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Im Hause des Kommerzienrates

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26

In der Residenz wusste man sich seit langen Jahren keines Ereignisses zu erinnern, das alle Menschen so furchtbar aufgeregt und in peinlicher Spannung erhalten hätte, wie die Explosion im Turme, welcher, außer dem Kommerzienrat, auch der Müller Franz zum Opfer gefallen war.

Zwei Tage waren seitdem verstrichen, und in diesen zweimal vierundzwanzig Stunden wandelte sich allmählich die bestürzte Klage, das Bejammern des verunglückten reichen Mannes in dumpfe, erschreckende Gerüchte, die vorzüglich die Geschäftsleute, den Handwerkerstand alarmierten – da stand ja der Name des Millionärs noch mit vielen Tausenden rückständig in den Büchern. Der Kommerzienrat hatte alle die neuen Bauten und Verschönerungen auf seiner Besitzung Baumgarten in Akkord gegeben, und demzufolge war von seiner Seite bis zu dem Unglückstage nur ein Bruchteil der Forderungen berichtigt worden. Und nun ging der Ausspruch, den der Ingenieur schon beim ersten Anblick der entsetzlichen Zerstörung rückhaltlos getan, bestätigt und bekräftigt durch andere Sachverständige, von Mund zu Mund, und die bisher vollkommen zuversichtlichen und Vertrauensseligen Lieferanten und Arbeiter mussten sich notwendig fragen, wie und wozu das Dynamit in den Weinkeller des Kommerzienrats von Römer gekommen sei, just unter die Räume, die alle seinen Besitzstand dokumentierenden Papiere und Bücher umschlossen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Vertrauliche Briefe aus Berlin sprachen von immensen Verlusten, die der Kommerzienrat, um dessen entsetzlichen Tod dort noch niemand wusste, bei den neuesten, rasch aufeinanderfolgenden Konkursen erlitten haben müsse. Zwar hatte er es, wie selten ein Spekulant, verstanden, vertraute Mitwisser von seinen Unternehmungen fernzuhalten; nicht einmal der frühere Buchhalter der Spinnerei, den er nach Verkauf derselben als Sekretär beschäftigte, hatte einen Einblick in seine Börsenmanipulationen gehabt. Der reiche Mann war ferner im Besitz jener glücklichen Begabung gewesen, welche hinter einer stets aufgescheuchten undurchdringlichen Wolke funkelnden Goldstaubes die dunkle Kehrseite der Dinge und Verhältnisse unsichtbar zu machen weiß. Und so wäre es ihm doch vielleicht trotz der Nachricht von seinen Verlusten geglückt, auf immer als Opfer seiner Liebhaberei für das historisch merkwürdige Pulver im Turmkeller der Burgruine beklagt zu werden, wenn er sich nicht in der Dosis des modernen Sprengstoffes vergriffen hätte – das war die »in den Kulissen gebliebene Lücke, durch die man der Wirklichkeit auf den Leib gehen würde«, wie Flora gesagt hatte.

Während sich somit in der Stadt noch eine unausbleibliche Katastrophe lawinenartig vorbereitete, gingen auch im Trauerhause unheimliche Wandlungen vor sich. Am ersten Tage waren alle Befreundeten des Hauses herbeigeeilt, und hatten bei aller Gedämpftheit der Stimmen und Schritte dennoch eine Art von Tumult hervorgerufen; am zweiten dagegen herrschte bereits eine tiefe, schwüle Stille in Erdgeschoss und Beletage, die umso drückender erschien, als die Läden vor den meisten der zertrümmerten Scheiben lagen und nur ein ungewisses, beklemmendes Halbdunkel zuließen. Noch ahnte die Frau Präsidentin nicht, dass nach dem furchtbaren Ereignis ein zweiter Sturz erfolgen werde; noch konzentrierte sich all ihr Sinnen und Denken auf das, was nach dem unrettbar Zerstörten von dem großen Vermögen geblieben und wem es zufallen würde. Mit der ganzen Selbstsucht des Alters gingen ihre Gedanken bereits völlig über den Toten hinweg. Nie war überhaupt das egoistische Element, das die Großmutter und ihre älteste Enkelin in gleichem Grade beseelte, so krass und nackt hervorgetreten, wie in diesen Tagen der Heimsuchung.

