Geld und Leben

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In einem der interessanten Gespräche, die ich mit ihm führen konnte, stellte er mir die Frage, wieso in Deutschland die Inflation der 20er-Jahre das grundlegende „wirtschaftliche Trauma“ darstellt, wo doch die Massenarbeitslosigkeit der 1930er-Jahre mit viel dramatischeren wirtschaftlichen und vor allem politischen Folgen verbunden war. Daraus ergibt sich auch der wesentliche wirtschaftspolitische Unterschied in der wirtschaftlichen Grundorientierung zu den USA, wo die wirtschaftliche Katastrophe der 1930er-Jahre das zentrale „Trauma“ darstellt. Eine einfache Antwort auf diese Frage besteht darin, dass die USA eben nie eine so dramatische Inflation erlebten, wie es in Deutschland und Österreich der Fall war. Eine komplexere Perspektive, die sich in diesem Gespräch ergab, betrifft die unterschiedliche soziale Betroffenheit der einzelnen Bevölkerungsgruppen durch Arbeitslosigkeit und Inflation. Speziell die Vernichtung des Geldvermögens des Mittelstandes durch die Hyperinflation hatte ein tiefes Trauma beim – durch die Ausrufung der Republik schon verunsicherten – meinungsbildenden Mittelstand hinterlassen, das dann nach Ende des Zweiten Weltkrieges speziell in Deutschland prägend wurde.

Massive Inflationen sind in der Regel die Folge von Kriegen, speziell von verlorenen. Als in den USA im Konnex des Vietnam-Krieges und der letztlich dadurch verursachten Dollar-Abwertung und Ölpreis-Erhöhung die Inflation Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre fast zehn Prozent erreichte, erhöhte die amerikanische Notenbank unter ihrem Präsidenten Paul Volcker die Zinsen dramatisch (1981: 14 Prozent) und nach etwa drei Jahren war die Inflation auf 3,7 Prozent zurückgegangen – freilich um den Preis einer, allerdings vorübergehenden, starken Rezession. Aus amerikanischer – und ökonomisch zutreffender – Sicht kann eine Notenbank bei energischem Eingreifen eine überbordende Inflation immer erfolgreich bekämpfen, wobei es Aufgabe der Notenbank in einem demokratischen System ist, die jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Kosten und Nutzen der Inflationsbekämpfung abzuwägen. Dem entspricht auch das „doppelte Mandat“ der US-Notenbank, nämlich die Zielsetzung, Preisstabilität und hohe Beschäftigung zu erreichen. In der Praxis ergibt sich hieraus eine leicht höhere Inflationstoleranz der USA gegenüber dem Euro-Raum – bei gleichzeitig expansiverer Fiskalpolitik und höherem Wachstum der amerikanischen Wirtschaft.

Für Deutschland und Österreich bedeutete die dramatische Inflation nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg den Zusammenbruch der wirtschaftlichen Ordnung und der bürgerlichen Welt. Aber auch hier gilt: Die dramatische Inflation war zwar ein monetäres Phänomen, sie hatte aber politische Ursachen. Zum einen war es im politischen Chaos der Nachkriegszeit nicht möglich, eine dem gesunkenen wirtschaftlichen Produktionspotenzial entsprechende Bewirtschaftung durchzusetzen. Vor allem aber waren die Regierungen in Deutschland und Österreich zur Sicherung der stets gefährdeten politischen Stabilität gezwungen, Gehälter und Sozialhilfen auszuzahlen, die weder durch Steuern, noch durch die Aufnahme von Schulden auf den Kapitalmärkten gedeckt waren.

Am deutlichsten sichtbar wurde das in der dramatischen Entwicklung, die der unmittelbare Auslöser für die schrankenlose Inflation in Deutschland wurde: Im Frühjahr 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet als Sanktion für Verzögerungen bei der Leistung der – unrealistisch hoch angesetzten – deutschen Reparationszahlungen. Als Gegenreaktion wurde im Ruhrgebiet der Generalstreik ausgerufen. Um diesen Generalstreik am Leben zu erhalten, erklärte sich die deutsche Reichsregierung bereit, die Löhne der Streikenden aus Staatsmitteln weiter zu zahlen. Dies konnte sie nur mittels Finanzierung durch die Notenbank – indem man „Geld druckte“ – und setzte so die sich selbst verstärkende Spirale des wirtschaftlichen Infernos in Gang. In der kollektiven Erinnerung der Deutschen ist nur dieses letztgenannte Phänomen präsent. Es ist aber wohl sinnvoll, auf die tieferen – politischen – Ursachen hinzuweisen.

