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Der Philipperbrief des Paulus

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Der Philipperbrief des Paulus
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Eve-Marie Becker

Der Philipperbrief des Paulus

Vorarbeiten zu einem Kommentar

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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Die Veröffentlichung wurde unterstützt durch den Open-Access-Publikationsfonds der WWU Münster.

Professorin Dr. theol. Eve-Marie Becker

ORCID: 0000-0002-0398-6448

Neutestamentliches Seminar

Westfälische Wilhelms-Universität

Münster, Deutschland

DOI: https://doi.org/10.2357/9783772056888

© 2020 · Eve-Marie Becker

Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/den ursprünglichen Autor/innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Internet: www.narr.de

eMail: info@narr.de

ISSN 1862-2666

ISBN 978-3-7720-8688-5 (Print)

ISBN 978-3-7720-0399-8 (ePub)

Inhalt

 Der Philipperbrief des Paulus: Zur Einleitung in den vorliegenden Band1. Zur literarischen und theologischen Bedeutung des Philipperbriefes in der Rezeptions- und Auslegungsgeschichte2. Zum Aufriss des vorliegenden Bandes2.1. Der erste Teil (I)2.2. Teil Zwei bis Vier (II-IV)3. Kurzer Ausblick und Dank

  I. Zur Rezeption und Interpretation des Philipperbriefes: Von Lukas bis Ernst Lohmeyer

 I Paul and “Paul”: Paul’s letter to the Philippians in light of Acts 20:18-36*1. Luke’s reproduction of Paul in Acts 20:18ff.2. Conceptual analogies? Tacitus’s depiction of Seneca in and beyond ann 12-152.1. Remodeling the image of Seneca as a historical agent in ann 12-152.2. How history-writing “manipulates” letter-writing3. Some conclusions for the interpretation of Paul’s letter to the PhilippiansBibliography

 II Philip Melanchthon’s reading of Paul’s letter to the Philippians and contemporary exegesis*1. The quest2. Melanchthon’s interpretation of Philippians in the Loci Communes (1521)2.1. Melanchthon’s approach to Philippians in the Loci2.2. Melanchthon’s exegetical principles in his Loci in light of the “New Perspective”3. Melanchthon’s interpretation of Philippians in his Oratio (1546)Bibliography

 III „Der Apostel Paulus im Gefängnis“: Rembrandts Deutung 16271. Rembrandt – der Porträtmaler2. Zur Bildbeschreibung2.1. Ikonographie2.2. Attribute3. Der biblische Hintergrund4. Rembrandt – der protestantische MalerBibliographie

 IV The anxiety (Sorge) of the human self: Paul’s notion of μέριμνα1. Paul’s ultima verba on anxiety in Philippians2. 1 Cor 12 and 2 Cor 11: anxiety in community politics and ethics2.1. Paul’s anxiety as apostle: 2 Cor 11:282.2. Anxiety in community life: 1 Cor 12:24f.3. 1 Cor 7:32ff.: anxiety and individual decision-making3.1. Paul and sexual ethics: 1 Thess 4 and beyond3.2. Sexuality and anxiety: individual decision-making in 1 Cor 74. Paul’s explosure of the human selfBibliography

 V Der Philipperbrief in der Geschichte seiner Kommentierung im KEK1. Die erstmalige Kommentierung des Philipperbriefes im KEK durch H. A. W. Meyer (1847-1874/75)1.1. Der zeitgeschichtliche Kontext der Erstausgabe 18471.2. Die Anlage und Bedeutung des Meyer-Kommentars 18471.3. Die folgenden Auflagen des Meyer-Kommentars bis 1874 und die englischsprachigen Ausgaben der Jahre 1875 und 18892. Die Kommentierungen des Philipperbriefes durch A. H. Franke (1886) und E. Haupt (1897/1902)3. Die bislang letzte Kommentierung des Philipperbriefes im KEK durch E. Lohmeyer in den Jahren 1928/1930-19744. Die Auslegung von Phil 2,5/6ff. im VergleichBibliographie