Flora hatte der Präsidentin sofort nach der Entscheidung in kurzen Worten angezeigt, dass sie ihr bräutliches Verhältnis zu Doktor Bruck gelöst habe, ohne die Motive zu diesem Entschluss auch nur zu berühren, und die alte Dame war nichts weniger als wissbegierig gewesen – sie hatte, für einen Moment aus ihrem fieberisch angestrengten Grübeln und Brüten aufgeschreckt, halb blöde emporgesehen und sich mit einem Achselzucken begnügt. Wie wenig bedeutend erschien diese Schicksalswendung im Leben der Enkelin neben der Tragödie, die eine hochgestellte, verwöhnte Frau plötzlich aus wahrhaft fürstlichem Luxus in die beschränktesten pekuniären Verhältnisse zurückzuschleudern drohte! Dann hatte sich Flora in ihre Zimmer zurückgezogen; unter dem Vorwande heftigen Unwohlseins war sie allen Kondolenzbesuchen ausgewichen und hatte den ganzen ersten Tag mit Ordnen und Umpacken ihrer Effekten verbracht.

Im Souterrain aber, dem Aufenthalte der Lakaien und der Küchenbedienung, herrschte an dem Tage, welcher der lange erwartete und lange vorbereitete Hochzeitstag hatte sein sollen, eine Verwirrung, eine Auflösung alles Bestehenden, wie sie nur ein Haufen fluchtbereiter Menschen hervorbringen kann. Dort unten hatten die von der Stadt herdringenden Gerüchte bombenartig eingeschlagen, umso mehr, als schon am ersten Morgen nach dem Unglück einige Scharfsichtige unter den Leuten scheu und versteckt darauf angespielt hatten, dass möglicher Weise »doch nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei«. Nun erwartete man jeden Augenblick, die Gerichtskommission in das Haus treten zu sehen – ein jedes griff nach dem Seinigen, und dabei würden in der offenstehenden Speisekammer die langen Tafeln voll Kuchen und Torten geplündert und die Bowlen ausgetrunken, die für den Polterabend bestimmt gewesen waren.

Und von dieser Region aus kamen auch der Frau Präsidentin Urach die ersten bestürzenden Anzeichen, dass ihr Regiment in der Villa Baumgarten auch von anderen als beendigt angesehen werde. Während sonst auf ihren ersten Klingelzug die Betreffenden herbeigestürzt warm, musste sie wiederholt schellen, ja, sich zum Rufen bequemen; sie hörte, wie draußen ihr Löwenhündchen, das die Dienerhände bisher als den Abgott der Herrin kajoliert und gehätschelt hatten, unter einem Fußtritte aufschrie – und die Augen, die sie bis jetzt nur in scheuer Ehrfurcht niedergeschlagen gekannt hatte, sahen wie herausfordernd in ihr strenges Gesicht.

Von dieser Wandlung der äußeren Verhältnisse wurden die Bewohner der Beletage nicht berührt. Henriette hatte sich stets gütig und nachsichtsvoll – für die Dienerschaft war die kleine, gebrechliche Gestalt immer ein dem Tode geweihtes Kind gewesen; man war gewöhnt, in ihrer Nähe lautlos auf den Zehenspitzen zu gehen und nur mir sanftgedämpfter Stimme zu ihr zu reden, und in diesen Rücksichten erschöpfte man sich heute doppelt, da ja »der Herr Hofrat« gesagt hatte, dass es bedenklich um die Kranke stehe.

Ja, sie lag droben im Wohnzimmer, fast nur noch kenntlich an den wunderschönen blauen Augen – wunschlos und willig den lebensmüden Leib der dunklen Gewalt endlich überlastend, die ihr seit Jahren, Schritt für Schritt, auf den Fersen gefolgt. Sie war sich vollkommen bewusst, dass sie sterben müsse; sie hatte alle schreienden Farben, mit denen sie sich stets einen Schein von Gesundheit und Jugendblüte zu erborgen gesucht, nunmehr mit Abscheu von sich gewiesen. Wie in Schnee gebettet, lag sie in den weißen Kissen und Decken, unter der weich herabfließenden Mullgardine. Es blieb ihr erspart, den flüchtigen Fuß von der heimischen Schwelle zu wenden, und, Floras Programm gemäß, in der Schlossmühle ein Asyl zu suchen. Sie ging, noch ehe das Gericht im Namen des Gesetzes, im Namen der geängstigten Gläubiger seine Hand auf die Reste eines in alle Lüfte zerstobenen märchenhaften Reichtums legte; sie ging, ohne noch hören zu müssen, dass das Brandmal eines schweren Verbrechens das Andenken ihres Schwagers verunehre, dessen fürchterliches Ende auch zugleich die schwache Wurzel zerrissen hatte, mit welcher sich das zarte, so lange angefeindete Mädchendasein noch an die Erde festgeklammert. … Und was sie stets so heiß gewünscht, es erfüllte sich nun doch noch: sie wurde bis zum letzten Atemzuge von den Augen ihres Arztes behütet; er hatte ihr gesagt, dass er bei ihr bleiben und nach L…g nicht eher gehen werde, als bis es »besser um sie stehe«. Nun war sie wieder so unaussprechlich glücklich, wie sie es im Fremdenzimmer der Tante Diakonus gewesen: Doktor Bruck pflegte sie, und ihm zur Seite stand Käthe – die beiden Menschen, die sie auf Erden am meisten geliebt hatte.

