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Im Hause des Kommerzienrates

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Sie durchmaß aufgeregt das Zimmer. »Du hast mir gegenüber für Dein Bleiben hier nicht die leiseste Entschuldigung«, hob sie, fern von ihm stehen bleibend, mit finster zusammengezogenen Brauen wieder an, nachdem sie vergeblich auf einen Laut von seinen Lippen gewartet hatte. »Nicht einmal auf die Kranken in der Beletage kannst Du Dich berufen. Henriette hättest Du so wie so ihrem Schicksale überlassen müssen, und was Käthe betrifft, so wirst Du mich nicht überzeugen, dass die Stirnschramme, die Du selbst für vollkommen ungefährlich erklärt hast, Deine ganze Ärztliche Kunst und Hilfe erheische. Ehrlich gestanden, ich habe in dieser Nacht das Lachen verbeißen müssen über Dein und der Tante Gebaren. Wenn Henriette über die paar vergossenen Blutstropfen kindische Tränen weint, so mag das hingehen –, sie ist krank und nervengereizt –, aber dass Du Dich gebärdetest, als sei unsere Jüngste, dieser derbe, urgesunde Holzhackerspross, aus Duft und Schnee zusammengesetzt –« unwillkürlich verstummte sie vor Leos Aussehen. Er hatte sich ihr zugewendet mit drohend gehobenem Finger, mit einer nicht mehr zu bezwingenden Aufregung in den Zügen.

Sie lachte zornig auf. »Glaubst Du, ich fürchte mich? Ich habe Deiner sehr unpassenden Handbewegung eine ganz andere Drohung entgegenzusetzen: Hüte Dich – noch ist das ›Ja‹ am Altare nicht gesprochen; noch liegt es in meiner Hand, eine Wendung herbeizuführen, die Dir schwerlich gefallen dürfte. Und nun gerade wiederhole ich, dass mich Dein gestriges ärztliches Tun und Treiben um Käthe schließlich angewidert hat. Soll ich nicht spöttisch werden, wenn Du sie pflegst und verziehst, wie eine Prinzessin –«

»Nein, nicht wie eine Prinzessin – wie eine Geliebte des Herzens, wie eine erste und einzige Liebe, Flora«, fiel er mit seiner tiefen, klangvollen Stimme in sichtlicher Bewegung ein.

Ein Schrecken durchfuhr sie, als habe ein Blitzschlag die Erde vor ihren Füßen gespalten; unwillkürlich hoben sich ihre Arme gen Himmel, und so stürzte sie auf den Sprechenden zu.

Er streckte ihr abwehrend die Hände entgegen; sonst stand er in unerschütterter Haltung. »Was ich bisher, unter unbeschreiblichen Kämpfen mit mir selbst, in meiner Brust verschlossen habe – aus Scham und von einem Grundsatze ausgehend, der sich als falsch, ja, als unmoralisch erwiesen hat –, ich muss es Dir jetzt bekennen. Ich sehe ab von jeder Verteidigung, von jedem beschönigenden Worte« – die Stimme sank ihm – »ich bin treulos gewesen von dem Augenblicke an, wo ich Käthe zum ersten Male gesehen habe.«

Flora ließ langsam ihre Hände sinken. So unumwunden und zweifellos auch das Geständnis lautete, es war dennoch das Unglaubwürdigste, das sie je gehört. Bah, wie hatte sie sich hinreißen lassen können, ein so kopfloses Erschrecken zu zeigen! Es war wohl oft genug geschehen, dass die gefeierte Flora Mangold Männerherzen unwiderstehlich an sich gezogen, und sie dann in Momenten, wo es am wenigsten erwartet wurde, launenhaft und unbarmherzig von sich gestoßen hatte – ach ja, das war zu ihrer innersten Genugtuung so oft geschehen, wie sie Ballsaisons mitgemacht, aber dass ein Mann ihr die Treue brechen könne – lächerlich! Das war zu absurd; das glaubte niemand in der Residenz, und sie selbst am wenigsten. Da lag es doch weit näher, zu denken, dass Doktor Bruck endlich auch einmal den Mut finde, sich zu revanchieren. Sie hatte eben »ihre Feuerprobe« bis an die äußerste Grenze geführt; sie hatte in ihrem wohlbegründeten Verdrusse gedreht, noch wenige Schritte vom Altar ihr »Ja« zurückzuhalten, und das hatte ihn gereizt, hatte seine Langmut erschöpft; er wollte sie strafen, indem er sie eifersüchtig machte. Ihre bodenlose Eitelkeit und Frivolität halfen ihr noch für wenige Augenblicke über die bitterste Täuschung ihres ganzen Lebens hinweg.