  II. Zur Person und dem literarischen self-fashioning des Paulus

 VI Autobiographisches bei Paulus: Aspekte und Aufgaben1. Standortbestimmung2. Paulus, der Brief-Autor3. Autobiographie und Biographie – historische, literarische und anthropologische Aspekte3.1. Der historische Wert der Autobiographie3.2. Literarische Aspekte der Autobiographie3.3. Anthropologische Aspekte von Autobiographie4. Form und Funktion von Autobiographie bei Paulus4.1. Methodische Zwischenüberlegung4.2. Autobiographische Aussagen und Texte bei Paulus – Eine Übersicht4.3. Autobiographie und Individuierung5. Autobiographie bei Paulus: Rückblick und Ausblick5.1. Biographie und Geschichte5.2. Individuierung und Identitätsbildung5.3. Literarizität5.4. Theologie5.5. Charakter und PersonalitätBibliographie

 VII Die Person des Paulus1. Paulus als Person. Physiognomisches2. Paulus als Person. Eigenschaften3. Paulus als Autor und Autobiograph. Die Person über sich selbst4. Paulus als Apostel. Die Person des Paulus und die anderen Personen4.1. Paulus und Christus4.2. Paulus und die Apostel4.3. Paulus und die Gemeinden5. Paulus als Jude und ‚Christ‘. Der ‚Bruch‘ in der Person6. Paulus und sein Körper. Grenzen und Entgrenzung der Person I7. Paulus und das Eschaton. Grenzen und Entgrenzung der Person IIBibliographie

 VIII Paul as homo humilis1. Paul: The humble letter-writer2. Paul’s epistolary concept of humility in Philippians2.1. The ταπεινοφροσύνη as an ethical principle2.2. Narrative examples2.3. The apostle’s personal authority2.4. Paul’s personal ταπείνωσις2.5. Language of subordination2.6. A waiver of material prosperity2.7. Genus humile and genus medium3. Results and perspectivesBibliography

  III. Zur literarischen Welt des Briefeschreibers Paulus

  IX Paulus als frühkaiserzeitlicher Briefeschreiber 1. Paulus von Tarsus und seine Zeitgenossen im 1. Jh. n.Chr. 2. Paulus von Tarsus aus der Sicht des Lukas 3. Paulus von Tarsus, der reisende Briefeschreiber Bibliographie

 X How and why Paul deals with traditions1. Paul and the gospel “tradition”2. 1 Corinthians 15:1-11 and 11:23-253. Paul’s use of the Jesus traditions4. Other types of “traditions”5. Brief conclusionBibliographie

 

 XI Paulus in Philippi: Ethik und Theologie1. Paulus und die Götter der Anderen2. Das paulinische Wirken in Philippi nach der Darstellung des Lukas3. Das paulinische Wirken in Makedonien aus der Sicht des Paulus4. Phil 2,6-11 und das ethos des Statusverzichts5. Kurzer Ausblick: Ethos und Theologie in PhilippiBibliographie

  IV. Zu Schlüsseltexten und Kontexten des Philipperbriefes

 XII Paulus als doulos in Röm 1,1 und Phil 1,1: Die epistolare Selbstbezeichnung als Argument1. Vorüberlegung2. Die Funktion der Autorrollen bei Paulus3. Rollenwechsel in Phil 1-24. Doulos sozialhistorisch und motivgeschichtlich betrachtet5. Die Autorrolle als Argument: δοῦλος und ταπεινοφροσύνηBibliographie

 XIII Die Person als Paradigma politisch-ethischen Handelns: Kriton 50a und Phil 1,23f. im Vergleich1. Sokrates zwischen Kerker und Flucht: „Davonlaufen?“ (Kriton 50a)2. Paulus zwischen Fesseln und Christus: „Aus der Welt scheiden?“ (Phil 1,23f.)3. Individuelle Entscheidungsspielräume: Ethische Kriterien und politische Dimensionen4. Ein Ausblick: Literarische, theologische und kulturgeschichtliche Wirkungen paradigmatischen HandelnsBibliographieAntike WerkeÜbrige Literatur