Käthe erholte sich rasch. Schon am Nachmittag des zweiten Tages war sie aufgestanden. Die schmale, um den Kopf gelegte Binde und die über den Rücken hinabhängenden Flechten, die ihrer Schwere wegen nicht über der Stirn liegen dursten, erinnerten daran, dass sie Rekonvaleszentin sei, sonst aber hätte wohl niemand geahnt, dass der fürchterliche Stoß der Explosion diese schlanke Mädchengestalt weithin geschleudert und mit erstickenden Wassermassen überschüttet habe, dass sie verloren gewesen wäre, wenn nicht das Auge der Liebe sie gesucht. Ihre Haltung war kraftbewusst und energisch wie vorher, und die ihr eigene Sammlung und Sicherheit in ihr ganzes äußeres Wesen zurückgekehrt, wenn es auch stürmisch genug in ihrer Seele aussah. Neben dem tiefen Leid um die sterbende Schwester, um Römers tragisches Ende, drängte sich ihr die furchtbare Gewissheit auf, dass ihr Schwager und Vormund bei dem grauenhaften Vorgang nicht ohne Schuld gewesen sei – auf eine derartige Andeutung, die sie angstvoll gegen Doktor Bruck gemacht, hatte er nicht vermocht »nein« zu sagen. Er war still und schweigsam wie immer. Das erheischte schon Henriettens Zustand, aber es lag etwas eigentümlich Feierliches in dieser Verschlossenheit, von welcher auch die Tante Diakonus angesteckt zu sein schien.

Die alte Frau war in den Nachmittagsstunden des ersten Tages, nach einer leise geführten Unterredung mit dem Doktor, verweint und doch unverkennbar freudig bestürzt, aus dem Kabinett gekommen, das an Henriettens Schlafzimmer stieß, und hatte sich dann verabschiedet, um Betten und Möbel aus dem Hause am Flusse in die Stadtwohnung des Doktors schaffen zu lassen, wohin sie einstweilen mit ihrer Freundin übersiedeln sollte, bis die Reparaturen an dem verwüsteten Doktorhause vollendet sein. Sie hatte mit keinem Laute verraten, was in ihr vorgehe, aber sie hatte die Villa verlassen, um nur dann und wann, Henriettes wegen, für einige flüchtige Augenblicke vorsprechen, wobei sie augenscheinlich bestrebt war, einer Begegnung mit Flora auszuweichen!

 

Die schöne Braut war auch nur ein einziges Mal in der Beletage erschienen, um nach der Schwerkranken zu sehen, just zu der Zeit, wo sich Doktor Bruck in Folge einer dringlichen Aufforderung zum Fürsten begeben hatte. Es war zu sonderbar und verletzend, dass sie, Henriettens Salon, passierend, an Käthes Lager vorüberschritt, als sei dort, wo sich die verwundete Schwester zu ihrer Begrüßung aufrichtete, die leere Wand. Sie hatte keinen Blick, kein Wort für »die Jüngste« und vermied es, durch den Salon zurückzukehren, indem sie sich von der Kammerjungfer die direkt in den Korridor führende Tür des Schlafzimmers aufschließen ließ. Zu alledem berichtete Nanni mit zweideutiger Miene, dass das gnädige Fräulein drunten sich zur schleunigen Abreise rüste.

Es war Käthe so schwer beängstigend zumute, als starrten sie aus allen Zimmerecken dunkle Rätsel an; sie wähnte den Plafond, selbst den Himmel über ihrem Haupte nicht mehr sicher, weil alles Bestehende der stattgehabten entsetzlichen Erschütterung nachstürzen müsse.

