Geld und Leben

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2.Frankfurter Hof, Thomas Mann-Suite. Wofür ich arbeite

Nach langen und oft mühsamen Sitzungen in der Europäischen Zentralbank war mein Refugium meist das altehrwürdige Hotel Frankfurter Hof. Ich schätze dieses solide und gut geführte Hotel. Vom ersten Augenblick an war mir besonders die bequem eingerichtete Bibliothek sympathisch, ebenso die „Autoren-Bar“, ein traditionelles Zentrum der Frankfurter Buchmesse. Etwas provokant fand ich, dass vor dem Hotel regelmäßig ein Bentley mit Kennzeichentafel der berüchtigten Schweizer Steueroase Zug parkte.

Im Lauf der vielen Jahre hatte sich eine vertraute Beziehung mit manchen der freundlichen und aufmerksamen Mitarbeiter ergeben. Im Besonderen galt dies für den legendären Concierge Jürgen Carl. Ich hatte auch sein sympathisches Buch „Der Concierge: Vom Glück, für andere da zu sein“ gelesen, ihn darauf angesprochen, und so entstand ein geradezu freundschaftliches Verhältnis. Dies führte dann auch dazu, dass er mich von Zeit zu Zeit, wenn sie gerade frei war, als „Upgrading“ in der Thomas Mann-Suite des Hotels einquartierte. Die Thomas Mann-Suite, inzwischen durch Renovierungen nicht gerade verbessert, bestand aus mehreren großen Räumen mit Blick auf den schönen Vorplatz des Hotels (und den eindrucksvollen Turm der Commerzbank), möbliert im „Wirtschaftswunder-Stil“ der 60er-Jahre und versehen mit einer Bibliothek, in der selbstverständlich sämtliche Werke des von mir hoch verehrten Thomas Mann vertreten waren. Man konnte sehr gut das Lob Thomas Manns in einem Brief an seinen Bruder nachvollziehen. Dieser Brief, der in Faksimile im Eingangsraum zu lesen war, war, vielleicht mit kleinen Abstrichen, auch für mich gültig: „Was ein wirkliches Grand Hotel ist, habe ich erst in Frankfurt wiedergesehen, im ‚Frankfurter Hof‘. Da weiß man doch, wofür man zahlt, und thuts mit einer Art Freudigkeit.“

In diesen stimmungsvollen Räumen, in die ich mich nach den Sitzungen der EZB zurückziehen konnte, entstand die Absicht, ein Buch zu schreiben, das nicht vom Zwang zu Objektivität und Wissenschaftlichkeit geprägt ist, sondern in dem ich mir ein subjektives Erzählen, ein gemütliches Erinnern erlaube. Also kein weiteres Buch der von ehemaligen Notenbankern und Politikern gern gepflegten Serie „Wie ich die Welt/Europa/den Euro rettete“ – was in meinem Fall auch nicht sehr glaubwürdig wäre. Es ist einfach ein Bericht aus einem arbeitsamen Leben. Ich schöpfte dabei aus dem seltenen Glück, in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens Erfahrungen sammeln zu können – als Wissenschafter, als Politiker und als Banker im nationalen wie im internationalen Rahmen.

Meine Freude, in der Thomas Mann Suite zu logieren, beruhte auf meiner lebenslangen Verbundenheit mit dem Werk und der Persönlichkeit von Thomas Mann. Mein Lieblingsbuch ist der „Zauberberg“. Wenn ich Entspannung suche, lese ich mit immer neuem Vergnügen seine Novellen. Das Leben und Werk von Thomas Mann ist der Weg vom Beobachter des Bürgerlichen über den dummen Nationalismus hin zu einem kultivierten, aber wo erforderlich, auch kämpferischen, bürgerlichen Demokraten – wie ich es sehe: zu einer weltoffenen, sozialdemokratischen Perspektive. Dies ist verbunden mit seiner Bewunderung für das Wirken von Franklin Delano Roosevelt, dem er wohl in seiner „Josephs-Trilogie“ ein Denkmal gesetzt hat.

