Deutsch in Luxemburg

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Fabienne Scheer

Deutsch in Luxemburg

Positionen, Funktionen und Bewertungen der deutschen Sprache

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-9097-8


Inhalt

  Vorwort

  I. Einleitung

 II. Historische Sprachentwicklung und soziolinguistische Erklärungsansätze1 Entwicklung der luxemburgischen Mehrsprachigkeit2 Herausbildung und Bestand eines domänenspezifischen SprachgebrauchsSoziolinguistische Ansätze: Diglossie, Bilingualismus, DomäneMündlichkeit und Schriftlichkeit (Koch/Oesterreicher)Nähe-Sprache, Distanz-Sprache3 Typologisierung von SprachgruppenEXKURS: Migrationsbewegungen

 III. Das Wissen der Sprecher – Theoretische Grundlagen1 Über Mentalitätenwissen, Sprachdenken und Sprachhandeln1.1 „Dieses ‚Denken-wie-üblich‘, wie wir es nennen möchten […]“1.2 Makrokontext ‚Luxemburgische Mentalität‘2 „Archäologie des Wissens“ – Linguistische Diskursanalyse und die empirische Analyse und Rekonstruktion von Wissensbeständen2.1 Erschließung des Foucaultschen Diskursbegriffs2.2 Diskurs und Wissen bei Foucault2.3 Äußerungen, Aussagen, Mentalitäten

 IV. Untersuchungskriterien1 Beschreibung des Untersuchungskorpus und des Analysezeitrahmens1.1 Medienkorpus1.2 Erweiterung des Materials um Experteninterviews1.3 Erweiterung des Korpus um weitere Zeichen des „Flusses von Wissen durch die Zeit“2 Methodische AnsätzeBemerkungen zur Verwendung diskurslinguistischer Methoden

 V. Der Bildungsdiskurs1 Aufbau des luxemburgischen Schulsystems1.1 Grundschule ‚(école fondamentale)‘1.2 Sekundarschule2 Einblicke in den luxemburgischen Bildungsdiskurs2.1 Über Bildung diskutieren2.2 Die Gemeinschaft der Diskursteilnehmer3 Der Stellenwert des Deutschen in der Grundschule3.1 Die Entwicklung des linguistischen Startkapitals im Grundschulzyklus 13.2 Eine Alphabetisierung auf Deutsch4 Deutsch im klassischen und technischen Sekundarunterricht4.1 Ein Blick ins klassische Sekundarschulklassenzimmer4.2 Stellenwert der Unterrichtssprache Deutsch im ‚Enseignement secondaire technique‘4.3 Deutsch als Fremdsprache in Luxemburg erlernen

 VI. Sprachwissen und Immigration1 Über Immigration diskutieren2 Sprachwissen und Integration

  VII. Fremdenfeindliche Tendenzen im Sprachdiskurs 1 Täter-/Opfer-Konstruktionen und das Schaffen eines Feindbildes 2 Die Kollokation ‚En Français s.v.p‘ und damit einhergehende Wissensrahmen 3 Die Darstellung des Luxemburgers 4 „Sie nehmen uns die Arbeit weg!“

 VIII. Sprach(en)politiken und politische Kommunikation1 Sprach(en)politik aufgezwungen von außen1.1 ‚Die Sprache des Landes Luxemburg und seiner Bewohner ist seit jeher deutsch.‘ (1940)1.2 Personenstandsaufnahme vom 10. Oktober 19412 Korpusplanung zugunsten des Luxemburgischen (1945–1977)3 Ziele und Verdienste der ‚Actioun Lëtzebuergesch Eis Sprooch a.s.b.l (AL)‘EXKURS: Sprachgebrauch in der katholischen Kirche4 Vorarbeiten und Bedeutung der ‚loi sur le régime des langues 1984‘EXKURS: Gesetzes- und Gerichtssprachen5 Luxemburg: Ein frankophones Land?6 Verfassungsreform in Luxemburg7 Öffentliche Kommunikation auf der kommunalen Ebene

 IX. Medien und Sprachwissen1 Printmedien1.1 Lesesprachen der luxemburgischen Sprachgruppe1.2 ‚Luxemburger Deutsch in der Presse‘1.3 Zeitungssprache Französisch1.4 Die portugiesischen Zeitungen ‚Contacto‘ und ‚Correio‘2 Radiosprachen3 Ein Kino für alle Sprachgruppen