Einige Mal im Laufe des Tages kam auch die Präsidentin, herauf, eine schwarze Krepphaube über dem verstörten Gesichte, und treulos verlassen von der kühlen, stolzen Ruhe eines wohlgeschulten Geistes, der sich, wie sie stets behauptet, gerade in schlimmen Lebenslagen am glänzendsten bewähren müsse. Sie hatte nur Tränen und ein krampfhaftes Händeringen für die »fürchterliche Situation«, in welche mit einem Schlag alle Bewohner der Villa geschleudert waren. Die erschöpfte Kranke atmete stets auf, wenn der letzte Zipfel des schwarzen Wallkleides der Großmama hinter der Tür verschwand.

Es war am Morgen des dritten Tages nach dem Ereignisse, als die alle Dame plötzlich die Tür des roten Studierzimmers aufriss und, ein Zeitungsblatt in der Hand, über die Schwelle wankte. Flora war eben beschäftigt, Etiketten für ihre Effekten zu schreiben; sie erhob sich und trat ahnungsvoll auf die Großmama zu, die in einen Armstuhl sank.

»Meine viertausend Taler!« stöhnte sie. »Kind, Kind ich bin von Schurken betrogen um mein bisschen Hab und Gut, um das kärgliche Erbe, das mir der Großpapa hinterlassen hat. … Meine viertausend Talern die ich behütet habe wie meinen Augapfel –«

»Nein, Großmama, bleibe bei der Wahrheit, sage lieber, Deine viertausend Taler, mit denen Du allzu sanguinisch und leichtgläubig spekuliert hast!« fiel Flora in unerbittlichem, hart strafendem Tone ein. »Wie habe ich Dich gewarnt! Aber da wurde ich ausgelacht und verhöhnt, weil ich meine wohlgesicherten Staatspapiere nicht auch mitarbeiten ließ. Das Etablissement, bei welchem Du Dich beteiligt, hat falliert?«

»Eklatant! Schurkisch! Da lies! Ich glaube, nicht fünfzig Taler bleiben mir«, rief die Präsidentin mit brechender Stimme und schlug die Hände vor das Gesicht. »Nur eines fasse ich nicht«, fuhr sie, wieder emporschreckend, fort, während Flora die bezügliche Nachricht überflog. »Das Blatt bezieht sich auf frühere Mitteilungen; der Sturz muss demnach schon vor circa vier bis fünf Tagen erfolgt sein – und Moritz hat nichts davon gewusst – unbegreiflich.«

»Sollte das nicht mit dem ausgebliebenen Börsenblatte zusammenhängen? –«

»Ah – Du meinst, unser armer Moritz habe mir während der Hochzeitsfeier den Schrecken ersparen wollen und das Blatt konfisziert? Ach, ja – jedenfalls! Und er hätte mir auch den Schaden ersetzt, ich weiß es – war er es doch selbst, der mir die Sache eingeredet hat. … O mein Gott, das ist ein Gedanke von oben. Nötigenfalls kann ich’s beschwören, dass Moritz mich zu dem Unternehmen verleitet hat. Wie – sollte ich nicht darauf hin doch vielleicht Anspruch auf Ersatz aus der Erbschaftsmasse haben?«

Flora warf die Zeitung auf den Tisch; sie, die in allen Fällen rücksichtslos Vorgehende, war doch einen Augenblick in Verlegenheit, wie sie ihre Worte, diesen unzerstörbaren Illusionen gegenüber, zu wählen habe. Sie hatte bis zur Stunde geschwiegen, voraussetzend, dass sehr bald einer der guten Freunde die Mission der Aufklärung übernehmen werde, aber die guten Freunde waren ja schon gestern ausgeblieben; es ließ sich keiner mehr blicken und nun musste sie es selbst tun; sie durfte doch nicht zugeben, dass sich ihre Großmama mit dieser beispiellosen Zuversicht und Harmlosigkeit vor aller Welt blamiere.

»Großmama«, sagte sie mit gedämpfter Stimme und legte die Hand auf den Arm der alten Dame; »es fragt sich vor allen Dingen, wie hoch sich diese Erbschaftsmasse beziffern wird.«

»O Kind, sieh Dich um, sieh nur zum Fenster hinaus, und Du wirst wissen, dass man den Abzug meiner viertausend Taler an dem Nachlasse kaum merken wird. Mag auch das ungeheure Kapitalvermögen, mit welchem Moritz operierte, unwiederbringlich verloren sein, weil alle darauf bezüglichen Bücher und Dokumente vernichtet sind, die Liegenschaften und anderen Wertobjekte, die er hinterlassen, repräsentieren immer noch einen Besitz, den man reich, ja glänzend nennen darf« – ein tiefern schmerzlicher Seufzer hob ihre Brust. – »Ich wollte Gott danken, wenn ich den unbestrittenen Anspruch an diese Erbschaft hätte.«