Heute gehört Thomas Mann zu den Autoren, die bekannt, aber kaum mehr im geistigen Leben präsent sind. Seine Sprache ist der Generation meiner Kinder und erst recht meiner Enkelkinder nicht mehr nahezubringen – und damit leider auch nur mehr sehr schwer der Geist einer kultivierten, aufgeklärten und verantwortungsbewussten „bürgerlichen Sozialdemokratie“. Er ist von seiner Geisteshaltung eng verbunden mit dem großen Ökonomen John Maynard Keynes, der mich nicht nur als Wirtschaftstheoretiker entscheidend beeinflusst hat, sondern als Verkörperung einer Lebenshaltung, die für Werte des Humanismus einsteht. Dies im Gegensatz zur sozial-darwinistischen Grundhaltung des wirtschaftlichen Liberalismus, wie er von Friedrich August von Hayek und den Anhängern der heutigen „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“ vertreten wird – wobei sich dies sehr unterscheidet von den „klassischen Vertretern“ der „Österreichischen Schule“, wie den eminenten Ökonomen Carl Menger, Eugen Böhm von Bawerk und Friedrich Wieser. Als „Entsprechung“ zu meinen Leitbildern Thomas Mann und John Maynard Keynes habe ich in meinem Lebensweg zwei Persönlichkeiten gefunden, die mir unmittelbar Vorbild und Lehrer wurden: Als Politiker Bruno Kreisky und als Ökonom Kurt W. Rothschild – zu beiden später mehr.

Ich hatte als Student lange briefliche, etwas verspielte Diskussionen mit einem Freund, der in Berlin studierte, bei denen es um eine Gegenüberstellung von Thomas Mann und Bertolt Brecht ging. 1968 besuchte ich diesen Freund in Berlin, der in einer Kommune in einem abbruchreifen Haus in einer ehemals eleganten Wohnung lebte, wo aber der Fußboden im großen „Berliner Zimmer“ schon so schief war, dass ein Sessel, wenn man aufstand, hinunterrutschte. Ich hatte für die politischen Anliegen der Studentenbewegung viel Sympathie, war aber von der hemmungslosen Emotionalität und dem für mich „sehr deutschen“, autoritären Verhalten abgestoßen. Erst später habe ich auch für Bertolt Brecht Verständnis und Sympathie gefunden und entdeckt, wie viel Menschlichkeit hinter seinem Zynismus steckt. Als ich dann bei einem Besuch im Berliner Brecht-Haus in der Chausseestraße 125 entdeckte, dass seine aus Wien stammende Frau Helene Weigel für den Brecht’schen Frühstückstisch schönes österreichisches Augarten-Porzellan verwendete, war ich mit Brecht vollends versöhnt. Sein Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ möge ein Leitmotiv dieses Buches sein. Geht es doch darum, wie sehr auch der Erfolgreiche aufgebaut und umgeben ist von den Mühen vieler Menschen.

Bertold Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters

Wer baute das siebentorige Theben?

In den Büchern stehen die Namen von Königen.

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?

Und das mehrmals zerstörte Babylon,

Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern

Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?

Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war,

Die Maurer? […]

Cäsar schlug die Gallier.

Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte

Untergegangen war. Weinte sonst niemand?

[…]

So viele Berichte, So viele Fragen.

Die hier zentrale Frage ist die nach der sozialen Einbindung von Arbeit, nach der gesellschaftlichen Struktur, in der und für die wir arbeiten. Ich werde in einem späteren, abschließenden Kapitel auf das weite Feld von Lebensanschauung und Lebenshaltung noch speziell eingehen. Im Folgenden möchte ich meine ganz persönliche Befindlichkeit darstellen – in welchem Umfeld und wofür ich arbeite.

Bei der in Umfragen gern gestellten Frage nach der persönlichen Identität ist meine Antwort die Reihenfolge Österreicher, Europäer, Weltbürger. Mein zentraler Bezugs- und Erfahrungsbereich ist zweifellos Österreich, wo der größte Teil meiner Familie lebt, wo ich aufgewachsen bin und wo ich berufliche und politische Verantwortung übernommen habe. Im Rahmen dieser österreichischen Identität gibt es freilich wieder eine Vielzahl regionaler Identitäten, in meinem Fall Wien und Oberösterreich. Ich bin in Wien in einer, wie es so schön heißt, „gutbürgerlichen“ Familie aufgewachsen. Insgesamt ein intellektuell vielfach durchaus progressives, arbeitsames und kulturell aktives Milieu, in dem ich mich ohne Anstrengung und Widerstand entwickeln konnte. Es war eine geistig anregende, sozial aber weitgehend in sich geschlossene Welt mit der Gefahr einer zu frühen und zu leichten Zufriedenheit.