 X. Literatursprachen1 Die Leser2 Die Schreiber

 XI. Sprachwissen in Öffentlichkeitsarbeit und Werbung1 Öffentliche Kommunikation in Luxemburg2 Werbung in Printmedien

  XII. Schlussbetrachtung

 LiteraturverzeichnisSekundärliteraturGesetzestexteParlamentarische AnfragenMedienkorpusLuxemburger WortLuxemburger LandLe jeudiLëtzebuerger JournalL’EssentielPoint 24RTL Radio Lëtzebuerg//rtl.luTageblattTélécran

Vorwort

Im Frühjahr 2012 führten mich meine Recherchen zunächst nach Luxemburg-Gasperich in das Archiv des Verlagshauses Saint-Paul, wo ich die Printausgaben des Luxemburger Worts, des Luxemburger Lands und des Le Jeudi von 1983 bis 2012 nach Artikeln durchsuchte, die mir mit Blick auf meinen Untersuchungsgegenstand, die deutsche Sprache in Luxemburg, relevant erschienen. Ein herzlicher Dank geht an die Archivare vor Ort für ihre bereitwillige Hilfe.

En cours de route stellte ich fest, dass die Analyse von Presseartikeln und Dokumenten nicht ausreichen würde, um den Stellenwert der deutschen Sprache im Land zu erfassen. Das war der Moment, in dem ich damit anfing, die ersten Interviews zu führen. Zuerst mit Journalisten, dann mit Grund- und Sekundarschullehrern, schlussendlich auch mit Experten für Literatur, Kultur, Öffentlichkeitsarbeit, Werbung, Sprach(en)politik und Integration. Ein Großteil dieser ‚Praktiker’ wird im Verlauf dieses Buches namentlich genannt, andere bleiben anonym oder treten nur über das Material, das sie mir zur Verfügung stellten, in Erscheinung. Ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflichtet.

Diese Arbeit wurde im Sommer 2016 von der Germanistischen Fakultät der Universität Luxemburg als Dissertation angenommen. Sie konnte nur aufgrund der finanziellen Unterstützung des luxemburgischen Staates, durch den Fonds national de la Recherche, realisiert werden und zu allen Momenten auf die fachliche Unterstützung ihres Betreuers, Prof. Dr. Heinz Sieburg, zurückgreifen. Bei ihm, bei Prof. Dr. Georg Mein, der die Zweitbetreuung übernahm, sowie allen Mitgliedern des Germanistischen Instituts an der Universität Luxemburg möchte ich mich bedanken für vier wertvolle Jahre, welche die Dissertation in die richtigen Bahnen gelenkt haben.

Zu guter Letzt gilt meiner Familie und meinen Freunden ein großes Merci für ihre Nervenstärke und ihre Unterstützung. Allen voran danken, möchte ich meinem Mann, der dieses Abenteuer mit mir durchgestanden hat, meinen Eltern, die mich in vielerlei Hinsicht entlastet und immer in meinen Entscheidungen bestärkt haben und meiner Großmutter, bei der ich die nötige Ruhe fand, um zu schreiben. Eine Woche vor der Geburt meines Sohnes setzte ich den Schlusspunkt. Merci, dass du noch so lange mit deiner Mama mitgeschrieben hast.

„Man kann Sprache nur verstehen, wenn man mehr als Sprache versteht.”

(Hörmann 1978/1994: 210)

I. Einleitung

Hubertus von Morr1: „Ich habe bei der Tagung, die wir an der Universität Luxemburg hatten, gesagt, dass ich den Eindruck habe, dass das Deutsche hier in Luxemburg zurückgeht. Daraufhin hat mir Charles Berg in seinem Beitrag geantwortet und das fand ich sehr prägend:

 

„Das Deutsche in Luxemburg ist wie ein Eisberg. Der größte Teil ist unter Wasser.“

Das fand ich sehr gut. Das können Sie in der Arbeit verwenden. Das ist eine sehr geistreiche Bemerkung. […] Ja, es ist mehr da, als der oberflächliche Besucher so glaubt. Wenn hier die Busse ankommen und die Touristen gehen in die Stadt, dann treffen die da erst mal auf Französisch. Das nehmen die nicht wahr. Also das scheint mir die Lage sehr gut zu beschreiben. Ich habe ihm dann geantwortet, dass im Zeichen des Klimawandels Eisberge schmelzen.“ [lacht]

F.S.: „Daran habe ich jetzt auch gedacht.“

Die Eisberg-Metapher vereint zwei Aspekte, die die vorliegende Arbeit von Anfang an begleiteten: die vielfach unsichtbare Stellung der deutschen Sprache in Luxemburg und der oft geäußerte Eindruck, dass ihre Bedeutung im Land abnehme.