Zu den politischen Aspekten gehört zweifellos auch der Umstand, dass es durch die massive Inflation nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner gab. Verlierer waren vor allem die bürgerlichen Kreise, deren Vermögen in Staatsanleihen – im Extremfall: Kriegsanleihen – angelegt war, Gewinner waren alle großen Schuldner, das heißt: neben dem Staat große Teile der Industrie und der Landwirtschaft. Es gab demnach zumindest zunächst durchaus politische Interessen gegen ein rasches Eindämmen der Inflation. Für die politisch ebenfalls gewichtigen bürgerlichen Kreise der Akademiker, der Journalisten, der Gewerbetreibenden bewirkte die massive Enteignung durch Inflation aber einen elementaren Vertrauensverlust in die junge Republik und das politische System der Demokratie. Dem entsprach die Forderung nach einer gegenüber dem politischen Geschehen völlig unabhängigen Notenbank mit absoluter Priorität auf Preisstabilität. Das Problem der Arbeitslosigkeit war für diese Teile der Bevölkerung von deutlich geringerer Bedeutung und daher von der Notenbank nicht zu berücksichtigen. Das Ideal konservativer Geldpolitik war der Goldstandard, der ja dann nach dem Ersten Weltkrieg sukzessive von den führenden Notenbanken der Welt wiedereingerichtet wurde. Wie in Kapitel 1 geschildert, hat dieses System wesentlich zur Vertiefung der Weltwirtschaftskrise beigetragen und wurde dann – meist zu spät – endgültig aufgegeben.

Die große Weltwirtschaftskrise ab 1929 traf demnach auf ein politisches Umfeld, das dieser Herausforderung weder wirtschaftswissenschaftlich, noch wirtschaftspolitisch gewachsen war. Hauptbetroffene waren in diesem Fall nicht das Bürgertum, sondern Arbeiter und kleine Angestellte. Der wirtschaftspolitische Gestaltungsspielraum war – sofern man ihn überhaupt nutzen wollte – durch die unter dem Eindruck der Hyperinflation geschaffenen, institutionellen Barrieren massiv eingeschränkt. Damit war die Politik der betroffenen Staaten von einer – teilweise gewollten – Unfähigkeit zu entscheidenden Gegenmaßnahmen bestimmt. In funktionierenden Demokratien wie in den USA und Skandinavien konnten die von der Krise betroffenen Gruppen einen geordneten – wenn auch vielfach bekämpften – politischen Wechsel erreichen. Deutschland und Österreich waren in mehrfacher Hinsicht nicht funktionierende und wirtschaftspolitisch vom Ausland abhängige Staaten. Diese Hilfslosigkeit führte zu einem massiven Vertrauensverlust in die demokratischen Parteien und letztlich – wie oben gezeigt – zum politischen Aufstieg des Nationalsozialismus.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die mit jedem Krieg verbundene Inflation durch rigorose Rationierungsmaßnahmen – mit freilich abnehmender Wirkung – zurückgestaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren dann die den Wiederaufbau tragenden Schichten vom Trauma der großen Inflation bestimmt, das Problem der Arbeitslosigkeit konnte aber durch die keynesianisch inspirierte Politik der Siegermächte entschärft und durch den nachfolgenden Wirtschaftsaufschwung über längere Zeit gelöst werden. Zentraler wirtschaftspolitischer Ankerpunkt war demnach die Schaffung einer unabhängigen Zentralbank mit der alleinigen Aufgabe der Sicherung der Preisstabilität. Das Trauma der großen Inflation sicherte – verstärkt durch kluge Öffentlichkeitsarbeit – der Deutschen Bundesbank eine geradezu mythische Stellung im Gefüge der Bundesrepublik. Damit entstand eine deutlich andere Akzentsetzung als etwa in der Welt der amerikanischen Politik. In Österreich errang die Nationalbank, die stärker sozialpartnerschaftlich gesteuert wurde, diesen „Mythos“ erst ab Mitte der 1970er-Jahre mit der Durchsetzung der „Hartwährungspolitik“, das heißt der Politik eines festen Wechselkurses zwischen Schilling und DM und damit der Aufgabe einer selbständigen Geldpolitik. Das „alte“, eigenständige, österreichische Nationalbank-Gesetz 1984 enthielt jedenfalls bis zur Anpassung an die EZB-Normen im Unterschied zur deutschen Gesetzgebung als Mandat der Notenbank neben der Verpflichtung zur Sicherung der Preisstabilität (§2 Abs. 3) auch die Verpflichtung, bei der Kreditpolitik den „volkswirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen“ (§2 Abs. 4), das heißt, auch die Entwicklung des Arbeitsmarktes zu berücksichtigen.