Linz war dann meine Rettung. Wie ich später noch detaillierter schildern werde, hatte ich das Glück, als Assistent von Prof. Kurt Rothschild am Aufbau einer völlig neuen Hochschule, der heutigen Johannes-Kepler-Universität, mitzuwirken. Eine – kluge – Bedingung dafür war, dies nicht als Reisender zu machen, sondern nach Linz zu übersiedeln. Das hatte zunächst die positive Folge, dass meine Frau und ich sehr jung heirateten. Wir beide kannten in Linz zunächst niemanden und hatten dann die Chance, unser Leben selbstständig und mit eigenem Einsatz einzurichten. Es war eine sehr andere Welt, die sich in vielem von unserem wohlgepolsterten Dasein in Wien unterschied, und die einem auch half, Härte und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wir haben uns in dieser neuen, selbst erarbeiteten Welt sehr wohl gefühlt und als Zeichen der Dankbarkeit unserem in Linz geborenen Sohn den Namen des oberösterreichischen Landespatrons, Florian, gegeben. Inzwischen sind wir nach Wien zurückgekehrt. Wir sind Oberösterreich und seinen Menschen aber weiterhin durch einen Wohnsitz verbunden.

Bei der Frage, wofür und für wen ich arbeite, ist ein breiter politischer und philosophischer Hintergrund zu sehen, auf den ich später eingehen werde. Ganz unmittelbar und persönlich ist die Antwort aber: mitzuhelfen an der Arbeit für ein erfülltes und sicheres Leben der „einfachen“, arbeitsamen Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Ich schätze und bewundere die Personen, die sich um soziale Randgruppen und um spezielle Notfälle kümmern. Mein persönliches, fachliches und emotionales Engagement gilt aber der „Mitte der Gesellschaft“, den Menschen, deren Arbeit und Lebensführung zentral ist für ein stabiles und sozial gerechtes Gemeinwesen. Das Schicksal dieser Menschen ist wieder in großem Maß verbunden mit Sicherung und Ausbau der wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven einer demokratischen Gesellschaft. Es sind diese Menschen wie der Arbeiter, der aus dem Mühlviertel zur Voest pendelt, die alleinerziehende Angestellte im Architekturbüro, der aus bosnischer Familie stammende Monteur bei der Linz A.G., der Lehrling bei den ÖBB, die Wiener Geschäftsfrau von türkischer Herkunft, der Bäckermeister im Burgenland, der Polizist in Tirol und die vielen anderen, die in ironischer Herablassung speziell von Intellektuellen oft gerne mit dem zweifelhaften Klischee der „anständigen Menschen“ versehen werden. Diese Herablassung wird dann von „populistischen“, das heißt konkret: ewig-gestrigen, engstirnigen Gruppierungen, genutzt, um einen Gegensatz zwischen „Volk“ und „Eliten“ zu konstruieren. Nun gibt es zweifellos ökonomische und zum Teil auch kulturelle Interessenskonflikte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Aber es ist ein Grundelement einer humanistisch orientierten Politik, solche Interessenskonflikte in demokratisch geregelten Bahnen und nicht durch das Aufschaukeln von Ressentiments und Vorurteilen auszutragen. Es ist für eine Gesellschaft von zentraler Bedeutung, einen grundsätzlichen Konsens über gegenseitigen Respekt, sozialen Zusammenhalt und gegen Ausgrenzung zu sichern und konkret zu leben. Für mich persönlich jedenfalls stehen hinter diesen Menschen der Mitte der Gesellschaft Menschen, die ich schätze und für die ich arbeite, jeweils ganz spezifische Personen, mit denen ich im persönlichen, oft freundschaftlichen Kontakt stehe.