Aus Sicht der Gesetzgebung ist Luxemburg heute ein dreisprachiges Land. Am 24. Februar 1984 wurde in der loi sur le régime des langues festgeschrieben, dass das Lëtzebuergesche die Nationalsprache der Luxemburger ist. Die Sprache, die im Bewusstsein ihrer Sprecher längst National- und Muttersprache war, wurde damit auch offiziell über die beiden anderen Landessprachen erhoben. In Artikel II. des Gesetzes wurde die französische Sprache zur rechtsetzenden Sprache erklärt. Erst der dritte Artikel erwähnte ein Vorkommen der deutschen Sprache in Luxemburg. Es wurde vermerkt, dass Französisch, Deutsch und Luxemburgisch als Verwaltungs- und Gerichtssprachen im Land zugelassen sind. Der kommunikative Wert, welcher die deutsche Sprache hat, wurde damit anerkannt – mehr aber auch nicht (Kapitel VIII).

Gilles (2009: 197) konstatierte, dass es sich als besonders schwer gestalte die Rolle des Deutschen im Ensemble der luxemburgischen Mehrsprachigkeit zu erfassen. Jene Unsichtbarkeit, die das Vorkommen der deutschen Sprache in Luxemburg kennzeichnet, ist nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges politisch so gewollt. Die Zwangsangliederung des Landes an das Deutsche Reich und die damit verbundene Zwangsgermanisierung haben das Verhältnis zur Sprache nachhaltig verändert. In der politischen Außendarstellung nutzt Luxemburg seither weitestgehend die französische Sprache. Innerhalb der Bevölkerung werden die sprachgenealogischen Verbindungen zwischen der luxemburgischen und der deutschen Sprache gedanklich gelockert. Dass die Luxemburger die eigene Mundart einst als Onst Däitsch (Unser Deutsch) bezeichneten, wird aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen (Kapitel II, VIII). So erfüllt die deutsche Sprache seither vor allem rezeptive Funktionen im Land. Sie gilt als beliebte Mediensprache, ist die Alphabetisierungssprache in der öffentlichen Grundschule und eine der Bildungssprachen (Kapitel V, IX, X).

Die Aufgaben, die alle drei Landessprachen übernehmen, wurden nach dem Krieg neu geordnet. Wissenschaftliche Arbeiten, die versucht haben diese mehrsprachige Situation zu erklären, vor allem Hoffmann (1979) und Berg (1993), haben zumeist bei der domänenspezifischen Verteilung der Sprachen angesetzt, indem sie, vor dem Hintergrund des soziolinguistischen Diglossie-Konzeptes und der Kategorie der Domäne, darlegten, in welchem Bereich der Gesellschaft welche Sprache (Deutsch, Französisch oder Luxemburgisch) vorwiegend verwendet werde (Kapitel II). Beide Forschungsarbeiten beschränkten sich jedoch auf die Beschreibung des Sprachverhaltens der gebürtigen Luxemburger. Diese forschungspraktische Eingrenzung der Untersuchungsgruppe sollte eine Analyse der Sprachensituation in Luxemburg gegenwärtig nicht mehr vornehmen. Die hier vorgenommene Analyse zur Sprachensituation in Luxemburg wendet sich aus gutem Grund dezidiert von einer solchen Eingrenzung ab. Im Land leben mittlerweile 172 Nationalitäten (vgl. Statec 2014a). Der Zuwandereranteil liegt bei 45,9 % (vgl. Statec 2015: 10). Tagsüber bevölkern zusätzliche 168700 Grenzpendler aus dem deutschen, französischen und belgischen Sprachraum den 563000-Einwohner-Staat (vgl. ebd. 10; 13). Sie alle kommunizieren im Land in einer oder mehreren Sprachen. Ihr Wissen über den domänenadäquaten Sprachgebrauch und ihr Sprachverhalten sind je nach Sprachbiographie und Dauer ihres Aufenthalts verschieden ausgeprägt. Es gibt Zuwanderer und Grenzgänger, die alle drei Landessprachen erwerben und diese situations-/domänen­adäquat einsetzen, andere die nur eine der drei ausbauen, in ihrer Herkunftssprache oder einer anderen Fremdsprache den Alltag in Luxemburg bestreiten. Die demographische Entwicklung hat die Position der französischen Sprache im Land gestärkt, denn ein Großteil der Zuwanderer entscheidet sich, aufgrund einer romanischen Erstsprache, dafür, die französische Sprache in Luxemburg zu verwenden. Statistiken zufolge ist sie die am meisten gesprochene Sprache im Land (vgl. Fehlen 2013a: 63). Als Integrationssprache, die das Potenzial hat die Gesellschaft zusammenzuhalten, wird allerdings mehrheitlich die luxemburgische Sprache geschätzt (Kapitel VI). Ein zunehmendes Interesse am Erwerb des Luxemburgischen als Fremdsprache und ihr Einsatz in Domänen, die ehedem der französischen und der deutschen Sprache vorbehalten waren, lassen vermehrt den Eindruck aufkommen, als ‚schmelze’ die Bedeutung der deutschen Sprache langsam dahin. Es wird mitunter angenommen, dass ihre Funktionen zunehmend von den beiden anderen Sprachen übernommen werden.