 XIV Mimetische Ethik im Philipperbrief: Zu Form und Funktion paulinischer exempla1. Mimetik, imitatio und exemplum: Einführende Überlegungen zu einem komplexen Wirkzusammenhang2. Strukturen mimetischer Ethik im Philipperbrief3. Phil 2,6-11 als exemplum4. Zwischenfazit5. Theoretische und theologische PerspektivierungenBibliographie

 XV Polemik und Autobiographie: Ein Vorschlag zur Deutung von Phil 3,2-4a1. Phil 3,2-4a im Kontext des Philipperbriefes1.1. Phil 3,2-4a und die Frage der literarischen Einheitlichkeit des Philipperbriefes1.2. Phil 3,2-4a und die Frage nach den Gegnern in Philippi1.3. Phil 3,2-4a und die Frage der Datierung des Philipperbriefes2. Zur autobiographischen Funktion der Polemik in Phil 3,2-4a2.1. Der autobiographische Fluchtpunkt in Phil 3,4a2.2. Autobiographische Passagen in Phil 1,12ff. und 3,4bff.2.3. Autobiographie und PolemikBibliographie

  XVI Die Tränen des Paulus (2 Kor 2,4; Phil 3,18): Emotion oder Topos? 1. Die Texte (2 Kor 2,4; Phil 3,18; Apg 20,19.31) und Fragen 2. „Unter Tränen schreiben“ – Cicero, Fam XIV; Quint fratr I; Att IX-XV als Beispiele 3. Die Tränen des Paulus – Zur Synergie von Emotionalität und Rhetorik Bibliographie Verzeichnis der ursprünglichen Titel und Orte der Erstveröffentlichungen

 IndicesStellen (in Auswahl)a) AT/LXX und verwandte Texteb) Neues Testamentc) Griechisch-römische, frühjüdische und frühchristliche Autoren und Textkorporad) Apostolische Väter, neutestamentliche Apokrypen und übrige frühchristliche SchriftenBegriffe, Sachen und Orte (in Auswahl)Autoren und Personen (antike und moderne – in Auswahl)

Der Philipperbrief des Paulus: Zur Einleitung in den vorliegenden Band

In diesem Band lege ich meine AufsätzeDemut1 zum Philipperbrief vor, die in überwiegender Zahl zwischen 2010 und 2018 erschienen sind (siehe Beiträge III-V, VIII und XI-XVI). Zwei der hier zusammengestellten Beiträge sind bisher noch nicht veröffentlicht (siehe Beiträge I-II), zwei weitere Beiträge wurden bisher weder in englischer oder deutscher Sprache, sondern allein auf Dänisch publiziert (siehe Beiträge III und IX). Zusätzlich habe ich einzelne Beiträge in die Sammlung mit aufgenommen, die die für die Lektüre des Philipperbriefes relevanten Grundlagen meiner Paulusinterpretation darstellen und so auch meinen Zugang zum Philipperbrief näher beleuchten (siehe Beiträge VI und VII sowie IX und X).

Die Beiträge dienen der Vorbereitung meiner Kommentierung des Philipperbriefes in der Reihe KEK (Nachfolgeband des Kommentars von Ernst LohmeyerLohmeyer, Ernst von 1928/1930). Die in diesem Band versammelten Beiträge beschäftigen sich – neben übergreifenden exegetischen, historischen und hermeneutischen Fragen zur Interpretation des Philipperbriefes – vor allem mit folgenden Textabschnitten im Detail:

Phil 1,111Phils. jeweils die einzelnen Beiträge – Hinweise auf S. 11 (Beiträge VI, VIII, XII); 1,7ff. (Beitrag I); 1,12ff. (Beitrag XV); 1,23f. (Beitrag XIII); 2,3 (Beiträge VIII und XI); 2,5/6-11 (Beiträge VIII, X, XI); 2,19-24 (Beiträge VII und XIV); 2,25-30 (Beiträge VII und XIV); 3,2-4a (Beitrag XV); 3,4bff. (Beiträge II, VI und XV); 3,17ff. (Beiträge XV und XVI); 3,20f. (Beiträge VIII, XIV und XV); 4,6 (Beitrag IV); 4,8 (Beitrag II).2

