale Lexikon Fremdsprachendidaktik (www.lexikon-mla.de) bietet Erklärungen der wichtigsten Fachbegriffe aller Bücher der Reihe und damit einen leichten Zugang zu allen aktuellen Themen der Fremdsprachendidaktik und der Sprachlehr- und -lernforschung.

Die Reihe Kompendium DaF/DaZ verfolgt das Ziel einer Vertiefung, Aktualisierung und Professionalisierung der Fremdsprachenlehrerausbildung. Der Fokus der Reihe liegt daher auf der Vermittlung von Erkenntnissen aus der Spracherwerbs-, Sprachlehr- und Sprachlernforschung sowie auf deren Anwendung auf die Sprach- und Kulturvermittlungspraxis. Die weiteren Bände behandeln die Themen Kognitive Linguistik, Sprachenerwerb, Berufs- und Fachsprachen, Sprachen lehren, Unterrichtsmanagement, Medien, Kultur, Propädeutik.

Durch die thematisch klar abgegrenzten Einzelbände bietet die Reihe ein umfangreiches, strukturiertes Angebot an Inhalten der aktuellen DaF/DaZ-Ausbildung, die über die Reichweite eines Handbuchs weit hinausgehen und daher sowohl in der akademischen Lehre als auch im Rahmen von Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen eingesetzt werden können. Das verbindende fachliche Element der Bände ist eine Orientierung an kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen verschiedener Forschungsdisziplinen.

Möglich gemacht wurde die Entwicklung der Inhalte und der Online-Module durch die Förderung des Tempus-Projektes Consortium for Modern Language Teacher Education. Neben den hier verzeichneten Autorinnen und Autoren haben eine Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Fertigstellung des Manuskriptes dieses Buches mitgewirkt: Svenja Uth, Julia Bode, Katsiaryna EL-Bouz, Sarah Hehmann und Kathrin Heyng sowie Elena Gastring (Gunter Narr Verlag). Simone Lackerbauer hat einige der Originaltexte ins Deutsche übersetzt. Ihnen allen gebührt großer Dank für die geduldige und professionelle Mitarbeit.

Der Text dieses Bandes hat mehrere Autorinnen und Autoren: in erster Linie ist er erstellt von Jörg Roche und Ferran Suñer, speist sich zusätzlich aber auch aus Elementen der Mehrsprachigkeitstheorie (2013) von Jörg Roche (1.1, Kapitel 2, Kapitel 4, Kapitel 7, Kapitel 8), dem Band Hypertexte im L2-Spracherwerb (2011) von Ferran Suñer (4.1, 4.3, 5.1, 5.3, 6.1, 6.2) und dem gemeinsamen Beitrag Kognition und Grammatik: Ein kognitionswissenschaftlicher Ansatz zur Grammatikvermittlung am Beispiel der Grammatikanimationen (2014) in der Zeitschrift für den Interkulturellen Fremdsprachenunterricht (1.1, 2.1, 2.3, 7.3, 8.1). Außerdem basieren Teile der Lerneinheit 2.3 und 7.3 auf dem Beitrag Metaphern und Grammatikvermittlung am Beispiel der Passivkonstruktion (2015) von Ferran Suñer, Teile der Lerneinheit 7.3 auf dem Beitrag Metaphors and Grammar Teaching (2016) von Jörg Roche & Ferran Suñer und Teile der Lerneinheit 8.3 auf dem Beitrag Grammatik und Methode (2015) von Jörg Roche & Ferran Suñer.

Weitere Lerneinheiten sind erstellt von Kees de Bot (1.2 und 1.3), Sabine De Knop (Kapitel 3), Marianne Hepp & Marina Foschi (5.2) und Parvaneh Sohrabi (6.3).

Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF/DaZ

Der Bedarf an solider Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich der Sprachvermittlung nimmt ständig zu. Immer stärker treten dabei spezialisierte Anforderungen zum Beispiel in Bezug auf Fach- und Berufssprachen, Kompetenzen oder Zielgruppen in den Vordergrund. Theoretisch fundiert sollten die entsprechenden Angebote sein, aber gleichzeitig praxistauglich und praxiserprobt. Genau diese Ziele verfolgen die Buchreihe Kompendium DaF/DaZ und die begleitenden E-Module. In mehreren Modulen und Bänden soll hiermit eine umfassende Einführung in die Wissenschaft und in die Kunst des Sprachenlernens und Sprachenlehrens gegeben werden, weit weg von fernen Theorie- oder Praxiskonstruktionen und Lehr-Dogmen. Im Mittelpunkt des hier verfolgten Ansatzes steht das, was in den Köpfen der Lerner geschieht oder geschehen sollte. Sachlich, nüchtern, effizient und nachhaltig. Buchreihe und e-Module sind eine Einladung zur Professionalität eines Bereichs, der die natürlichste Sache der Welt behandelt: den Sprachenerwerb. In diesen Materialien und Kursen werden daher Forschungsergebnisse aus verschiedenen Forschungsrichtungen zusammengetragen und der Nutzen ihrer Synthese für die Optimierung des Sprachenerwerbs und Sprachunterrichts aufgezeigt.

Warum solide Aus-, Weiter- und Fortbildung heute so wichtig sind

Wer sich etwas eingehender darum bemüht zu verstehen, welche Rolle die Sprache im weiten Feld des Kontaktes von Kulturen spielt – oder spielen könnte –, muss von den Gegensätzen, Widersprüchen und Pauschalisierungen, die die Diskussion in Gesellschaft, Politik und Fach bestimmen, vollkommen irritiert sein. Vielleicht lässt sich aus dieser Irritation auch erklären, warum dieser Bereich von so vielen resistenten Mythen, Dogmen und Praktiken dominiert wird, dass das eigentlich notwendige Bemühen um theoretisch fundierte Innovationen kaum zur Geltung kommt. Mangelndes Sprach- und Sprachenbewusstsein besonders in Öffentlichkeit und Politik führen ihrerseits zu einem ganzen Spektrum gegensätzlicher Positionen, die sich schließlich auch bis in die lehrpraktische Ebene massiv auswirken. Dieses Spektrum ist gekennzeichnet durch eine Verkennung der Bedeutung von Sprache im Umgang der Kulturen auf der einen und durch reduktionistische Rezepte für ihre Vermittlung auf der anderen Seite: Die Vorstellung etwa, die Wissenschaften, die Wirtschaft oder der Alltag kämen mit einer Universalsprache wie dem Englischen aus, verkennt die – übrigens auch empirisch über jeden Zweifel erhabenen – Realitäten genauso wie die Annahme, durch strukturbasierten Sprachunterricht ließen sich kulturpragmatische Kompetenzen (wie sie etwa für die Integration in eine fremde Gesellschaft nötig wären) einfach vermitteln. Als ineffizient haben sich inzwischen auch solche Verfahren erwiesen, die Mehrsprachigkeit als Sonderfall – und nicht als Regelfall – betrachten und daher Methoden empfehlen, die den Spracherwerb vom restlichen Wissen und Leben zu trennen versuchen, also abstrakt und formbasiert zu vermitteln. Der schulische Fremdsprachenunterricht und der Förderunterricht überall auf der Welt tendieren (trotz rühmlicher unterrichtspraktischer, didaktischer, struktureller, konzeptueller und bildungspolitischer Ausnahmen und Initiativen) nach wie vor stark zu einer solchen Absonderung: weder werden bisher die natürliche Mehrsprachigkeit des Menschen, die Sprachenökologie, Sprachenorganik und Sprachendynamik noch die Handlungs- und Aufgabenorientierung des Lernens systematisch im Fremdsprachenunterricht genutzt. Stattdessen wird Fremdsprachenunterricht in vielen Gesellschaften auf eine (internationale) Fremdsprache reduziert, zeitlich stark limitiert und nach unterschiedlich kompetenten Standards kanalisiert.