Die Arbeit setzt sich zum Ziel, das Sprachverhalten in ausgewählten Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens darzulegen und herauszufinden, welche Position die einzelnen Sprachen jeweils einnehmen. Die traditionelle Aufgabenverteilung an die drei Landessprachen ist im Begriff sich zu verändern. Die Arbeit wird deshalb von der Forschungsfrage geleitet, wie die dominierende, luxemburgische, Sprachgruppe auf die Hinfälligkeit ihrer Sprachverhaltensmuster reagiert und inwieweit sie sich von diesen löst bzw. zu lösen beginnt. Das von der luxemburgischen Sprachgruppe erworbene Sprachwissen und Sprachverhalten wird im theoretischen Teil der Arbeit mit dem Begriff des Mentalitätenwissens umrissen (Kapitel III).

Bislang liegt noch keine Monographie vor, die sich dezidiert der deutschen Sprache in Luxemburg zuwendet. Es existieren einzig wissenschaftliche Aufsätze, u.a. von Ammon (2015: 224–232), Kühn (2005, 2010), Newton (1987), Schmitz (2009) und Sieburg (u.a. 2009, 2012, 2013), die sich der Thematik ausschnitthaft widmen. Eine eigenständige und dringend erforderliche Untersuchung muss die Bewertungen, die über die deutsche Sprache kursieren, die Funktionen und Positionen, die diese in Luxemburg einnimmt, stets im Kontext der Mehrsprachigkeit betrachten. Eine Arbeit über die deutsche Sprache in Luxemburg ist zugleich eine Untersuchung über den Stellenwert der französischen, der luxemburgischen, der portugiesischen und der anderen Sprachen, die im Land gebraucht werden.

Die Arbeit versteht sich als diskursanalytische Untersuchung. Sie re-konstituiert ein Formationssystem, das als Diskurs über die deutsche Sprache in Luxemburg definiert werden kann und sich auf den Zeitraum von 1983 bis 2015 konzentriert. Der Diskursbegriff nach Foucault, wie er in der Linguistik verwendet wird, ist geeignet, um die Ansammlung von Sprachwissen in der Gesellschaft und eine sich zugleich zeigende Sprachpraxis zu untersuchen. Die Fragestellung der Arbeit erforderte die Zusammenstellung eines umfangreichen Untersuchungskorpus, das Einblicke in die verschiedenen Teilbereiche der Gesellschaft eröffnet. Es setzt sich aus einem Pressekorpus, aus von mir geführten Gesprächen mit Experten aus der luxemburgischen Öffentlichkeit, aber auch aus Statistiken, Schreibproben von Schülern, administrativen Schreiben, Buchbestsellerlisten, Werbeanzeigen und vielen weiteren „Zeichen des Flusses von Wissen durch die Zeit“ (Jäger/Jäger 2007; Jäger 2012) zusammen, die in Kapitel IV, mit der methodischen Verfahrensweise der Arbeit, ausführlich dargelegt werden.