Flora zuckte die Achseln. »Wer weiß, ob Da sie antreten würdest –«

Die Präsidentin fuhr empor. »Bist Du toll, Flora? So schwach ich auf meinen Füßen bin, ich wollte stundenweit laufen, ich wollte wochenlang hungern und dursten und kein Auge schließen, wenn ich mir dadurch die Ansprüche der Universalerbin erringen könnte. – Sollte man es glauben, dass das Geschick so teuflisch, so grausam ironisch sein könne? Ich, ich in meiner Stellung, muss mich hinausstoßen lassen aus dem Hause, das seinen Glanz, sein aristokratisches Air mir einzig und allein verdankt, und sie, eine ganz obskure, alte Person, die jetzt noch ahnungslos altes Leinen für Fremde flickt, die es ihr Leben lang nicht besser gewusst und gehabt hat, sie wird sich hier breit machen.«

»Darüber brauchst Du Dich nicht zu alterieren, Großmama – die alte Tante am Rhein erbt so wenig wie Du –«

»Ah, so treten doch noch andere Erben auf?«

»Ja – die Gläubiger.«

Die Präsidentin taumelte unter einem scharfen Aufkreischen in den Armstuhl zurück.

»Still! Ich bitte Dich, mache keine Szene!« murmelte Flora. »Drunten im Souterrain gibt es Leute, die das noch viel besser wissen als ich; sie sind im Begriff, das Haus zu verlassen, wie die Ratten das sinkende Schiff. Ich kann und darf es Dir nicht länger verschweigen, wie die Sachen stehen. Jetzt heißt es au fait sein, wenn wir uns, als die Düpierten, nicht unsterblich lächerlich machen wollen.« Sie zog die schwarze Kreppwolke um Kinn und Hals der alten Dame in die gehörige Faltenordnung und steckte die mit einer einzigen wilden Handbewegung völlig zerstörten weißen Lockenpuffen wieder auf. »So darf Dich niemand sehen, Großmama«, sagte sie streng. »Wir müssen uns so rasch wie möglich mit Haltung und Ruhe aus der Affäre ziehen – sie ist zu gemein und entehrend; darüber waltet kein Zweifel mehr, dass die Explosion ein Verzweiflungsakt – auf Deutsch gesagt: ein Schurkenstreich – von Seiten Römers gewesen ist.«

»Der Elende! Der infame Betrüger!« schrie die Präsidentin aufspringend – die wahnsinnige Aufregung ließ sie plötzlich im Zimmer hin- und herlaufen, als sei ihr ein Räderwerk in die schwachen Füße gekommen.

Flora deutete nach dem einen Fenster, vor dessen zerschlagenen Scheiben keine schützende Jalousie lag. »Bedenke, dass man Dich draußen hört!« warnte sie. »Seit dem Morgengrauen schleichen Geschäftsleute um das Haus; die Aufregung in der Stadt soll grenzenlos sein; es sind Leute, welche die Angst um ihr Geld aus den Federn getrieben hat. Was wir während des letzten halben Jahres in unserer großen Wirtschaft gebraucht haben, steht noch in den Büchern der Lieferanten. Der Fleischer hat sich sogar in das Haus hereingewagt und in dreister Weise gefordert, dass man Dich wecken möchte, er habe mit Dir zu reden. Jedenfalls will er versuchen, von Dir, weil Du dem Haushalt vorgestanden, die ihm schuldigen sechshundert Taler zu erpressen, ehe die Gerichte einschreiten. Er ist frech genug gewesen, meiner Jungfer zu sagen, die Damen des Kommerzienrates hätten ja auch mitgegessen.«

»Pfui, in welchen Sumpf hat uns jener erbärmliche Wicht gelockt, um sich dann feig aus dem Staube zu machen!« rief die Präsidentin, halb erstickt vor Grimm und Erbitterung, und zog sich instinktmäßig von dem offenen Fenster zurück. Sie rang die Hände. »Gott im Himmel, welche entsetzliche Lage! Was nun tun?«

»Vor allen Dingen einpacken, was uns mit Fug und Recht gehört, und das Haus räumen, wenn wir nicht wollen, dass unser Eigentum mit versiegelt werde; da könnten wir wohl lange warten, bis es uns zurückgegeben würde! Ich bin eben im Begriff, hinaufzugehen und meinen« – sie unterbrach sich mit einem schneidenden Lachen – »meinen Trousseau in Kisten und Koffer zu bringen. Dann will ich mit den Leuten das Hausinventar aufnehmen, und wenn Du nicht selbst die Übergabe vollziehen willst –«

»Nun und nimmermehr –«

»Dann mag es die Wirtschaftsmamsell tun; wir haben Grund genug, krank zu sein.« Sie nahm den Schlüssel zu dem Zimmer, in welchem der Trousseau aufgestellt war, aus ihrem Schreibtisch, während die Präsidentin mit verzweifelnd gen Himmel gehobenen Armen davonstürzte, um das Ihrige vor den Gerichtssiegeln in Sicherheit zu bringen.