Bei den Bemühungen um die Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion war die zentrale Herausforderung die Frage, ob und wie Deutschland bereit war, die „mythische DM“ zugunsten des Euro aufzugeben. Letztlich wurde diese Frage gegen hinhaltenden Widerstand der Bundesbank politisch entschieden. Um den deutschen Befürchtungen entgegenzukommen, wurde aber jedenfalls die neue Europäische Zentralbank (EZB) bezüglich ihrer rechtlichen Grundlagen und ihrer wirtschaftspolitischen Orientierung nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank gestaltet. Das entsprechende Mandat im Art. 127 des EU-Vertrags (AEUV) lautet demnach: „Das vorrangige Ziel des ESZB (Europäisches System der Zentralbanken) ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten.“ Hinzugefügt ist der folgende Satz: „Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik der Union, um zur Verwirklichung der im Art. 3 festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen.“ Zu diesen im Art. 3, EU-Vertrag, festgelegten Zielen gehören die Zielsetzungen „hohes Beschäftigungsniveau“, „beständiges, nicht inflationäres Wachstum“, aber auch entsprechende Aspekte des Umweltschutzes.

Als Notenbanker kann ich mit diesem Mandat gut leben und habe mich ihm immer verpflichtet gefühlt. Nicht zuletzt, weil Preisstabilität nicht nur effiziente wirtschaftliche Planbarkeit bedeutet, sondern auch soziale Risiken gerade für Bezieher kleinerer Einkommen mindern kann. Es hat in der Auslegung des gesetzlichen Mandats immer wieder Diskussionen – auch im EZB-Rat – gegeben, wobei die „orthodoxe“ Bundesbank-Politik dahin geht, dass Preisstabilität ohnedies die Voraussetzung für das Erreichen aller anderen genannten Ziele sei, der letzte Satz daher überflüssig sei.11 In der langen Frist ist dem wohl zuzustimmen, für die kürzere – und oft gerade beschäftigungspolitisch relevante – Sicht kann es freilich erforderlich sein, mit Augenmaß die gesamtwirtschaftlichen Folgen geldpolitischer Maßnahmen mit zu berücksichtigen. Noch viel mehr gilt dies bei Maßnahmen zur Sicherung der Finanzmarktstabilität, im Speziellen zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Banken- und Versicherungssektors einer Volkswirtschaft. Gefährlich ist es aber auch aus meiner Sicht, die Geldpolitik zu überlasten, sie zum „only game in town“ zu machen. Auf diese Problematik wird bei der Diskussion der EZB noch eingegangen werden.

 

8Gerhard Botz: Nationalismus in Wien: Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39. Mandelbaum, Wien 2008.

9Vgl. dazu: Tobias Straumann: 1931: Debt, Crisis and the Rise of Hitler. Oxford University Press, Oxford 2019.

10Felix Butschek: Österreichische Wirtschaftsgeschichte – Von der Antike bis zur Gegenwart. Böhlau, Wien 2011.

11Otmar Issing: Der Euro – Geburt, Erfolg, Zukunft. Vahlen, München 2008, S. 56 f.