Ein Blick auf die Gliederung deutet an, dass sich der empirische Teil der Arbeit, der die Kapitel V bis XI umfasst, in verschiedene Themenbereiche aufteilt, die oft, aber nicht immer, mit der soziolinguistischen Kategorie der (Gesellschafts-)Domäne oder der soziologischen Kategorie des sozialen Feldes2 übereinstimmen. Kapitel V behandelt den Bildungsdiskurs in Luxemburg. Die Schule ist der Ort, an dem alle Gesellschafts- und Sprachgruppen des Landes aufeinandertreffen und zugleich ein Ort, an dem die deutsche Sprache eine bedeutende Stellung einnimmt. Der Stellenwert der Schulsprache ‚Deutsch’ und die Didaktik des Deutschunterrichts in Luxemburg werden in diesem Bereich der Arbeit ausführlich behandelt und einer kritischen Betrachtung unterzogen. Kapitel VI fragt nach den verschiedenen Integrationssprachen im Land. Kapitel VII untersucht aufkommende Spannungen bei der Verwendung der verschiedenen Sprachen im Land. Kapitel VIII gibt Einblicke in die Sprach(en)politiken und in die politische Haltung zur ‚Landessprache’ Deutsch. Kapitel IX und X behandeln die Medien- und Literatursprachen der Bevölkerung, die Schreibsprachen Luxemburger Schriftsteller und die sprachlichen Ausrichtungen der Literaturverlage. Die Arbeit schließt mit einem Kapitel zum Thema ‚Öffentlichkeitsarbeit und Werbung’ (Kapitel XI), das behandelt, inwieweit die deutsche Sprache auch im öffentlichen Bereich genutzt wird, um die Bevölkerung zu erreichen und anzusprechen.

II. Historische Sprachentwicklung und soziolinguistische Erklärungsansätze
1 Entwicklung der luxemburgischen Mehrsprachigkeit

„It is impossible to understand societal multilingualism fully without understanding something of the historical patterns that lead to its existence“ (Fasold 2004: 9).

Auf dem Gebiet, auf welchem sich das heutige Großherzogtum befindet, wurde über Jahrhunderte hinweg durch wechselnde Dynastien, durch Einwirkungen von außen und die Entstehung des Nationalstaates im Inneren, mal mehr der germanische und mal mehr der romanische Spracheinfluss gestärkt (vgl. Gilles 2009: 185).1