 

Natürlich ist mir bewusst, dass es eine Vielzahl anderer Bereiche gibt, die politisches Handeln und wissenschaftliche Analyse erfordern, und ich habe mich für viele dieser Bereiche auch engagiert. Aber der emotionale Bezugspunkt meines Handelns ist diese Gruppe „einfacher“, aber leider, wie die Geschichte zeigt, unter Umständen verführbarer Menschen in meiner österreichischen Heimat. Eben weil ich deren Interessen im Auge habe, weiß ich auch, dass das Schicksal dieser Menschen in einem Ausmaß, das ihnen oft gar nicht bewusst ist, von äußeren, internationalen Entwicklungen abhängt. Und das ist meine wesentliche Motivation für mein Engagement auf europäischer und internationaler Ebene.

Mein Engagement für ein vereintes Europa entstand zunächst aus dem Bewusstsein, dies sei der beste – ja der einzige – Weg zur dauerhaften Sicherung von Frieden in Europa. Ich wurde 1944 geboren und habe noch Erinnerungen an ein Wien voller Ruinen, ausgebombter Häuser, an Erzählungen von Not und Gefangenschaft. Es ist für meine Generation ein besonderes – und nicht selbstverständliches – Glück, in einer gefahrvollen Welt in ungestörtem Frieden leben zu können, und mein größter Wunsch ist es, dass auch künftigen Generationen dieses Glück zuteilwird.

Den emotionalen Bezug zu einem vereinten Europa gewann ich erstmals mit 18 Jahren. Ich hatte bei einem Aufsatzwettbewerb des Europarates den ersten Preis für Österreich gewonnen und konnte mit den Preisträgern aus acht anderen europäischen Staaten einen Sommer lang durch Europa fahren. Das Zusammenleben in dieser kleinen europäischen Gruppe, das gemeinsame Erleben der Vielfalt und der Gemeinsamkeiten Europas hat mich bleibend geprägt. Ich habe mich daher schon seit Studententagen auch institutionell-politisch für ein gemeinsames Europa eingesetzt, und es ist mir eine große Freude, nun in meiner wohl letzten öffentlichen Funktion als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik wirken zu können. Persönlich habe ich es stets als intellektuell und emotional bereichernd empfunden, in einer europäischen Institution wie der Europäischen Investitionsbank und speziell in der Europäischen Zentralbank zu wirken und so in der Praxis gemeinsame Arbeit für Europa zu erleben. Für kein Anliegen habe ich als Politiker so intensiv gearbeitet, wie für ein positives Ergebnis bei der Volksabstimmung 1994 für einen Beitritt Österreichs zur Europäischen Union.

Der Aspekt der „Weltbürgerschaft“ ist für mich differenziert zu sehen. Es gibt zweifellos eine Verantwortung aus der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Für die Mehrzahl der Menschen – und so auch für mich – kommt es bei der Konkretisierung dieser Verantwortung freilich zu Abstufungen nach emotionaler, räumlicher und geistesgeschichtlicher Nähe. Als Ökonom sehe ich die gewaltige ökonomische und politische Dynamik der Globalisierung – sowohl in Bezug auf ihre Chancen wie in Bezug auf ihre Herausforderungen – und ich bin bemüht, mitzuarbeiten an den Bestrebungen, für die Europäerinnen und Europäer eine positive Mitwirkung an dieser Dynamik zu erreichen. Von der menschlichen und politischen Seite her sehe ich die bereichernden Aspekte dieser Globalisierung im Zusammenkommen interessanter und international offener Menschen mit unterschiedlichem historischem Hintergrund, aber vereinbarer Werteorientierung. Es ist dies ein „Weltbürgertum“ auf der Basis einer gemeinsamen Sicht der Welt im Sinne von Aufklärung und gegenseitiger Achtung.

Ich habe dagegen erhebliche Probleme mit jenem Teil der Menschheit, der leider – noch? – in unterschiedlichen Formen beherrscht ist von religiöser und gesellschaftlicher Intoleranz und von Gewaltbereitschaft. Ich fühle mich aber auch fremd gegenüber manchen Mitgliedern jener strahlenden Managerklasse der Welt der kommerziellen Globalisierung, ausgebildet in exzellenten internationalen Schulen, durch zum Teil absurde Überzahlung ausschließlich gebunden an die Interessen ihrer multinationalen Dienstgeber. Diese „Multis“ sind ihre Heimat, und von diesen werden sie mit Absicht zu jeweils nur zeitlich begrenzten Aufenthalten in die jeweiligen „Gastländer“ geschickt. Zeitlich begrenzt um zu verhindern, dass sie sich mit den Interessen der jeweiligen Bevölkerung verbinden. Es ist dies das alte britische Kolonialprinzip der Verhinderung „to go native“, das zur Schaffung einer hochqualifizierten, bestens „vernetzten“, international völlig mobilen „Söldnertruppe des Kapitalismus“ führt.