27

Über den Baumwipfeln des Parkes wehte die Morgenluft und zog durch das weit offene Fenster; sie trug ein traumhaftes, halbverlorenes Wasserrauschen vom fernen Fluss her in die Kirchenstille des Schlafzimmers und hauchte das weiße Gesicht der schlummernden Kranken mit Reseda- und Levkoyendüften an. Und das rote wilde Weinlaub, das draußen den Fensterrahmen umkränzte, bebte im leisen, sammetweichen Zugwind; es sah aus, als habe er die dreifingerigen Purpurblätter im Vorüberstreifen gepflückt und über die weiße Bettdecke und das gelöste aschblonde, Haar hin verstreut und die blassen Hände in das kühle Laub wohlig vergraben. Henriette hatte sich die Blätter pflücken lassen »als letzte Grüße des Sommers, der sich nun auch zur Wanderschaft anschicke.«

Käthe saß am Bett und behütete den Schlaf der Schwester. Sie hatte selbst das dreist herbeifliegende Rotschwänzchen, das gewohnt war, Kuchenkrümchen auf dem Fenstersims zu finden, mit einer angstvollen Handbewegung fortgescheucht; sein zartes Gezwitscher klang fast erschreckend in das bange Schweigen, das dem Ohr jeden schwachen Atemzug hörbar machte, unter welchem sich die schmale Brust der Kranken in beängstigend langen Zwischenräumen hob. Doktor Bruck hatte seine Patientin für eine halbe Stunde verlassen müssen; der Fürst bestand darauf, den Arzt, der ihn nach so vielen fehlgeschlagenen Euren in kurzer Zeit vollkommen hergestellt hatte, bis zu dessen Abreise als Berater täglich zu empfangen. Und so war Bruck gegangen, die günstige Schlummerstunde benutzend, wo Henriette ihn nicht vermisste.

Die Kammerjungfer hatte sich mit einer Näharbeit hinter die Bettgardine postiert, um nötigenfalls bei der Hand zu sein; sie sah dann und wann verstohlen zu dem regungslosen jungen Mädchen dort im Armstuhl hinüber. Drunten im Souterrain hatten sie vorhin davon gesprochen, dass »das Fräulein aus der Mühle« bei »dem Streich des gnädigen Herrn« am schlimmsten wegkomme, und sie meinte nun, ein Menschenkind, dem eben eine halbe Million aus der Hand geschlüpft sei, müsse doch ganz anders verzweifelt aussehen, als die junge Dame, die, den Verband über der Stirn  und ihre schönen Glieder in ein weiches, weißes Morgenkleid gehüllt, traurig ernst, aber still gefasst, wie eine Statue in ihrer aufmerksam beobachtenden Stellung verharrte. »So jung und so gesetzt, so frischblühend und lebenstrotzend, und doch so wenig für die Welt und alle ihre guten Dinge!« meinte die Beobachterin in ihren Zofengedanken weiter da war die schöne Dame klüger, die jetzt drüben ihren Trousseau einpackte; sie brachte vor allen Dingen ihre Sachen in Sicherheit; sie hetzte ihre Jungfer treppauf, treppab nach jedem Taschentuch, das sich in die Hauswäsche verirrt hatte und mit gepackt werden sollte – sie wollte nichts, auch gar nichts verlieren. Und so schlau und energisch hatte sie immer für sich gesorgt, und drum war sie auch die Reiche, »der kein Härchen gekrümmt wurde«, in der Familie geblieben. Nun reiste sie mit ihren Koffern und Kisten dem Bräutigam Voraus nach L…g und ging allen Schrecknissen, die jeden Augenblick über die Villa Hereinbrechen konnten, aus dem Wege. Man hätte sich zu Tode ärgern mögen, dass ihr auch alles glückte, was sie durchsetzen wollte; sie durfte sich alles erlauben, und die ganze Welt hieß es gut und recht. Und jetzt wurde auch noch im Trousseau-Zimmer so laut gepoltert, dass die Kranke aus dem Schlafe aufschreckte.