1. Zur literarischen und theologischen Bedeutung des Philipperbriefes in der Rezeptions- und Auslegungsgeschichte

Der Philipperbrief zählt nicht zu den sogenannten Hauptbriefen des Paulus (Röm, Gal, 1 und 2 Kor) und hat daher – besonders in der protestantischen Exegese und Theologie – eine eher nachgeordnete Rolle gespielt.1 Obgleich Phil 2,6-11 den Grundtexten paulinischer Christologie zugerechnet werden muss, steht der Philipperbrief gemeinhin „im Schatten“ der oben genannten Hauptbriefe, da in ihm bestimmte Grundthemen paulinischer Theologie wie die Rechtfertigungslehre nicht im Vordergrund stehen.

Für Epistolographie und Theologie des Apostels ist der Philipperbrief zudem weniger von Interesse als der 1. Thessalonicherbrief, in dem die Forschung zumeist die Reflexion über die Anfänge und Grundlagen der paulinischen Missionstheologie und Eschatologie erkennen will. Im Rahmen der sieben mehrheitlich für authentisch gehaltenen Paulusbriefe ist der Philipperbrief also tendenziell von untergeordneter Bedeutung. Nur der Philemonbrief findet noch weniger theologische Aufmerksamkeit. Dass beide Briefe einander situativ und lebensgeschichtlich nahestehen, legt zumindest das Gefangenschaftsmotiv, das in Philipper- wie Philemonbrief leitend ist, nahe. Wo genau hat der Philipperbrief im Corpus Paulinum seinen Platz?

Durch die Paulus-Arbeiten Ferdinand Christian BaursBaur, Ferdinand Christian (1845/21867) war der Philipperbrief in Verdacht geraten, ein unechtes, d.h. pseudepigraphesPseudepigraphie, pseudepigraph paulinisches Schreiben zu sein (siehe Beitrag V). Die von Baur vorgebrachten stilistischen, religionsgeschichtlichen und theologischen Beobachtungen wiegen in der Tat schwer und bestätigen in jedem Fall den Eindruck, dass der Philipperbrief eine eigenständige briefliche Komposition darstellt, die sich von einer postulierten „Mitte der paulinischen Theologie“ her2, wie sie die protestantische Exegese – so auch Baur – definiert hat, nur schwer oder kaum erschließen lässt.

Nun hat BaurBaur, Ferdinand Christian zugleich auf die Scharnierstellung des Philipperbriefes zur deutero- und tritopaulinischen Generation apostolischer Briefstellerei aufmerksam gemacht. Hier liegt das bleibende Verdienst der kritischen Studien Baurs. Wenn aber, wie die gegenwärtige Paulusexegese mehrheitlich annimmt, der Brief als authentisches paulinisches Schreiben zu verstehen, also unter die ortho-paulinischen Briefe zu rechnen ist, so bleibt zu diskutieren, ob und in welcher Weise der Philipperbrief als eine „literarische Entität“ erkennbar werden kann und worin genau sein literarisches und theologisches Eigenprofil liegt. Kurzum: Die Frage nach dem geeigneten hermeneutischen Schlüssel stellt sich umso dringlicher.

Überlegungen zur Datierung des Briefes und damit auch zur Situierung der Gefängnishaft des Paulus in KorinthKorinth/Corinth, EphesusEphesus, CaesareaCaesarea oder RomRom sind fundamental, lassen sich aus meiner Sicht jedoch nicht in erster Linie auf der Basis der textimmanenten Hinweise etwa zum „PrätoriumPrätorium, praetorium“ (Phil 1,13), dem „Haus des Kaisers“ (Phil 4,22)Löhr, Hermut3 oder der Chronologie der Ereignisse, die mit der Sendung des TimotheusTimotheus/Timothy verbunden sein könnte (Phil 1,1; 1,19ff.), klären.