Interkulturelle Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung

In unserer zunehmend globalisierten Welt gehört die Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen zu einem der wichtigsten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aufgabenbereiche. Die Globalisierung findet dabei auf verschiedenen Ebenen statt: lokal innerhalb multikultureller oder multikulturell werdender Gesellschaften, regional in multinationalen Institutionen und international in transkontinentalen Verbünden, Weltorganisationen (unter anderem für Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Sport, Banken) und im Cyberspace. Dabei sind all diese Globalisierungsbestrebungen gleichzeitig Teil einer wachsenden Paradoxie. Der Notwendigkeit, die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme wegen der globalen Vernetzung der Ursachen auch global zu lösen, stehen andererseits geradezu reaktionäre Bestrebungen entgegen, der Gefahr des Verlustes der »kulturellen Identität« vorzubauen. Einerseits verlangt oder erzwingt also eine Reduktion wirklicher und relativer Entfernungen und ein Überschreiten von Grenzen ein Zusammenleben und Kommunizieren von Menschen verschiedener Herkunft in bisher nicht gekannter Intensität, andererseits stehen dem Ideal einer multikulturellen Gesellschaft die gleichen Widerstände entgegen, die mit der Schaffung solcher Gesellschaften als überkommen geglaubt galten (Huntington 1997). Erzwungene, oft mit großer militärischer Anstrengung zusammengehaltene multikulturelle Gesellschaften haben ohne Druck keinen Bestand und neigen als Folge des Drucks vielmehr dazu, verschärfte kulturelle Spannungen zu generieren. Auch demokratisch geschaffene multikulturelle Gesellschaften benötigen meist viel Zeit und Energie, um sich aus der Phase der multi-kulturellen Duldung zu inter-kultureller Toleranz und interkulturellem Miteinander zu entwickeln. Die rechtspopulistischen Bewegungen in Europa und die ethnischen Auseinandersetzungen in Afrika und Asien zeigen, dass es zuweilen gewaltig unter der Oberfläche gesellschaftlicher Toleranz- und Internationalisierungspostulate rumort. Ethnozentrismus, Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus, Rassismus, Diskriminierung, Terrorismus, Bürgerkrieg, Massen- und Völkermord sind durch politisch und wirtschaftlich bewirkten Multikulturalismus nicht verschwunden. Das verbreitete Scheitern von Multikulturalismus-Modellen zeigt, dass ein verordnetes oder aufgezwungenes Nebeneinander von Kulturen ohne Mediationsbemühungen eher Spannungen verstärkt, als nachhaltig Toleranz zu bewirken. Es mangelt an effizienten Verfahren der Vermittlung (Mediation) zwischen Kulturen. Den Sprachen kommt in dem Prozess der Mediation deswegen eine besondere Rolle zu, weil er mit der Kommunikation über kulturelle Grenzen hinweg anfängt und auch nur durch diese am Laufen gehalten wird. Die Sprache kann nicht alle Probleme lösen, aber sie hat eine Schlüsselposition beim Zustandekommen interkulturellen Austauschs, die weit über die Beherrschung von Strukturen sprachlicher Systeme hinausgeht. Diese Funktion hat mehr mit Kulturvermittlung als mit strukturellen Eigenschaften sprachlicher Systeme zu tun und sie kann kaum durch eine einzige Lingua Franca erfüllt werden. Das Lernen und Lehren von Sprachen ist in Wirklichkeit eines der wichtigsten politischen Instrumente im Zeitalter der Globalisierung und Internationalisierung. Sprachunterricht und Sprachenlernen werden aber von Lehrkräften und Lernern gleichermaßen oft noch als die Domäne des Grammatikerwerbs und nicht als Zugangsvermittler zu anderen Kulturen behandelt. Wenn kulturelle Aspekte im Fremdsprachenerwerb aber auf die Faktenvermittlung reduziert werden und ansonsten vor allem strukturelle Aspekte der Sprachen in den Vordergrund treten, bleiben wichtige Lern-und Kommunikationspotenziale ungenutzt. Dabei bleibt nicht nur der Bereich des landeskundlichen Wissens unterentwickelt, sondern es wird in erster Linie der Erwerb semantischer, pragmatischer und semiotischer Kompetenzen erheblich eingeschränkt, die für die interkulturelle Kommunikation essentiell sind. Wenn in der heutigen Zeit vordringlich interkulturelle Kompetenzen verlangt werden, dann müssen in Sprachunterricht und Spracherwerb im weiteren Sinne also bevorzugt kulturelle Aspekte der Sprachen und Kommunikation berücksichtigt werden. Dazu bedarf es aber einer größeren Bewusstheit für die kulturelle Bedingtheit von Sprachen und die sprachliche Bedingtheit von Kulturen. Diese müssen sich schließlich in kultursensitiven Lern- und Lehrverfahren manifestieren, die Mehrsprachigkeit nicht nur künstlich rekonstruieren und archivieren wollen, sondern die in Fülle vorhandenen natürlichen Ressourcen der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität organisch, dynamisch und effizient zu nutzen wissen. Das Augenmerk der künftigen Lern- und Lehrforschung ist daher verstärkt auf Aspekte der Ökologie und Ökonomie des Sprachenerwerbs und Sprachenmanagements zu richten. Das bedeutet aber, dass die Spracherwerbs- und die Mehrsprachigkeitsforschung sich nicht nur eklektisch wie bisher, sondern systematisch an kognitiven und kultursensitiven Aspekten des Sprachenerwerbs und Sprachenmanagements ausrichten müssen. Diesen Aufgabenbereich zu skizzieren, indem wichtige, dafür geleistete Vorarbeiten vorgestellt werden, ist Ziel dieser Reihe.