4.Die Welt der Wissenschaft

Während meines gesamten beruflichen Wirkens habe ich mich stets primär als Wissenschafter gesehen, freilich als Wissenschafter, der zeitweise innerhalb und zeitweise außerhalb der Institutionenwelt der Wissenschaft lebt. Ein bisschen wie ein Mönch, der zeitweise im Kloster und zeitweise außerhalb wirkt – wobei ich die Analogie nicht zu weit führen will. Mein Fachgebiet ist die Volkswirtschaftslehre, die ich als Teil der Sozialwissenschaften sehe. Der deutsche Begriff „Volkswirtschaftslehre“ ist aber eher veraltet, und die englische Bezeichnung „economics“ lässt auch mehr Spielräume für die Beachtung internationaler Aspekte und den Bezug zu anderen Wissenschaftsbereichen wie Soziologie, Geschichte und Mathematik bis hin zur Philosophie. Im Kern gilt noch die klassische Definition, die Alfred Marshall in seinen grundlegenden „Principles of Economics“ 1898 gab: „Political economy or economics is a study of mankind in the ordinary business of life; it examines that part of individual and social action which is most closely connected with the attainment and with the use of the material requisites of wellbeing.“

Heute ist die Wissenschaft der Ökonomie in eine Vielzahl von Spezialgebieten aufgegliedert, wobei mein wissenschaftliches Interesse primär dem Bereich der Makroökonomie, das heißt dem Verhältnis wirtschaftlicher Gesamtgrößen, und hier wieder den Fragen der Geld- und Fiskalpolitik gilt. Gerade in diesen Bereichen ist die Verbindung zu politischen Fragestellungen besonders eng, und es ist hier daher besonders wichtig, bei der wissenschaftlichen Arbeit zwischen faktenorientierter Analyse und wertbezogenen Schlussfolgerungen zu unterscheiden. Da ich selbst ja lange Zeit gleichzeitig Universitätsprofessor und Politiker war, war mir diese Unterscheidung stets besonders wichtig und wurde auch von meinen Studentinnen und Studenten so verstanden.

Mein Interesse für die Welt der Wirtschaft war, wie gezeigt, schon früh geweckt, wobei es sich zunehmend auf den Bereich der Volkswirtschaft und nicht der Betriebswirtschaft bezog. Wegen des volkswirtschaftlichen Schwerpunktes entschied ich mich, an der Universität Wien und nicht an der Hochschule für Welthandel zu studieren. Mitentscheidend war freilich auch mein Unbehagen mit dem politischen Geist, der damals nach meiner Einschätzung noch bei manchen Professoren und Teilen der Studentenschaft an der Hochschule herrschte. Eine dramatische Bestätigung meines Misstrauens ergab sich 1965 mit der Affäre Borodajkewycz. Borodajkewycz entstammte dem „katholisch-nationalen Lager“ und „würzte“ seine Vorlesungen an der damaligen Hochschule für Welthandel mit antisemitischen und Nazi-affinen Zwischenbemerkungen, unter großer Zustimmung vieler seiner Hörer.

Der Student (und spätere Finanzminister) Ferdinand Lacina zeigte eine entsprechende Mitschrift seinem Freund (und späteren Bundespräsidenten) Heinz Fischer, damals Sekretär im sozialdemokratischen Parlamentsklub. Fischer wies in einem Artikel auf das skandalöse Verhalten von Prof. Borodajkewycz hin, wurde von diesem geklagt und vor Gericht verurteilt. Er hatte sich nämlich geweigert, den Verfasser der Mitschrift zu nennen, da Lacina zu dieser Zeit noch studierte und negative Reaktionen gegen ihn auf der Hochschule befürchten musste. Heinz Fischer war also bereit, eine Verurteilung in Kauf zu nehmen, um einen Freund nicht zu gefährden – was für einen jungen Juristen am Beginn seiner Berufslaufbahn ein überaus mutiges und nobles Verhalten darstellt.

Ich habe diese Entwicklungen als Student mit höchstem Engagement mitverfolgt und schätze seit dieser Zeit Heinz Fischer, inzwischen einen meiner besten Freunde, als ehrlichen, zuverlässigen und mutigen Menschen. Nachdem Lacina sein Studium beendet hatte, konnte Heinz Fischer das Verfahren wieder aufnehmen, was dann letztlich zu einer Versetzung in den Ruhestand (mit um einen Prozent gemindertem staatlichem Ruhegenuss) von Prof. Borodajkewycz führte. Vorher hatte es eine gewaltige Demonstration gegen Borodajkewycz gegeben. Was für mich alarmierend und erschreckend war, war der Umstand, dass es als Reaktion darauf (unter dem Vorwand des Schutzes der „Freiheit der Lehre“) zu massiven Gegendemonstrationen rechtsgerichteter Studenten kam, was dann bei Zusammenstößen zum Tod eines betagten Demonstranten führte – das erste Opfer einer politischen Gewalttat in der Zweiten Republik.