Eine solche Perspektive ist freilich deutlich zu unterscheiden von der „Internationalität der Intellektuellen“, der ich mich voll zugehörig fühle. Die Internationalität der Intellektuellen habe ich am schönsten in meinen Erfahrungen als Wissenschafter, aber auch im Bereich internationaler Institutionen erlebt. Gute Wissenschaft muss international offen sein. Ich habe es stets als Privileg empfunden, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, habe wesentliche Anregungen meines Lebens von Studienaufenthalten und Gastprofessuren an europäischen und außereuropäischen Universitäten empfangen und hier auch viele persönliche Freunde gefunden. Entsprechend sehe ich es auch als Verpflichtung, für die weltweite Freiheit dieser „Republik des Wissens“ – der „République des Lettres“ zu kämpfen – eine Freiheit, die immer wieder durch autoritäre Regimes bedroht ist. So war ich zur Zeit des kommunistischen Regimes in Osteuropa bemüht, von Österreich aus Kontakte für ein offenes, kritisches Denken mit Angehörigen dortiger Universitäten zu halten. Auch heute bemühe ich mich als Präsident der Bruno Kreisky Stiftung für Menschenrechte gemeinsam mit meinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, bedrohten Intellektuellen zumindest kleine materielle und symbolische Hilfe zu leisten. Ich bin ein großer Bewunderer der ja vielfach angefeindeten, von George Soros initiierten und finanzierten Open Society Foundation. Im Sinne von Karl Popper, der auch für mich eine intellektuelle Leitfigur ist, wird hier nachhaltige, konkrete Arbeit für die Freiheit des Geistes geleistet. Wie wichtig dies nach wie vor selbst in Staaten der Europäischen Union ist, zeigt der tapfere Kampf der Central European University, die ich bei ihrem vom autoritären Orban-Regime erzwungenen Umzug von Budapest nach Wien nach Kräften unterstütze.

3.Mein Weg zur Ökonomie – Vollbeschäftigung und Preisstabilität

Geboren in Wien im Kriegsjahr 1944, konnte ich die folgenden Jahrzehnte des Friedens und des wachsenden Wohlstandes in Europa erleben. Die Familie meines Vaters hatte sich nach der Liquidierung der familieneigenen Bank zu einer noch immer wohlhabenden, aber wirtschaftlich extrem vorsichtigen „Hofratsfamilie“ entwickelt. Die Familie meiner Mutter war eine Offiziersfamilie. Mein Großvater, der viel älter war als meine Großmutter und den ich nie kennenlernte, wurde als Sohn des Leibarztes von Feldmarschall Radetzky noch in der Festung von Verona geboren, meine Mutter in einer requirierten Villa in Belgrad, wo mein Großvater als Offizier im Ersten Weltkrieg diente. Nach seinem Tod war meine Mutter stets auf Stipendien angewiesen, was zu einer manchmal extrem starken Leistungsorientierung führte, die mich zweifellos auch deutlich beeinflusst hat. Meine Schwester und ich wuchsen in einer Welt der klassischen Bildung und Kultur auf, die geprägt war vom Prinzip „mehr sein als scheinen“ und von Misstrauen gegenüber der Welt der Wirtschaft. Mein früh gewecktes Interesse für wirtschaftliche Zusammenhänge kam von außen und wurde von der Familie zuerst mit Misstrauen, später mit leicht ironischer Toleranz betrachtet.

Entscheidend waren hier zwei Onkel mit sehr unterschiedlicher Lebenserfahrung. Der eine war von extremer Korrektheit, in führender Position in einer internationalen Unternehmensgruppe tätig und wollte mich zu einem Schweizer Banker bestimmen. In diesem Sinn schenkte er mir zu meinem 15. Geburtstag ein Abonnement eines Schweizer Börsendienstes mit dem schönen Namen „Der Zürcher Trend zum Wochenend“. Verbunden war dies mit der Übergabe eines kleinen Aktiendepots, gemeinsam mit dem starken Rat, die darin enthaltenen Nestlé-Aktien nie zu verkaufen – ein Rat, den ich an meinen Sohn weitergegeben habe.