 

Interkultureller Fremdsprachenunterricht

Als die Forschung begann, sich mit interkulturellen Aspekten in Spracherwerb und Sprachunterricht zu beschäftigen, geschah dies auf der Grundlage bildungspolitischer Zielsetzungen und hermeneutischer Überlegungen. Literarische Gattungen sollten den kommunikativen Trend zur Alltagssprache ausgleichen helfen und damit gleichzeitig frische, auf rezeptionsästhetischen Theorien basierende Impulse für das Fremdverstehen und die Fremdsprachendidaktik liefern (vergleiche Hunfeld 1997; Wierlacher 1987; Krusche & Krechel 1984; Weinrich 1971). Die anfängliche Affinität zu lyrischen Texten weitete sich auf andere Gattungen aus und verjüngte mit dieser Wiederentdeckung der Literatur im Fremdsprachenunterricht gleichzeitig das in den 1980er Jahren bereits zum Establishment gerinnende kommunikative Didaktikparadigma. Man vergleiche die Forderung nach einem expliziten interkulturellen Ansatz von Wylie, Bégué & Bégué (1970) und die bereits frühe Formulierung der konfrontativen Semantik durch Müller-Jacquier (1981). Für die auf Zyklen sozialisierte Zunft der Sprachlehre stand fest: das ist eine neue, die vierte Generation der Fremdsprachendidaktik, die interkulturelle, oder zumindest die Version 3.5, die kommunikativ-interkulturelle. Allerdings hat diese Euphorie nicht überall zu einer intensiveren, systematischen Reflexion interkultureller Aspekte in Bezug auf ein besseres Verstehen des Sprachenlernens und eine effizientere Ausrichtung des Sprachenlehrens geführt. Selbst in der Lehrwerksproduktion, deren Halbwertzeitzyklen seitdem immer kürzer werden, ist die Anfangseuphorie vergleichsweise schnell verflogen. Infolge des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) – und bereits seines Vorgängers, des Schwellen-Projektes (threshold level project) des Europarates – scheinen sich aufgrund der (oft falsch verstandenen) Standardisierungen die starken Vereinheitlichungstendenzen zu einer Didaktik der Generation 3 oder gar 2.5 zurück zu verdichten. Die Aufnahme der Fremdperspektive in Lehrwerken beschränkte und beschränkt sich oft auf oberflächlich vergleichende Beschreibungen fremder kultureller Artefakte, und die Behandlung der Landeskunde unterliegt nach wie vor dem Stigma der vermeintlich mangelnden Unterrichtszeit.