 

»Das gnädige Fräulein kramt drüben und packt ihre Sachen«, sagte Nanni mit erkünsteltem Gleichmute, als Käthe entsetzt emporfuhr und ihre Hände beschwichtigend über die Halberwachte hinstreckte.

Henriettens Salon trennte allerdings die beiden Zimmer, und Flora setzte deshalb jedenfalls voraus, dass man ihr Hantieren im Krankenzimmer nicht hören könne; sonst hätte sie doch sicher das anhaltende Schieben und Umherstoßen der Kisten und Koffer rücksichtsvoller vermieden. Käthe erhob sich, und die nach dem Salon führende Tür hinter sich schließend, ging sie hinüber in das Zimmer, wo gepoltert wurde.

Flora stieß einen leisen Schrei aus – es blieb unentschieden, ob vor Schreck, oder im Ärger über die Störung – als die hohe, weiße Gestalt auf der Schwelle erschien und mit sanft gedämpfter Stimme um Ruhe für die Schlummernde bat.

Die schöne Schwester stand dicht neben dem Ständer, der die Brauttoilette trug. Die weiße Atlasschleppe, von welcher das Kammermädchen die Orangenblütenbouquets absteckte, um sie in einen Karton zu legen, hing neben ihrer Schulter nieder, und in den Händen hielt sie den Brautschleier, offenbar in der Absicht, ihn zusammenzufalten. Die zerstückte Hochzeitsfeier konnte allerdings nicht schneidender illustriert werden, als durch diese Gruppe.

»Es tut mir leid; ich habe nicht geglaubt, dass das Aufstellen der Kisten bis zu Henriette hinüberschalle – wir werden vorsichtiger sein«, sagte sie kurz, aber doch mit hörbar alterierter Stimme. Ein böses Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Du schleichst ja so weiß, so lautlos durch das Haus, dass man denken könnte, die Ahnfrau der Baumgarten habe, weil es in der Stammburg mit dem Wandeln aus und vorbei ist, ihr Domizil in der Villa aufgeschlagen. Unheil genug heftet sich an Beine Fersen – wo Du eintrittst, sollte ein rechtschaffener Christ drei Kreuze schlagen.«

Sie schickte die Kammerjungfer mittelst einer Handbewegung aus dem Zimmer. »Halt!« rief sie, den Brautschleier fortschleudernd, als Käthe dem Mädchen schweigend folgen wollte. »Wenn ein Funken von Frauenehre in Dir lebt, so stehst Du mir jetzt Rede.«

Käthe streifte gelassen die Hand ab, die ihr Kleid festhielt, und trat in das Zimmer zurück. »Ich stelle mich Dir zur Verfügung«, sagte sie ruhig und heftete ihre ernsten Augen fest auf das leidenschaftlich erregte Gesicht der Schwester. »Nur bitte ich Dich, nicht so überlaut zu sprechen, damit uns Henriette nicht hört.«

Flora antwortete nicht; sie ergriff Käthes Hand und zog sie in die Nähe des Fensters. »Komm her! Lasse Dich einmal ansehen! Ich muss wissen, wie Du aussiehst, nachdem Du geküsst hast.«

Das junge Mädchen wich zurück vor dem frivol funkelnden Blick, der ihr, im Verein mit der leichtfertigen Bemerkung, die tiefe Glut der beleidigten Scham in das Gesicht trieb. »Als ältere Schwester solltest Du doch Anstand nehmen, einen solchen Ton anzuschlagen –«

»Ei, Du heilige Unschuld! Und ich sage Dir: Als jüngere Schwester solltest Du Dich schämen, Deine Augen auf einen Mann zu werfen, der mit der älteren verlobt ist!«

Käthe stand wie vom Blitz getroffen. Wer hatte in die Tiefen ihres Herzens geblickt und das Geheimnis, das sie, angstvoll, mit Aufbietung aller inneren Kraft hinabgedrängt, an das Licht gezogen? Sie fühlten wie sie sich entfärbte; sie wusste, dass sie in diesem Augenblick wie eine auf dem schwersten Verbrechen Ertappte dastand, und doch brachte sie keinen Laut über ihre blassen Lippen.