Sie verzog ironisch die Lippen und schlug die Arme unter. »Ah, also gleich beim ersten Erblicken!« sagte sie. »War das gleich draußen im Korridor, wo sie nach Handwerksbrauch, den Reisestaub auf den Schuhen, mit dem poetischen Taschentuch-Bündelchen in der Hand, hier ankam?«

Man sah, wie ihr spielender Hohn jeden Blutstropfen in dem Manne empörte; angesichts der furchtbaren Entscheidung, die endlich nach namenlosen Leiden und Kämpfen, durch seine wahre »erste und einzige« Liebe herbeigeführt worden, wurde er lächelnd und frivol ins Gebet genommen, wie ein Schulknabe. Er bezwang sich mühsam; die Lösung dieser Lebensfrage musste noch in dieser Stunde erfolgen, aber dass es nicht in würdeloser Weise geschehe, das war seine Aufgabe.

»Da war ich schon ihr Führer und Begleiter gewesen; in der Mühle habe ich Käthe zuerst gesehen«, versetzte er nach einem momentanen Ringen mit sich selbst, ziemlich gelassen.

Eine dunkle Röte der Überraschung überflog Floras Wangen. Es begann in ihren Augen zu glimmen; sie biss sich auf die Lippen. »Ei, davon erfährt man ja das erste Wort. Und auch die Duckmäuserin mit dem ›reinen‹ Herzen hat Grund gehabt, diese interessante Begegnung zu verschweigen.« Sie lachte kurz und hart auf. »Nun, und weiter, Bruck?« Die Arme noch fester unter dem Busen kreuzend, stemmte sie den Fuß sichtlich herausfordernd auf den Teppich.

»Wenn Du in dem Tone verharrst, dann bleibt mir kein Weg zur Verständigung, als der schriftliche.« Er wollte mit allen Zeichen der Entrüstung an ihr vorübergehen.

Sie vertrat ihm den Weg. »Mein Gott, wie Du das tragisch nimmst! Ich bemühe mich ja nur, auf Deine kleine Komödie einzugehen. Also in einen Federkrieg willst Du Dich mit mir einlassen? Lieber Leo, da ziehst Du den Kürzeren – darauf verlasse Dich! – magst Du auch noch so viel epochemachende medizinische Broschüren in die Welt geschickt haben.«

Das übermütige Lächeln, das ihre Versicherung begleitete, erstarb ihr auf den Lippen; ein so eisig finsterer, zurückweisender Blick begegnete dem ihren. Jetzt dämmerte allmählich die Ahnung in ihr auf, es könne ihm doch wohl Ernst, bitterer Ernst sein – nicht mit seiner fingierten Liebe für »die Jüngste«; die war nun einmal nicht denkbar – wohl aber mit dem Entschlüsse, bei aller Leidenschaft für sie, doch lieber in der letzten Stunde noch mit der kapriziösen Braut zu brechen, als sich zeitlebens der »Feuerprobe« zu unterwerfen. Sie, bereute ihr Vorgehen, und dennoch siegte der wilde Trotz, der beispiellose Übermut in ihr.