Es ist aber auch wert hervorzuheben, dass die Verbreitung und Akzeptanz von Denkweisen in oft bedenklicher Nähe zu Nationalsozialismus und Antisemitismus bis auf kleine Restbestände heute aus Österreichs Hochschulen verschwunden sind. Zwar gibt es etwa noch schlagende Verbindungen, die auch durchaus beachtlichen Einfluss in Rechtsparteien haben – im Universitätsleben spielen sie aber keine Rolle mehr. Dies gilt auch für den „Ring Freiheitlicher Studenten“ (RFS), vielfach als ein Sammelbecken rechter Gruppierungen gesehen. War noch Mitte der 60er-Jahre der RFS an vielen Universitäten, speziell im Bereich Technik und Wirtschaft, größte oder zweitgrößte Studentengruppe, so ist sein Anteil bei den jüngsten Hochschülerschaftswahlen nur mehr minimal. Besonders freut mich diese Entwicklung bei „meiner“ Universität, der Wirtschaftsuniversität. Heute hat der RFS an dieser Universität überhaupt kein Mandat mehr in der Hochschülerschaft – ein klarer und vielleicht zu wenig beachteter Fortschritt und für mich ein Zeichen dafür, dass es sich lohnt, für eine humane und offene Demokratie einzutreten.

Ich begann jedenfalls 1962 mein Studium an der Fakultät für Rechtsund Staatswissenschaften an der Universität Wien. Diese Fakultät war historisch ja die Wirkungsstätte der großen Ökonomen der „ersten Schule der Österreichischen Nationalökonomie“ gewesen – hatte wie das österreichische Universitätswesen insgesamt durch die „Vertreibung der Intelligenz“ in den Jahren 1934 bis 1945 aber an wissenschaftlicher Qualität und internationaler Reputation massiv verloren. Dennoch begegnete ich dort immerhin einigen eindrucksvollen Forscherpersönlichkeiten und vor allem ambitionierten jungen Assistenten, zu denen ich dann gute Kontakte finden konnte.

Es gab an den österreichischen Universitäten (bis auf Innsbruck) noch kein eigenständiges Studium der Volkswirtschaftslehre, und so musste ich Rechts- und Staatswissenschaften studieren, um mich dann im dritten Abschnitt zur Nationalökonomie „durchzubeißen“. Ich hatte dadurch später etlichen Nachholbedarf, aber das Jus-Studium hat mir doch ein Verständnis für institutionelle Strukturen vermittelt und mir von der technischen Seite her in meiner Arbeit als Politiker und im Bankwesen durchaus genutzt. Es war damals ein leichtes Studium, immer wieder unterbrochen durch „Bummel-Semester“. Ich hatte daher Zeit für meine Arbeit im ÖGB und für meine politischen Anfänge, worüber ich noch berichten werde.

Daneben war ich noch einer ganz anderen Welt verbunden, nämlich der „Akademischen Vereinigung für Außenpolitik“ (AVA) als der Jugendgruppe der Österreichischen Liga für die Vereinten Nationen. Für mich war die Mitgliedschaft in dieser Vereinigung ein Weg, meinem Interesse für internationale Fragen in der damals noch recht abgeschotteten österreichischen Welt folgen zu können. Es gab hier ein nettes Büro in bester Lage in der Bösendorferstraße, wo auch der Präsident der Liga, ein früherer Präsident der Österreichischen Industriellenvereinigung, quasi seinen Pensionssitz hatte. Er kontrollierte genau, ob die jungen Leute im Zimmer neben seinem Büro auch korrekt angezogen waren – hatte aber bei dieser Gruppe, die sich als junge Diplomaten fühlten, selten etwas auszusetzen. Interessanterweise gab es unter diesen „Kindern aus gutem Hause“ einige, die sozialdemokratischem Denken sehr nahestanden. Ich wurde dann zum stellvertretenden Vorsitzenden dieser Vereinigung gewählt, und einige Teilnehmer und Teilnehmerinnen der damals durchaus hitzigen Diskussionen zählen bis heute zu meinen besten Freunden.