Der andere Onkel war das schwarze, aber eher „goldene“, Schaf der Familie. Seine Mutter entstammte einer sehr reichen Fabrikantenfamilie, er selbst wurde früh ein eher romantischer Linker, kämpfte zeitweise im Spanischen Bürgerkrieg und baute nach dem Zweiten Weltkrieg rasch wieder ein großes Vermögen auf. Er wohnte in einer prächtigen Villa in Döbling, fuhr riesige amerikanische Autos, war aber – wie er mir stets betonte – von der Instabilität des kapitalistischen Systems überzeugt. Dies äußerte sich eigenartigerweise darin, dass er in seiner Villa hinter jedem Bild Wandtresore voller Gold hatte. In der Tat kam es 1971 nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems zu einem massiven Anstieg des Goldpreises. Allerdings hatte mein Onkel nach einer Steuerprüfung bereits 1970 den größten Teil seiner Goldbestände verkaufen müssen – was ihn in seiner Sicht der Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems nur bestärkte.

Beide Onkel hatten je eine Tochter, aber keine Söhne, und wollten mich wohl entsprechend dem Geist der Zeit in ihrem Sinne formen – was ihnen nur in sehr geringem Maß gelang. Denn im Laufe meines Studiums erwachte meine Liebe zur Wissenschaft, und ich habe bei keinem meiner Onkel das geistige und materielle Erbe angetreten. Wohl aber entstand durch diese frühe Exponiertheit gegenüber unterschiedlichen wirtschaftlichen Lebensformen eine Vertrautheit mit interessanten Bereichen des wirtschaftlichen Lebens, insbesondere auch ein lebenslanges Interesse an dem Verfolgen und Interpretieren des Börsengeschehens, das ich stets analytisch hinsichtlich seiner Finanzierungsfunktion und nicht ideologisch betrachtete. Damit ergab sich wohl auch eine gewisse unmittelbare empirische Fundierung, die vielleicht stärker ist als bei manchen meiner Fachkollegen.

Mein nachhaltiges Interesse an gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen entwickelte sich jedenfalls aus politischen, historischen und gesellschaftlichen Perspektiven. Bis heute ist dabei für mich im besonderen Maß die Auseinandersetzung mit dem Faschismus prägend, speziell in seinen schrecklichen Ausprägungen in Österreich. Ich hatte von meinen Eltern schon früh über die Gräuel der Nazi-Zeit erfahren, eine tiefe emotionale Betroffenheit erlebte ich aber vor allem, als ich in den frühen 70er-Jahren in den USA lebte und dort Emigranten aus Österreich traf, die bereit und interessiert waren, einem jungen Österreicher ihre Erfahrungen weiterzugeben.

Meine Mutter war Schülerin eines privaten Mädchen-Gymnasiums gewesen, in dem Mädchen aus Familien der Wiener jüdischen intellektuellen Elite sehr stark vertreten waren. Sie hatte im Jahr 1938 ihren ehemaligen Mitschülerinnen, die sich ja nicht mehr auf die Straße wagen konnten, vielfache Hilfe leisten können, in einem Fall auch eine Verlobung ermöglicht. Viele dieser jungen Frauen haben sich in die USA retten können und waren in den 70er-Jahren, als ich an der Harvard Universität arbeitete, rührend bestrebt, meine Frau und mich einzuladen und zu verwöhnen.

 