Die luxemburgische Territorialgeschichte begann im Jahr 963 als Siegfried aus dem Ardennergeschlecht einen Felsvorsprung an der Alzette erwarb. Entlang der kleinen Burg Lucilinburhuc, die er zwischen 963 und 987 dort errichten ließ, entwickelten sich eine Stadt und Siedlungen auf germanophonem Sprachgebiet (vgl. Trausch 1989: 19). Im Jahr 1136 erlosch die männliche Linie dieser ersten Luxemburger Dynastie (vgl. Bruch 1953: 64). Luxemburg fiel an das westlich orientierte Haus Namur und stand nun stärker unter romanischem Einfluss (vgl. Fröhlich/Hoffmann 1997: 1159).2 Während des 11., 12. und 13. Jahrhunderts dehnte sich die Grafschaft immer weiter nach Westen auf französisches Sprachgebiet aus (vgl. Thewes 2008: 2). Ende des 13. Jahrhunderts umfasste sie zwischen Maas und Mosel ein ausgedehntes Gebiet beiderseits der Sprachgrenze (vgl. ebd.). Im Westteil wurde Wallonisch und im Ostteil eine ‚luxemburgische’ Varietät des Deutschen gesprochen (vgl. Trausch 2008: 15). Unter dem Haus Namur und der Herrschaft Heinrich des VII. wurde die französische Sprache zur Amtssprache erhoben und trat damit an die Stelle des Lateinischen (vgl. Hoffmann 1979: 26). Mit der Regentschaft Johanns des Blinden, Sohn Heinrich des VII., gewann das Französische weiter an Boden (vgl. ebd.: 27). Aus sprachpolitischer Sicht nahm Johann der Blinde eine bedeutende Regelung vor: Er teilte das luxemburgische Gebiet im Jahr 1340 verwaltungstechnisch auf, in ein quartier wallon und in ein quartier allemand. Die territoriale Zweisprachigkeit wurde so auch von offizieller Seite bestätigt (vgl. ebd.). Unter Balduin von Luxemburg mussten Staatsurkunden wieder auf Latein oder Deutsch verfasst werden, was das gehobene Bürgertum jedoch nicht daran hinderte weiterhin Französisch zu benutzen (vgl. ebd.). Die Bevölkerung ging in beiden Sprachgebieten ihren sprachlichen Gewohnheiten nach (vgl. ebd.). Unter Wenzel dem I., Sohn Johanns des Blinden, wechselte die Sprachenpolitik erneut: Das Französische wurde im offiziellen Bereich wieder massiv vorangetrieben (vgl. ebd.). Mit Wenzel dem II. begann dann die Zeit der Pfandherrschaften in Luxemburg (vgl. Pauly 2011: 42). Offizielle Urkunden wurden wieder ausschließlich auf Deutsch verfasst (vgl. Hoffmann 1979: 28). Im Jahr 1443 eroberte Philipp der Gute von Burgund die Festung und erhob seinerseits erneut das Französische zur Verwaltungssprache und offiziellen Sprache (vgl. ebd.; Timm 2014: 17). Nach der burgundischen Herrschaft geriet Luxemburg in spanische Regentschaft, die 1648 von den Franzosen beendet wurde. Von 1697 bis 1714 fiel es erneut an Spanien, zwischen 1714 und 1795 war es in österreichischem Besitz, um danach wieder bis zum Zusammenbruch des Napoleonischen Reiches als Département des Forêts zu Frankreich zu gehören (vgl. ebd.). Unter allen Regentschaften behielt die französische Sprache ihre Stellung als Verwaltungs- und Amtssprache (vgl. Hoffmann 1979: 28). Sie war darüber hinaus in ganz Westeuropa zur Kultur- und Bildungssprache avanciert, galt als Ausdruck der Moderne und als höfische Sprache per excellence (vgl. Fehlen 2013: 38a). Sowohl im wallonischen als auch im deutschsprachigen Landesteil wurde sie als Prestigesprache kultiviert.

 

Nach dem Zusammenbruch des Napoleonischen Reiches wurde die europäische Landkarte 1815 neu geordnet (vgl. Thewes 2008: 4). Durch den Wiener Kongress wurde Luxemburg zum selbstständigen Nationalstaat (vgl. ebd.). Wilhelm der I. von Oranien-Nassau wurde zum König der Niederlande ernannt und zugleich zum Großherzog von Luxemburg erklärt. Ihm wurde aufgetragen, eine unabhängige Verwaltung in Luxemburg aufzubauen, in Wahrheit betrachtete er Luxemburg als 18. Provinz der Niederlande (vgl. Timm 2014: 17; Trausch 2008: 17). Er führte die niederländische Sprache ein und erhob sie neben der französischen zur Amtssprache (vgl. Pauly 2011: 67). Niederländisch und Französisch wurden in der Schule gefördert und der deutsche Einfluss eingedämmt (vgl. Fehlen 2008: 47). Die belgische Revolution von 1830 und der Wille der Luxemburger Teil Belgiens zu werden, führten zu einer sprachpolitischen Kehrtwende Wilhelms: Nicht mehr Preußen, sondern Belgien erschien ihm nun als die größere Gefahr (vgl. Bruch 1953: 89). Er setzte fortan alles daran, das luxemburgische Volk zu germanisieren, um es von diesem Anschlussgedanken abzubringen (vgl. Fehlen 2008: 47f.).

Bis heute wird das Jahr 1839 als Jahr der Unabhängigkeit Luxemburgs gefeiert. Sprachhistorische Überblicksdarstellungen setzen oft hier an. Die zwei ersten Teilungen Luxemburgs (nach dem spanischen Erbfolgekrieg im 17. Jahrhundert und 1815 im Zuge des Wiener Kongresses) änderten nichts an der territorialgebundenen Sprachenverteilung. 3 Das änderte sich mit dem Londoner Vertrag 1839. Das wallonische Sprachgebiet Luxemburgs, mitsamt der Marktgrafschaft Arlon und der Grafschaft Bouillon, fiel an Belgien (vgl. LW15: 18.04.1989).4 Luxemburg verlor sein französischsprachiges Gebiet und nahm mit 2586 km2 seine heutige Ausdehnung an.