Studienmäßig habe ich ein tieferes Verständnis für den Bereich der Wirtschaftswissenschaft aber erst gefunden, als ich nach wenig anregenden Studienjahren an der Universität Wien und einem Aufenthalt am Institut für Höhere Studien Assistent bei Prof. Kurt Rothschild an der Universität Linz wurde. Ich kam hier in eine in vieler Hinsicht spezielle, positive Ausgangsposition: Kurt Rothschild hatte in den Jahren seiner erzwungenen Emigration in Großbritannien studiert und dort die „keynesianische Revolution“ unmittelbar miterlebt. Er war der im Ausland bestbekannte und meist publizierende Ökonom Österreichs. An Österreichs Universitäten – gerade im Bereich der Volkswirtschaftslehre, damals ein Hort konservativer Mittelmäßigkeit – bekam er allerdings lange keinen Lehrstuhl, da er als „linker Keynesianer“ gesehen wurde.

Rothschild arbeitete – durchaus zufrieden – als Referent für Außenwirtschaft im Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung. Die Berufung an die neugegründete Universität Linz gab ihm aber die Möglichkeit, seine angelsächsisch geprägten Vorstellungen einer Universität in die Praxis umzusetzen. Das bedeutete harte und intensive Arbeit mit seinen Assistenten, die er ermunterte, früh und unter ihrem Namen zu publizieren. Dies sehr im Gegensatz zu meinen bemitleidenswerten Kollegen an den Wiener Universitäten, deren Arbeiten vielfach vom jeweiligen Professor unter seinem Namen veröffentlicht wurden und die sich darüber hinaus mit eigenen Publikationen zurückhielten, aus Angst vor ihren überaus kritikfreudigen – aber selbst nicht publizierenden – Kollegen.

An unserem Institut in Linz lernten wir dagegen, in zwei Linien des wissenschaftlichen Ansatzes zu arbeiten. Zum einen die empirisch fundierte, problemorientierte Analyse im Stil des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung, deren Monatsberichte ich schon in meiner Studentenzeit laufend verfolgt hatte. Ziel war – und ist – eine, in heutiger Terminologie, „evidenzbasierte“ Politik zu ermöglichen. Zum anderen Theorie-orientierte Arbeit auf Basis der jüngsten, speziell angelsächsischen Literatur, wobei stets auch das Kriterium der praktischen Relevanz zu beachten war. Zwei entsprechende Leitsätze Rothschilds haben mich stets in meiner Arbeit als Wissenschafter begleitet und mich bei Themen- und Methodenwahl12 bestimmt: „Es ist besser, eine wichtige Frage zu stellen, als eine unwichtige zu beantworten.“ Und: „Es ist besser, eine Frage ungefähr richtig, als präzise falsch zu beantworten.“

Für sich selbst und für andere war Rothschild von einem strengen Arbeitsethos und Leistungsprinzip beseelt – dies galt auch gegenüber den Studierenden, deren Betreuung wir sehr ernst nahmen, wo Rothschild uns aber auch ermahnte, strenge Prüfer zu sein. Nach dem Studium, erklärte er, spielten Protektion und Familienbeziehungen ohnehin wieder eine große Rolle, daher seien strenge allgemeine Leistungskriterien für Kinder aus nicht-privilegierten Familien das einzige Mittel, sich positiv zu differenzieren.

Zu dem inspirierenden Arbeiten in meiner unmittelbaren wissenschaftlichen Umgebung kam das einmalige Erlebnis, an der Gestaltung einer neuen Universität mitwirken zu können. Die Errichtung der Universität war ein jahrhundertealtes Anliegen des Landes Oberösterreich, des wohlhabenden Kernlandes der österreichischen Industrie. Land und Stadt waren daher bereit, großzügig zu investieren, sei es im Anwerben exzellenter Lehrender, sei es im Aufbau eines wunderschönen Campus in einem alten Schlosspark. Als ich nach Linz kam, war das neue Gebäude der Universität noch gar nicht bezugsfertig, wir konnten mit den Architekten gemeinsam planen, und es entstand so eine enge Beziehung zu der weitblickenden Gruppe von Persönlichkeiten, die gegen viele Widerstände die Errichtung der Universität durchgesetzt hatten.