Aus den vielen Gesprächen bei diesen Einladungen sind mir zwei prägende Erfahrungen geblieben. Zum einen: Der Mensch ist nicht gut „von Natur aus“ – er kann sich zum Guten wie zum Schrecklichen entwickeln. Es kommt darauf an, gesellschaftliche Umstände zu schaffen, die das Gute fördern und das Schreckliche bekämpfen. Aus der Kenntnis der Bestialität, die nicht nur in den KZ-Lagern, sondern schon in den schrecklichen Tagen des „Anschlusses“ in Österreich geherrscht hat, bin ich mir bewusst, wie dünn oft die Schicht der Zivilisation und des Anstandes sein kann, mit der – auch heute und weltweit – Gesellschaften leben, und wie wichtig es ist, schon bösen Anfängen zu wehren. Ich erinnere mich noch gut, wie mir bei einem dieser Abendessen mit jüdischen Freunden ein ehemaliger Arzt aus einem Wiener Gemeindebau erzählte, wie ihm im März 1938 eine Horde von Burschen, von denen er viele früher mit großem Einsatz ärztlich betreut hatte, die Fensterscheiben eingeschlagen hatte. Die Mutter eines dieser Burschen kam unmittelbar danach zu ihm, um sich zu entschuldigen, half ihm beim Aufräumen und erklärte, der „Bua“ sei halt in schlechte Gesellschaft geraten und der Vater schon so lang arbeitslos … Manche der jüdischen Freunde, die wir in Amerika getroffen haben, haben sich zu einem späteren Zeitpunkt dann doch entschlossen, Wien wieder zu besuchen, zu dem sie ja emotional doch eine starke Bindung hatten – trotz all der Schrecklichkeiten, die sie dort erlebt hatten. Meine Frau und ich haben diese Freunde dann bei vielen Spaziergängen begleitet und wir konnten das Gefühl mitempfinden, hier unter „normalen Menschen“ zu sein, bei denen man nicht wusste, wie sie oder ihre Verwandten sich in den Jahren der Nazi-Herrschaft verhalten hatten oder verhalten hätten.

Auf einer anderen Ebene habe ich aus den unmittelbaren Berichten über das Nazi-verseuchte Treiben an den österreichischen Universitäten der Zwischenkriegszeit (und der Vorläufer schon früher) gelernt, dass formale Bildung und Kultur kein Schutz gegen Unmenschlichkeit sind. Gerade aus dem intellektuellen Bereich können die Giftschwaden von Nationalismus und Rassismus auf eine gesamte Gesellschaft übergreifen – was in jüngerer Zeit etwa auch beim Zerfall Jugoslawiens tragisch zu beobachten war.

Wie Historiker und Philosophen richtig aufzeigen, haben Totalitarismus und Faschismus für ihr Wirksamwerden jeweils eine Vielzahl von Ursachen. Aber aufgrund vieler Gespräche mit Zeitzeugen und auch aus eigenen Analysen bin ich der Meinung, dass es in Österreich und Deutschland (wie in vielen anderen Staaten) zwar stets den Bazillus des übersteigerten Nationalismus und des Anti-Semitismus gab, dass der schreckliche Ausbruch im 20. Jahrhundert aber nicht erfolgt wäre, hätte es nicht die würgende Not der Weltwirtschaftskrise gegeben. Die Entwicklung der Nazi-Partei in Deutschland und Österreich korrelierte aufs Engste mit der entsetzlichen Entwicklung der Arbeitslosigkeit – und der Unfähigkeit der Wirtschaftspolitik in Deutschland und Österreich, dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Bei den letzten freien Wahlen in Österreich im Jahre 1930, also bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, kam die NSDAP nur auf 3 Prozent der Stimmen.8 Mit vollem Wirken der Wirtschaftskrise und gewaltiger Arbeitslosigkeit entstand aber dann bei vielen – nicht bei allen! – die Stimmung, die sich 1938 entlud. Auch in Deutschland war der Aufschwung der Nationalisten eng mit der wirtschaftlichen Notlage und der Unfähigkeit der Regierung, dagegen anzukämpfen, verbunden.9