Ein kleiner historischer Rückblick auf die Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts

Der Fremdsprachenunterricht ist traditionellerweise vor allem von den bildungspolitischen, pädagogischen, psychologischen und soziologischen Vorstellungen der entsprechenden Epoche und ihren gesellschaftlichen Trends beeinflusst worden. Diese Aspekte überschreiben im Endeffekt auch alle sporadischen Versuche, den Fremdsprachenunterricht an sprachwissenschaftlichen oder erwerbslinguistischen Erkenntnissen auszurichten. So verdankt die Grammatik-Übersetzungsmethode ihre Langlebigkeit den verbreiteten, aber empirisch nicht begründeten Vorstellungen von der Steuerbarkeit des Lerners, der Autorität des Inputs und der Bedeutung elitärer Bildungsziele. Mit den audio-lingualen und audio-visuellen Methoden setzt eine Ent-Elitarisierung und Veralltäglichung des Sprachenlernens ein. Die vorwiegend mit Alltagssprache operierenden Methoden sind direkte, wenn auch reduzierte Abbildungen behavioristischer Lernmodelle und militärischer Bedürfnisse ihrer Zeit. Der kommunikative Ansatz schließlich ist von den Demokratisierungsbestrebungen der Gesellschaften bestimmt. Sein wichtigstes Lernziel, die kommunikative Kompetenz, ist dem soziologischen Ansatz der Frankfurter Schule entlehnt (Habermas 1981). Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen stellt zwar keinen neuen didaktischen Ansatz dar, bildet aber über seine Ausrichtung auf den pragmatischen und utilitaristischen Bedarf eines zusammenwachsenden und mobilen europäischen Arbeitsmarktes den Zeitgeist des politisch und wirtschaftlich gewollten Einigungsprozesses in Europa ab und wirkt daher paradigmenbildend und auf den Unterricht stärker standardsetzend als alle didaktischen Ansätze zuvor. Er weist deutliche Parallelen zu den Proficiency-Guidelines des American Council of Teachers of Foreign Languages (ACTFL) auf, die ihrerseits – wie bereits die audiolinguale Methode – stark von den Bedürfnissen der Sprachschulen des US-Militärs beeinflusst wurden. Eine erwerbslinguistische oder stringente sprachwissenschaftliche Basis weist er nicht auf. Typisch für die zeitlichen Strömungen sind konsequenterweise auch all die Methoden, die in der Beliebigkeit des Mainstreams keine oder nur geringe Berücksichtigung finden können. Diese alternativen Methoden oder Randmethoden wie die Suggestopädie, Total Physical Response, Silent Way oder Community (Language Learning) Approach reflektieren die Suche des Sprachunterrichts nach zeitgemäßen Verfahren, die vor allem die vernachlässigte Innerlichkeit der Gesellschaft ansprechen oder die Kritik an ihrem Fortschrittsglauben ausdrücken sollen. Die gefühlte Wahrheit der Methoden bei gleichzeitigem Mangel an wissenschaftlich-kritischer Überprüfung der Annahmen ergibt ein inkohärentes Bild der Fremdsprachendidaktik und -methodik, das zwangsläufig zu vielen Widersprüchen, Rückschritten und Frustrationen führen muss. Die rasante Abkehr von der Sprachlerntechnologie der 60er und 70er Jahre, das Austrocknen der alternativen Methoden, die Rückentwicklung der kommunikativen Didaktik oder die neo-behavioristischen Erscheinungen der kommerziellen Sprachsoftware gehören zu den Symptomen dieses Dilemmas. Die anhaltende unreflektierte Verbreitung eklektischer Übungsformen der Grammatik-Übersetzungsmethode oder des Pattern Drills in Unterricht und Lehrmaterial illustriert, wie wenig nachhaltig offenbar die Bemühungen um eine theoretisch fundierte und empirisch abgesicherte kommunikative Didaktik waren. Mit dem Auftauchen der interkulturellen Sprachdidaktik und der »vierten Generation von Lehrwerken« (Neuner & Hunfeld 1993) schien sich eine Veränderung gegenüber den Referenzdisziplinen anzubahnen. Zunehmende Migration und Globalisierungstendenzen machten eine entsprechende Öffnung nötig. Aber auch diese anfänglichen Bestrebungen haben sich in der Breite des Lehrmaterials und des Sprachunterrichts genauso wenig durchgesetzt wie wissenschaftlich fundierte Modelle von Grammatik und Sprache. Stattdessen beschäftigt sich die Unterrichtsmethodik geradezu aktionistisch mit temporären Neuerungen (wie den neuen Medien, dem Referenzrahmen, der farbigen Darstellung grammatischer Phänomene) oder Wiedererfindungen bekannter Aspekte (wie dem Inhaltsbezug oder der Diskussion der Bedeutung mündlicher Texte), ohne sich ernsthaft mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Didaktik zu beschäftigen. Ein kurzer Rückblick auf die Vorschläge von Comenius zum inhaltsbezogenen Lernen aus dem 17. Jahrhundert etwa oder der Sprachreformer früherer Jahrhunderte sowie die Modelle aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts würde der neueren Diskussion des Content and Language Integrated Learning (CLIL) eine erhellende Perspektive bieten. Comenius hält unter Bezug auf einen christlichen Gelehrten bereits 1623 fest:

Die Kenntnis einer Sprache mache noch keinen Weisen, sie diene lediglich dazu, uns mit den anderen Bewohnern der Erdoberfläche, lebenden und toten, zu verständigen; und darum sei auch derjenige, welcher viele Sprachen spreche, noch kein Gelehrter, wenn er nicht zugleich auch andere nützliche Dinge erlernt habe. (Comenius 1970: 269)

Dabei verbindet Comenius bereits die Prozesse des Spracherwerbs und der allgemeinen Maturation (der Vision und des Intellekts des Kindes) und nimmt damit Jean Piagets Modell der kognitiven Entwicklung sowie die in der Spracherwerbsforschung etablierten, kognitive Entwicklungsphasen repräsentierenden Konzepte der Erwerbssequenzen vorweg. Darüber hinaus produzierte er bereits ein Lehrbuch (Orbis sensualium pictus), in dem er systematisch die Verwendung visueller Materialien beim Sprachenlernen und -lehren bedachte (Comenius 1981). Auch die Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der industriellen und sozialen Umwälzungen entstandene, bildungspolitisch und methodisch motivierte Reformbewegung des Fremdsprachenunterrichts bildet zwar eine didaktische Brücke zwischen den Arbeiten von Comenius und den Elementen des inhaltsbezogenen und handlungsorientierten Lernens moderner didaktischer Ansätze, verfolgt jedoch keine wissenschaftlichen Ziele. Ihr geht es vielmehr darum: Fremdsprachen jedem zugänglich zu machen, anstatt sie einer exklusiven Elite vorzubehalten, den Fremdsprachenunterricht weit über den Unterricht klassischer Literatur hinaus zu erweitern, indem Inhalte des Alltags- und Berufslebens sowie schulischer Fächer in den Fremdsprachenunterricht aufgenommen werden sollten, zum Beispiel in verschiedenen Verfahren des immersiven Lernens.