 

Auf der Universität selbst herrschte durch ihre – damals – geringe Größe auch eine enge Beziehung zwischen den einzelnen Wissenschaftsbereichen, aus denen sich Freundschaften entwickelten, die bis heute anhalten. Es hat sich hier eine Freundschaftsgruppe entwickelt, die über Fach- und politische Grenzen weit hinausgeht. Bis heute besteht hier ein starkes Gemeinschaftsgefühl in Oberösterreich, aber auch in Wien, wo sich unsere „Linzer Gruppe“ regelmäßig trifft. Gemeinsam hat uns alle die große Persönlichkeit von Kurt Rothschild geprägt, wobei meine Frau und ich auch das große Glück einer lebenslangen persönlichen Freundschaft mit ihm und seiner klugen und hilfsbereiten Frau Vally hatten.

Auch zu den Studierenden ergab sich ein enges und vertrauensvolles Verhältnis. Die soziale Struktur der Studierenden unterschied sich deutlich von dem, was ich aus Wien kannte. Viele der Studierenden kamen aus Familien, wo es bisher noch nie einen Akademiker gegeben hatte, viele etwa aus kinderreichen Familien aus dem Mühlviertel. Diese Studentenschaft war insgesamt erfüllt von einer Kultur der Arbeitsamkeit, der intensiven Bereitschaft zur Aufnahme von Wissen und neuen Lebensformen – und auch der Ehrlichkeit und Geradlinigkeit. Schwindeln gab es nicht, und auch kein Feilschen um Noten in den Sprechstunden, wie ich es später an der Wirtschaftsuniversität in Wien intensiv erlebt habe. Der spätere Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, auch er erster Akademiker in einer Familie aus dem Mühlviertel, hat in seinen Memoiren diese Welt aus der Sicht eines ehemaligen Studenten beschrieben.13 Mit vielen meiner ehemaligen Studenten ergaben sich gute weiterführende Kontakte – zwei von ihnen standen mir später als Finanzminister gegenüber.

Insgesamt, vielleicht ein bisschen verklärt im Rückblick – es war eine Lust, Wissenschafter zu sein.

Rothschild drängte uns sehr, an internationalen Kongressen teilzunehmen, und ich hatte auch schon einiges im Ausland publiziert. Bei einem Seminar in Salzburg im Schloss Leopoldskron, heute Salzburg International Seminar, mit dem ich weiter in guter Verbindung stehe, traf ich Professor Fritz Machlup, der schon in den 1930er-Jahren dem bedrückenden geistigen Klima Österreichs entflohen war und nun als weltweit führender Experte für internationale Währungsfragen an der Universität Princeton lehrte. Nach Ende des Seminars wollte er nicht alle seiner Bücher wieder in die USA mitnehmen und schenkte mir eines mit der Widmung: „Ewald, get out of Austria.“ Meine Antwort: Gern, aber wie? Machlup arrangierte dann, dass ich an dem harten Bewerbungsprozess um ein „American Learned Societies Fellowship“ teilnehmen konnte. Ich bekam letztlich dieses renommierte Fellowship für einen Aufenthalt am Ökonomie-Department der Harvard Universität.

Es war ein sehr großzügiges Fellowship. Ich konnte mit meiner Frau für die Jahre 1971/72 in die USA fahren, und es brachte mir einen Höhepunkt nicht nur meines wissenschaftlichen Lebens. In Harvard war ich mit zwei Professoren speziell eng verbunden: mit dem im amerikanischen Sinn „liberal“, also eher sozialdemokratisch orientierten Prof. Richard Musgrave, dem führenden Finanzwissenschafter seiner Zeit, und mit Prof. Martin Feldstein, einem republikanisch orientierten Makroökonomen und unter Präsident Nixon Vorsitzender des Council of Economic Advisors. Es war eindrucksvoll zu sehen, wie zwei Wissenschafter von unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Orientierung respektvoll und wissenschaftlich seriös miteinander umgingen. Ich habe den Kontakt mit Harvard ja bis heute erhalten und dort auch immer wieder Vorträge und Seminare gehalten. Der sehr wirtschaftsliberale und (ich sage ausdrücklich nicht aber) menschlich hervorragende Prof. Feldstein kam dann über viele Jahre zu Vorträgen und Opernbesuchen zu uns nach Wien.