Eher dienen (a) die oben schon erwähnte situative Nähe zum Philemonbrief, in dem sich Paulus als πρεσβύτης bezeichnet (Phlm 918Phlm09), (b) die sprachliche und thematische Scharnierstellung des Philipperbriefes zum post-paulinischen Paulinismus sowie (c) das theologische und literarische Eigenprofil des Briefes als Indizien für seine Spätdatierung – wohl in römische Haft. So gelesen beschließt der Philipperbrief als Spätwerk des Apostels die Periode seiner Briefstellerei, die er, soweit es die tradierte Anzahl an Paulusbriefen nahelegt, wohl mit 1 Thess eröffnet hatte.

2. Zum Aufriss des vorliegenden Bandes

Im vorliegenden Band frage ich nach dem geeigneten erschließenden Werkzeug zur umfassenden Wahrnehmung und Interpretation des Philipperbriefes aus unterschiedlichen methodischen Perspektiven: aus einer rezeptions- und wirkungsgeschichtlichen Sicht auf den Philipperbrief (Teil I), aus einer literaturkritischen und literaturgeschichtlichen Sicht auf Paulus als Briefsteller und die Funktion seines epistolaren Schreibens – dem Philipperbrief und über diesen Brief hinaus (Teile II-III) – sowie aus exegetischer Sicht auf eminente Textpassagen des Philipperbriefes, die sich auch als dessen Schlüsseltexte verstehen lassen (Teil IV). Den verschiedenen methodischen Perspektiven ist gemein, Paulus als Autor, PersonPerson, persona und literarische persona in den Vordergrund der Textinterpretation zu rücken, während die gegenwärtige – besonders anglo-amerikanisch geprägte – Philipperbrief-Forschung den Fokus vor allem auf PhilippiPhilippi und die sozial-historische Situation der paulinischen Adressatenschaft in MakedonienMakedonien/Macedonia richtet.Philippi1

2.1. Der erste Teil (I)

Der erste Teil der vorliegenden Aufsatzsammlung („Zur Geschichte der Rezeption und Interpretation des Philipperbriefes“) wählt eine rezeptions- und wirkungsgeschichtliche Sicht auf die Deutung des Philipperbriefes und sucht so der gewachsenen Bedeutung, die den Kategorien der Wirkung und Rezeption für das Textverstehen gegenwärtig in den exegetischen Disziplinen eingeräumt wird, Rechnung zu tragen.Wischmeyer, OdaKenosis1

Thematisch wird in diesem Teil des Bandes der Bogen von Lukas, dem mutmaßlich frühesten Rezipienten und Interpreten des paulinischen Schreibens an die Philipper (Beitrag I; vgl. auch Beitrag XI), bis zur historisch-kritischen Kommentierungsgeschichte im KEK von 1847 bis 1928 (Beitrag V), gespannt. Die Beiträge II-IV geben schlaglichtartige Einblicke in die Wirkung und Rezeption des Philipperbriefes bei Philipp MelanchthonMelanchthon, Philip(p) (1521 und 1546) und RembrandtRembrandt van Rijn van Rijn (1627) sowie in die mögliche Bedeutung des Briefes für die existenzialphilosophischen Diskurse des 20. Jahrhunderts.

 

Die erstmals auf Deutsch oder Englisch publizierten Beiträge I-III zur Rezeption und Wirkung des Philipperbriefes bei Lukas, MelanchthonMelanchthon, Philip(p) und RembrandtRembrandt van Rijn stelle ich hier etwas ausführlicher vor: Die Frage, wieweit die Apostelgeschichte als „dependenter Text“ zu einem im Entstehen begriffenen Corpus von Paulusbriefen entstanden ist, ist weithin umstritten (siehe Beitrag I). Gerade die Rede des Paulus an die Gemeindeältesten aus EphesusEphesus im kleinasiatischen MiletMilet(us) (Apg 2005Apg20,18ff.05Apg20,18ff.) enthält jedoch deutliche Textsignale, die nicht nur eine Kenntnis des Philipperbriefes durch Lukas wahrscheinlich machen, sondern auch ein Licht darauf werfen können, wie der auctor ad Theophilum den Paulusbrief rezipiert und literarisch adaptiert hat, nämlich im Rahmen einer wohl platzierten AbschiedsredeAbschiedsrede(n)Abschiedsrede(n). Auch dieses Indiz könnte für die Frage nach der Einordnung des Philipperbriefes in die chronologische Folge der Paulusbriefe wertvoll sein: Sieht Lukas im Philipperbrief die ultima verba des Paulus?