»So gehe!« sagte sie rasch zur Seite tretend. »Solche Blicke, wie Du mir eben zugeworfen hast, vertrage ich nicht. Gehe – ich rühre nicht einen Finger, Dich zu halten.« Sie brach in ein schneidendes Hohngelächter aus. »O Männercharakter, viel berühmter und besungener! Es hat eine Zeit gegeben, wo ich fast auf den Knien um meine Freiheit gebettelt habe; man war würdelos genug, die widerstrebende Braut umso fester in Ketten zu legen. Da sieh, und lerne von mir, was in solchen Momenten selbst für ›die schwache, eitle Frauenseele‹ einzig und allein maßgebend ist: der Stolz –«

»Es war auch Stolz, der mich damals unerbittlich bleiben ließ, unbändiger Stolz, wenn auch ein ganz anderer, als das Gemisch von Trotz und Grimm, das Du als solchen bezeichnest« unterbrach er sie mit maßvoller Ruhe, obgleich die letzte Spur von Farbe aus seinen Wangen gewichen war. »Ich bekenne mich ja dazu, schwer gefehlt zu haben; ich werde Dich, wie bereits gesagt, mit keiner Verteidigung behelligen, die andere auch nur entfernt der Mitschuld bezichtigen könnte. … Der Impuls meiner damaligen Handlungsweise war das Pochen auf die eigene Kraft, auf den Manneswillen, der mit allen Gefühlsausschreitungen der Seele fertig werden müsse, wie ich wähnte. Ich gab Dir Dein Wort nicht zurück, weil ich gewohnt war, das meine, einmal gegeben, in allen Lebenslagen als unverbrüchlich bis in alle Ewigkeit anzusehen; von dem Standpunkte aus erschien mir unser Verlöbnis so unlösbar, wie dem Katholiken die Ehe. … Ich leugne nicht, dass auch der Rest studentischer Ehrbegriffe in mir nachwirkte. An jenem Abende habe ich Dir diesen einen Beweggrund ausgesprochen, und ich muss ihn auch jetzt noch einmal betonen: Ich wollte nicht in die Schar Derer zurücktreten, die an Deinem Siegeswagen gezogen  und dann mit Eklat entlassen worden waren; ich wiederhole, dass ich diese Anschauung jetzt als jugendlich unreif verwerfe, weil in solchen Fällen nicht die Ehre des Mannes, sondern die der Frau kompromittiert ist.«

Sie wandte ihm mit einem zornflammenden Blicke den Rücken und ließ ihre Finger in leisem, unregelmäßigem Getrommel auf der Tischplatte spielen. »Ich habe Dir nie verschwiegen, dass meine Hand unzählige Male begehrt und erstrebt worden ist, ehe ich mich mit Dir verlobte«, sagte sie stolz nachlässig, ohne auch nur den Kopf in der Richtung nach ihm zu bewegen.

»Du so wenig, wie alle meine Bekannten«, fiel er ein. »Du darfst aber nicht vergessen, dass Du das unnahbare Ideal meiner Jugend gewesen bist. Auf der Universität und noch im letzten Feldzuge hat mich der Gedanke angespornt, dass das stolze Herz der Vielumworbenen sich noch keinem zugeneigt, dass es den hoch beglücken müsse, der es erringe –« er unterbrach sich – er durfte und wollte sich nicht auf ihre Koketterie beziehen; er verschmähte alle, auch die begründetsten Vorwürfe als Hilfstruppen.

»Und möchtest Du dem entgegen behaupten, ich hätte auch nur einen aus dem Tross dieser unvermeidlichen Anbeter geliebt?« brauste sie auf.

»Geliebt? Nein, Flora, keinen von allen – auch mich nicht«, rief er, doch wieder fortgerissen. »Geliebt hast Du stets nur die unvergleichliche Schönheit, die gesellschaftliche Tournüre, den vielbewunderten Esprit, den künftigen Ruhm der gefeierten Flora Mangold.«

»Sieh, sieh – die Schmeichelei des Liebenden habe ich stets auf Deinen Lippen schmerzlich vermisst; selbst beim bräutlichen Kosen hast Du nie einen bezeichnenden Schmeichelnamen für mich gefunden – und jetzt, in der Erbitterung zeigst Du mir ein Spiegelbild, mit welchem ich wohl zufrieden sein kann.«

Er errötete wie ein Mädchen. Es war lange her, dass er den schönen Mund dort nicht mehr geküsst, und doch meinte er, dass es überhaupt geschehen, sei eine Versündigung an der anderen, die, rein und unberührt an Leib und Seele, sein Frauenideal erst jetzt verwirklichte. Er entzog unwillkürlich sein Gesicht den Augen, die ihn mit einem heimlich lachenden Ausdrucke fixierten, und sah hinaus in den Gärten.