Was mich immer wieder an der Wissenschaft fasziniert, ist die große internationale Offenheit und Gemeinschaft. Es ist ein Austausch unter Menschen mit gleichen Interessen in ihren jeweiligen Fachgebieten, sie ermöglicht durch die weltweite Vernetzung eine Fülle von Anregungen und Kooperationen. Es ist eine Welt, in der ich mich sehr wohl fühle. Ich hatte das Glück, in meinem Fachgebiet relativ früh Teil des internationalen Netzwerkes zu werden, und ich habe mich stets sehr bemüht, jungen Wissenschaftern, speziell meinen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, auch Zugänge zu dieser anregenden Welt der internationalen Wissenschaft zu verschaffen.

Die Zeit meines Aufenthaltes in Harvard fiel zusammen mit einer tiefgreifenden Umwälzung im internationalen Währungssystem. Noch im letzten Jahr vor Ende des Krieges hatten die siegreichen Staaten im amerikanischen Kurort Bretton Woods ein neues Weltwährungssystem entwickelt, um ein Chaos wie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu verhindern. Es ging einerseits um Aufbauhilfen im Wege der neu gegründeten „Weltbank“ und andererseits um ein System stabiler Wechselkurse unter der Ägide des „Internationalen Währungsfonds“ (IWF). Angelpunkt dieses Systems war der US-Dollar als Währung der damals einzigen leistungsfähigen Volkswirtschaft. Der US-Dollar war wieder in einem festen Umtauschkurs zum Gold von 35$ pro Unze definiert. Heute liegt der Goldpreis bei rund 1.800 $ pro Unze – mit steigender Tendenz. Ausländische Notenbanken (und nur sie!) konnten die Ausfolgung von Gold gegen die Einzahlung in Dollar verlangen. Dieses „Bretton-Woods-System“ hat auch in der Tat dazu beigetragen, dass die wirtschaftliche – und auch politische – Entwicklung der Teilnahmestaaten ungleich besser verlief, als das nach dem Ersten Weltkrieg der Fall gewesen war.

Mit dem raschen Aufstieg der europäischen Wirtschaft erwiesen sich freilich nach einiger Zeit der Dollar als überbewertet beziehungsweise die europäischen Währungen als unterbewertet. Dies galt speziell für Deutschland, wo die unterbewertete DM das „Exportwunder“ massiv stützte, gleichzeitig aber über die Importseite inflationäre Tendenzen befürchten ließ. Diese Entwicklung führte in Deutschland zu schweren Konflikten zwischen Regierung und Bundesbank hinsichtlich der Notwendigkeit, beziehungsweise Wünschbarkeit einer Aufwertung der DM gegenüber dem US-Dollar.

Auf der internationalen Ebene eskalierte dieses Dilemma mit der immer intensiveren kriegerischen Involvierung der USA in Vietnam. Wie jeder Krieg führte das zu inflationären Tendenzen, zu massiven Leistungsbilanz-Defiziten und damit zu einer Abschwächung der Position des US-Dollar. Einige europäische Notenbanken, speziell die Frankreichs, waren nun nicht mehr bereit, immer mehr Währungsreserven in Dollar zu halten, sondern verlangten stattdessen die Lieferung von Gold zum historisch festgesetzten Preis. Um nun ein „Ausrinnen“ der amerikanischen Goldreserven zu verhindern, beendete die amerikanische Regierung unter Präsident Nixon am 15. August 1971 einseitig die Umtausch-Verpflichtung in Gold. Dieses „Schließen des Goldfensters“ bedeutete den Zusammenbruch des bisherigen Bretton-Woods-Systems und den Übergang von einem System fester Wechselkurse zu dem heute bestehenden Weltwährungssystem flexibler Wechselkurse. Man kann sich leicht vorstellen, dass solche dramatischen Entwicklungen von intensivsten wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionen begleitet und zum Teil mitgestaltet waren. Harvard war ein Zentrum dieser Überlegungen. Wir jungen Ökonominnen und Ökonomen hatten die Gelegenheit, laufend mit Professoren, die zwischen Harvard und Washington pendelten, zu diskutieren und mitzuerleben, wie es bei weitgehender Unsicherheit über ihre Effekte schrittweise zu Entscheidungen von größter Tragweite kommt.