En 1839, les Luxembourgeois germanophones se retrouvent avec un État qu’ils n’ont ni recherché ni même souhaité. Ils sont au nombre de 170000 sur un territoire de 2586 km2. Cet État est l’un des plus pauvres d’Europe, avec une agriculture peu productive et une industrie travaillant encore selon des procédés surannés, alors qu’au même moment la Belgique est en train d’accomplir sa révolution industrielle (Trausch 2003: 214).

1839 war Luxemburg ländlich und rückständig. Die Mehrheit der Luxemburger hatte keine Schulausbildung und sprach nichts anderes als ihren deutschen Dialekt (vgl. Trausch 2008: 21).5 Das Verwaltungspersonal, das nach der Teilung des Landes übrig blieb und beim Aufbau des Verwaltungsapparates behilflich sein sollte, hatte dagegen eine französische, niederländische oder belgische Ausbildung absolviert (vgl. Trausch 2008: 19). Die gebildeten Eliten pflegten ebenfalls Französisch zu sprechen. Die französische Sprache blieb somit die dominierende Verwaltungssprache und die Sprache der Obrigkeit (vgl. Gilles 2009: 186). Ein Bruch zwischen den einfachen Schichten und der Elite musste verhindert werden. Französischkenntnisse waren darüber hinaus überlebensnotwendig, „[pour] maintenir ouvert l’accès vers la France et la Belgique“ und, um sich eine Eigenheit zu bewahren, die vor einer Vereinnahmung durch den großen deutschen Nachbarn schützen sollte (Trausch 2003: 216f.). Deshalb wurde von der Bevölkerung verlangt, in der Grundschule intensiv Französisch zu lernen (vgl. Trausch 2008: 20). Im ersten Schulgesetz aus dem Jahr 1843 wurde der Erwerb der französischen Sprache für alle Primarschulkinder obligatorisch. Dieser sprachpolitische Eingriff in das Bildungswesen nahm eine entscheidende und dauerhafte Auswirkung auf die Entwicklung des Landes und dessen nationales Selbstverständnis. So schreibt Voss (2012: 56), dass die „von der Verwaltungselite 1843 eingerichtete zweisprachige Primärschule […] sich zu einer zentralen Institution der Luxemburger Identität entwickel[t] [habe].“

Fünf Jahre später, 1848, fand diese Zweisprachigkeit Eingang in die luxemburgische Verfassung. In Artikel 30 wurde der gleichberechtigte Gebrauch beider Sprachen, des Deutschen und des Französischen, fest verankert.6 Jedem Luxemburger wurde die Wahl überlassen eine Angelegenheit auf Deutsch oder auf Französisch zu verhandeln:

L’emploi des langues allemande et française est facultatif. L’usage n’en peut être limité. Der Gebrauch der deutschen und der französischen Sprache steht jedem frei; es darf derselbe nicht beschränkt werden

(Artikel 30 der Verfassung des Großherzogtums Luxemburg aus dem Jahr 1848) (Mémorial 1848: 395).7

Rechtlich gesehen war die Sprachenlage Luxemburgs damit die eines zweisprachigen Staates (vgl. LW15: 18.04.1989). Die Bevölkerung des 1839 gegründeten Nationalstaates hätte ihre Umgangssprache nie als ‚Lëtzebuerger Sprooch’, Luxemburger Sprache, bezeichnet, noch behauptet bei dieser Mundart handele es sich um etwas anderes als einen deutschen Dialekt. Sie bezeichnete sie als Letzebourger Deutsch, als eine Varietät des Deutschen, und sah darin kein politisches Statement:

Certes, les Luxembourgeois de 1840, de 1870 ou de 1890 ont conscience de ne parler qu’un dialecte d’origine allemande – le ‘Moselfränkisch’ des linguistes, le ‘Letzebuerger-Deitsch’ de l’homme de la rue. Le recours au français et à l’allemand pour tout ce qui dépasse les réalités de la vie quotidienne leur paraît comme allant de soi, mais aussi comme étant dépourvu de toute signification politique. Ils vivent tranquilles à l’abri de la neutralité, dont ils ont sans doute tort de surestimer la protection, et pour le reste travaillent dur (LL10 : 11.10.1985).