Politisch noch dramatischer war der Rückgang der Arbeitslosigkeit nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Die expansive Wirtschaftspolitik der Nazis war zweifellos wesentlich durch ihre Kriegsvorbereitungen bestimmt – aus der Sicht der Arbeiterschaft aber bedeutete sie ein Ende von Massenarbeitslosigkeit. Diese expansive Politik war wieder in wesentlichen Teilen dadurch ermöglicht, dass die Deutsche Reichsbank – jedenfalls durch längere Zeit – bereit war, für die autoritäre Diktatur das zu tun, was sie der Republik verweigert hatte – nämlich de facto direkte Notenbank-Finanzierung für den Staat. Für das von Nazi-Deutschland mit wirtschaftlichen Sanktionen belegte Österreich, das weiterhin einer konservativen Finanzpolitik folgte, war in den Jahren vor 1938 der Unterschied zwischen der in Deutschland inzwischen erreichten Vollbeschäftigung und der Massenarbeitslosigkeit in Österreich politisch fatal. Zweifellos gab es eine Vielzahl von Gründen für den Zusammenbruch der Ersten Republik, aber es ist wohl nachvollziehbar, dass für viele Menschen das Beispiel Deutschlands als Ausweg aus existenzieller Hoffnungslosigkeit erschien – speziell auch für die politisch sensible Gruppe junger Männer. Dass nach dem „Anschluss“ die Arbeitslosenrate in kurzer Zeit rapid zurückging – von 22 Prozent im Jahr 1937 auf 12,9 Prozent und dann 3,2 Prozent in den Jahren 1938 und 193910 – trug wohl wesentlich zur raschen Akzeptanz der Nazi-Herrschaft auch im Bereich der Arbeiter und Angestellten bei. Mit zunehmendem Bewusstsein der Kriegsgefahr nahm diese Akzeptanz dann wieder ab – wogegen die NS-Regierung mit ungeheurem Propaganda-Aufwand und brutalem Terror ankämpfte.

Die Bedeutung der wirtschaftlichen Faktoren zeigte sich auch darin, dass eine der ersten Maßnahmen der einrückenden deutschen Truppen darin bestand, die durch eine verfehlte Politik des „harten Schilling“ angehäuften, erheblichen Goldreserven der Oesterreichischen Nationalbank sofort zu beschlagnahmen und den abnehmenden Währungsreserven der Reichsbank zuzuführen. Die dramatische Unfähigkeit der Regierungen in Deutschland und Österreich gegenüber den Folgen der Weltwirtschaftskriese stand in deutlichem Gegensatz etwa zu den Ansätzen eines New Deal in den USA oder der Politik Schwedens. Diese Unfähigkeit war zum Teil erzwungen durch eine kurzsichtige Gläubiger-Diktatur, sie war aber auch verursacht durch dramatisch falsche Ratschläge führender Wirtschaftswissenschafter jener Zeit, wie etwa eines F. A. von Hayek oder der orthodoxen Notenbanker in Österreich wie in anderen Staaten.

Eines der – leider seltenen – Beispiele dafür, dass es auch politisch und gesellschaftlich möglich ist, aus der Geschichte zu lernen, ist die internationale Reaktion auf die Finanzkrise 2007/2008 durch Finanzpolitik und Notenbanken. Die Finanzkrise hatte das Potenzial, sich zu einer neuen Weltwirtschaftskrise zu entwickeln. Ausgangspunkte waren wirtschaftspolitische Fehler, speziell eine überzogene Deregulierung des Bankensektors. Aber in der dann folgenden Krise war der internationale Konsens der Notenbanker, die Fehler der 1930er-Jahre nicht zu wiederholen. In diesem Sinn haben die Notenbanken wohl mitgeholfen, „die Welt zu retten“. Sie waren bereit, die drohende Illiquidität der Weltwirtschaft rasch durch unbegrenzte Kreditvergabe an das Bankensystem zu bekämpfen, und sie verhinderten Zusammenbrüche von Banken – und damit die massiven negativen Kettenreaktionen. Gleiches gilt für den entschlossenen Einsatz der Geld- und Finanzpolitik angesichts des dramatischen Einbruches der Weltwirtschaft im Zuge der Corona-Krise des Jahres 2020.

Ich werde auf diese Entwicklungen in den Kapiteln 13 und 20 noch näher eingehen. Hier möchte ich mich erinnern an ein Gespräch, das ich zu einem späteren Zeitpunkt mit Ben Bernanke, dem damaligen Präsidenten der US-Notenbank, hatte. Ben Bernanke hatte sich schon vor der großen Finanzkrise in einer langen wissenschaftlichen Karriere als Professor der Princeton Universität speziell mit der Krise der 1930er-Jahre beschäftigt. Ich war von Ben Bernanke schon von seiner akademischen Arbeit her sehr beeindruckt, ehe ich ihn auch persönlich kennenlernen konnte. Seine Familie kam aus dem Raum der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und in seiner Autobiografie zeigt eines der wenigen Fotos seine Großmutter als junge Ärztin im Wiener Franz-Josef-Spital im Jahr 1918.