»Schau, das böse Gewissen! Man könnte es nicht plastischer darstellen«, lachte Flora scharf auf und berührte mit dem Finger die Brust des Mädchens. »Ja, nicht wahr, Schatz, und wenn man es noch so schlau einfädelt, die ältere Schwester lässt sich nicht düpieren? Sie sieht solch einer ›reinen‹ Mädchenseele bis auf den Grund; sie verfolgt mit klugem Blick die verschiedenen zarten Regungen von der ersten Blumenspende an, die man mit dem naiven Wunsche, Aufmerksamkeit zu erregen, dem Mann in sein Zimmer legt –«

Jetzt kam Leben in die förmlich versteinerte Gestalt des jungen Mädchens. Unwillkürlich schlug sie die Hände zusammen – es kam ihr vor, als sei, seit sie den Fuß auf den heimischen Boden gesetzt, ihre ahnungslose Seele beschlichen worden, wie das Wild vom Jäger. War es möglich, dass man ihr aus dieser kleinen Nachlässigkeit, die ihr ja selbst Tränen des Verdrusses erpresst, einen solchen gehässigen Vorwurf machen konnte? Jetzt wallte ein gerechter Zorn in ihr auf.

»Diese Vergesslichkeit habe ich mir allerdings zuschulden kommen lassen«, sagte sie, ihre hohe Gestalt stolz aufrichtend. »Wer Dir aber auch davon gesprochen haben mag –«

»Wer? Er selbst, Kleine.«

»Dann bist Du es, die den Vorfall in ein total falsches Licht zieht –«

»Ah, Kind, nimm Dich ein wenig zusammen! Die so lange verhaltene Leidenschaft bricht Dir aus den Augen«, rief Flora mit kaltem Lächeln, aber ihre Fußspitze hämmerte in kaum zu bezähmendem Grimm auf dem Parkett. »Also ich lüge? Nicht er, mein Fräulein, indem er sich der Eroberung rühmt?«

Es war abermals, als fliehe jeder Blutstropfen aus dem Mädchengesicht, während sie energisch den Kopf schüttelte. »Nein! Und wenn Du mir das zu tausend Malen wiederholst, ich glaube es nicht. Eher werde ich irre an allem, was uns das Sittengesetz als gut und recht hinstellt. Er sollte eine Unwahrheit auch nur denken? Er sollte sich, wie nur irgendein charakterloser Geck, einer Eroberung rühmen? Er, der« – sie unterbrach sich, als erschrecke sie vor ihrer eigenen, leidenschaftlich bewegten Stimme. »Du hast ihn hässlich verdächtigt, als ich hierherkam«, setzte sie, sich bezwingend, hinzu. »Damals durfte ich Dir nicht entgegentreten, obgleich ich instinktmäßig sofort für ihm Partei ergriff, aber jetzt, wo ich ihn kenne, leide ich nicht, dass er auch nur mit einem Wort verunglimpft wird. Geradezu unglaublich ist’s, dass ich Dir das sagen muss. Wie kannst Du es übers Herz bringen, wie ist es Dir möglich, die Ehre dessen fortgesetzt anzufeinden, der Dir in der Kürze seinen Namen geben wird?«

Flora fuhr bei den letzten Worten herum und maß die Sprechende mit einem ungläubigen Blicke, als traue sie ihren Sinnen nicht. »Entweder Du bist eine Schauspielerin comme il faut, oder – eine Liebeserklärung muss Dir schwarz auf weiß überreicht werden, wenn Du sie verstehen sollst. Du wüsstest wirklich nichts?« Mit einem impertinenten Lächeln, das alle ihre feingespitzten Zähne zeigte, legte sie beide Hände auf Käthes Arm und schob sie, nach einem durchbohrend dämonischen Aufblicke in die braunen Augen, zornig, heftig von sich. »Bah, was will ich denn noch? Hast Du nicht eben gekämpft und Dich echauffiert, als wolltest Du den letzten Atemzug für ihn verhauchen?«

Käthe wandte ihr den Rücken und schritt nach der Tür. »Ich sehe nicht ein, weshalb Du mich vorhin zurückgehalten hast«, sagte sie unwillig.

»Ach, ich war zu verblümt? Muss ich durchaus gut deutsch sprechen? Nun denn, meine Liebe, ich will nichts mehr und nichts weniger wissen, als was Bruck gestern und heute mit Dir verhandelt hat.«

»Was er mit mir verhandelt hat«, fuhr Käthe fort, »das darfst Du wissen, Wort für Wort. Er hat sich bemüht, und ich habe es ihm schwer genug gemacht, mein blindes Hoffen auf eine abermalige Besserung der Kranken zu zerstören – er hat sich bemüht, mich darauf vorzubereiten, dass« – ihre Stimme brach, und halb verhaltene Tränen glänzten in ihren Augen – »Henriette uns verlassen wird.«