Bei der vermeintlichen lukanischen Adaption des Philipperbriefes lässt sich lediglich von einer Form „diskreter Intertextualität“ sprechen – der Autor spielt höchstens auf den Prätext an, ohne dessen Rezeption offenzulegen.2 Gleiches gilt für RembrandtsRembrandt van Rijn Paulus-Gemälde von 1627 (siehe Beitrag III). Rembrandt, dessen 350. Todestags 2019 gedacht wird, ist zwar als kongenialer Bibelinterpret bekannt. Ob und in welcher Weise speziell die Lektüre des Philipperbriefes das Gemälde „Paulus im GefängnisGefängnis“ inspiriert hat, muss allerdings offenbleiben. Deutlich ist, dass der Topos des gefangenen Apostels literaturgeschichtlich im Philipperbrief seinen Ausgang nahm.

Im Unterschied zur diskreten Intertextualität, die bei Lukas und RembrandtRembrandt van Rijn vorzuliegen scheint, ist bei MelanchthonMelanchthon, Philip(p) und den KEK-Autoren von „expliziter Intertextualität“ zu sprechen: Als Interpreten bzw. Exegeten des Philipperbriefes nehmen der Reformator (siehe Beitrag II) wie auch die KEK-Kommentatoren (siehe Beitrag V) auf den Brief explizit Bezug. Gerade die Auslegung des Philipperbriefes bei Melanchthon verdient besondere Aufmerksamkeit: Während die Verwendung dieses Briefes in den Loci Communes von 1521 die oben schon erwähnte marginale Bedeutung des Schreibens für die protestantische Bibelhermeneutik zu belegen scheint, gibt sich Melanchthon 25 Jahre später, nämlich in seiner Oratio in funere reverendi viri D. Martini Lutheri (1546) als ein philologisch wie hermeneutisch vielseitiger und produktiver Exeget des Philipperbriefes zu erkennen. Den Vergleichspunkt zum Wirken LuthersLuther, Martin macht Melanchthon in der paulinischen Rede von der exemplarischen Christusbeziehung, die an der apostolischen Existenz sichtbar wird, fest. Melanchthon stellt das literarische wie theologische Eigenprofil des Philipperbriefes auf diese Weise differenziert heraus und öffnet so die Interpretation des Paulusbriefes weit über das Theologoumenon von der RechtfertigungRechtfertigung hinaus.

Der 2017 erstmals publizierte Beitrag IV stellt die Auslegung des Philipperbriefes in den ideengeschichtlichen Horizont der existenzialphilosophisch geleiteten Beschäftigung mit dem Motiv der „SorgeSorge“ (cura, μέριμναμέριμνα, μεριμνάω). Auch wenn sich Martin HeideggersHeidegger, Martin Interpretament von der „SelbstSelbst, self, selfhoodauslegung des Daseins als ‚Sorge““ eher auf den Mythos des Hyginus (fabulae 220Hyginusfab220) als auf Phil 4 oder Abschnitte aus 1 und 2 Kor rückbezieht, so spiegeln die Paulustexte doch eigenständige Überlegungen zum (antiken) Konzept der „Sorge“ wider, die Heidegger oder auch Michel FoucaultFoucault, Michel im Sinne einer „kanonbedingten Rezeption“ zumindest nicht unvertraut gewesen sein dürften.3

Der 2018 erschienene Beitrag V zeichnet die Kommentierungsgeschichte des Philipperbriefes in der KEK-Reihe, die bisher durch Heinrich A. W. MeyerMeyer, Heinrich A. W. (1847), August H. FrankeFranke, August H. (1886), Erich HauptHaupt, Erich (1897) und LohmeyerLohmeyer, Ernst erfolgte, nach und sucht dabei auch, die Grundfragen und -probleme der Interpretation diesseits und jenseits der Auseinandersetzung mit F. C. BaurBaur, Ferdinand Christian darzulegen.