Als der neu gewählte Abgeordnete C.M. Spoo am 10. November 1896 seine erste Rede in der luxemburgischen Abgeordnetenkammer in ebendiesem Dialekt hielt, reagierten die Anwesenden teils erheitert, teils aufgebracht über seinen Fauxpas (vgl. LW15: 18.04.1989). Spoo erreichte jedoch, dass am 9. Dezember 1896 eine Debatte in der Abgeordnetenkammer über die Verwendung des Letzebourger Deutschs im politischen Raum stattfand (vgl. Hoffmann 1979: 35). Die Mehrheit der Abgeordneten stimmte dabei gegen die Verwendung des Dialekts (vgl. ebd). Es blieb dabei, dass in dieser prestigebesetzten Domäne entweder Hochdeutsch oder – besser noch – Französisch benutzt werden sollte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Artikel 30 der Verfassung nicht mehr tragbar. Die luxemburgische Verfassung musste geändert werden. Mit Artikel 29 wird am 6. Mai 1948 folgender Passus eingefügt:

La loi réglera l’emploi des langues en matière administrative et judiciaire

(Artikel 29 der Verfassung des Großherzogtums Luxemburg, Verfassungsänderung im Jahr 1948) (Mémorial 1948: 685).

Der zweifache Überfall durch den deutschen Nachbarn und die Germanisierungsversuche der nationalsozialistischen Besatzung führten zu einer nachhaltigen Degradierung des Stellenwerts der deutschen Sprache in Luxemburg.8 Das Letzebourger Deutsch, das in den Köpfen der Luxemburger lange nichts anderes gewesen war als ein deutscher Dialekt, emanzipierte sich infolge dieser Erfahrungen aus dem deutschen Varietätengefüge. Luxemburgisch wurde und wird mit politischer Förderung ausgebaut.9 Es wird 36 Jahre dauern bis auf die Ankündigung vom 6. Mai 1948, die loi sur le régime des langues folgt, das Gesetz, welches der Sprachensituation in Luxemburg bis heute ihr gesetzliches Fundament gibt. 1984 wurde das Lëtzebuergesche zur offiziellen Nationalsprache der Luxemburger erklärt und die komplexe Sprachensituation, die Teil des nationalen Selbstverständnisses der Nation ist, erklärt. Dieser Gesetzestext wird in Kapitel VIII. ausführlich untersucht.

Loi du 24. février 1984 sur le régime des langues :

Art. 1er. Langue nationale

La langue nationale des Luxembourgeois est le luxembourgeois.

Art. 2. Langue de la législation

Les actes législatifs et leurs règlements d’exécution sont rédigés en français. Lorsque les actes législatifs et réglementaires sont accompagnés d’une traduction, seul le texte français fait foi. Au cas où des règlements non visés à l’alinéa qui précède sont édictés par un organe de l’Etat, des communes ou des établissements publics dans une langue autre que la française, seul le texte dans la langue employée par cet organe fait foi. Le présent article ne déroge pas aux dispositions applicables en matière de conventions internationales.

Art. 3. Langues administratives et judiciaires

En matière administrative, contentieuse ou non contentieuse, et en matière judiciaire, il peut être fait usage des langues française, allemande ou luxembourgeoise, sans préjudice des dispositions spéciales concernant certaines matières.

Art. 4. Requêtes administratives

Lorsqu’une requête est rédigée en luxembourgeois, en français ou en allemand, l’administration doit se servir, dans la mesure du possible, pour sa réponse de la langue choisie par le requérant.

Art. 5. Abrogation

Sont abrogées toutes les dispositions incompatibles avec la présente loi, notamment les dispositions suivantes : Arrêté royal grand-ducal du 4 juin 1830 contenant des modifications aux dispositions existantes au sujet des diverses langues en usage dans le royaume ; Dépêche du 24 avril 1832 à la commission du gouvernement, par le référ. intime, relative à l’emploi de la langue allemande dans les relations avec la diète ; Arrêté royal grand-ducal du 22 février 1834 concernant l’usage des langues allemande et française dans les actes publics […] (Mémorial 1984: 196f.).