 

Ah, sie hatte ihn im richtigen Moment an schöne Zeiten erinnert – jetzt hatte sie gewonnenes Spiel. »Leo, bist Du wirklich zu mir gekommen, um hart mit mir zu verfahren, um mich anzuklagen?« fragte sie, rasch zu ihm tretend – sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Du vergissest, dass Du mich zu Dir beschieden hast, Flora«, entgegnete er ernst. »Ich wäre nicht aus eigenem Antriebe gekommen – ich habe oben zwei Kranke; Henriettens Zustand ist gegen Morgen bedenklich geworden; ohne Deinen ausdrücklichen Wunsch würde ich sie nicht verlassen haben, so wenig, wie ich in diesen unseligen Tagen voll Angst und namenloser Verwirrung daran gedacht hätte, eine Entscheidung herbeizuführen, wie Du sie vorhin provoziert hast.«

»Eine Entscheidung? Weil ich Dich in kindischem Trotz und Ärger gehen hieß? … Geh’, wie magst Du Mädchenzorn so bitterernst nehmen!« Das sagte sie, die sonst jede mädchenhafte Regung, als ihres männlich gearteten Geistes unwürdig, verleugnete – mit dieser aalglatt entschlüpfenden Frauenseele war schwer zu rechten.

Dem Doktor stieg das Blut in das Gesicht; sie hatte ihn durch ihre unberechenbaren Einwürfe einen Kreislauf machen lassen – er stand wieder am Ausgangspunkte. »Ich messe Dir auch darin die Schuld nicht bei«, antwortete er mit unverkennbar hervorbrechender leidenschaftlicher Ungeduld. »Ich habe mich hinreißen lassen, Dir zu gestehen –«

»Ach ja, Du sprachst von Deinem Manneswillen, der mit allen Gefühlsausschreitungen fertig werden müsse – ist er Dir dennoch untreu geworden?«

»Nein, treulos nicht; er hat sich nur einer besseren Überzeugung unterwerfen müssen. Flora, ich habe Dir gleich zu Anfang gesagt, dass ich bei meiner Weigerung, unser Verlöbnis zu lösen, von einem falschen Grundsatze ausgegangen sei. Ich wusste damals längst, dass nicht eine Spur wahrer, hingebender Liebe für mich in Deinem Herzen lebte, und auch ich hatte mit meinem Gefühle für Dich vollkommen abgeschlossen, das enthusiastische Bewunderung von der Ferne aus, niemals aber warme, innige Herzensneigung gewesen war – wir hatten beide geirrt. Zwar litt ich schwer unter dem Bewusstsein, einer liebeleeren Zukunft entgegen zu gehen, ich, dem die Natur ein liebeheischendes Herz gegeben, der ich mir den eigenen Herd nicht ohne die verklärende Familienliebe denken kann, aber ich fügte mich, und Du hast Dich noch rascher mit Deiner vermeintlichen Nebenbuhlerin, meiner Praxis, abgefunden; Du hast die Entfremdung willig sanktioniert, weil sie Dir kein inneres Opfer auferlegte.«

Sie schwieg, und ihre Augen irrten unwillkürlich über den bestaubten Teppich hin – es war ihr unmöglich, dem Sprechenden in das ernste, von tiefer Erregung beseelte Gesicht hinein zu lügen.

»Und ich klammerte mich umso angstvoller an die Unverletzlichkeit meines Wortes, je treuloser meine Gedanken von Dir abirrten –«

»Ah – also doch?«

»Ja, Flora. Ich habe gerungen mit meiner Neigung, wie mit einem erbitterten Todfeinde.« Ein schwerer, gepresster Atemzug hob seine Brust. »Ich bin vom ersten Augenblick an hart, grausam mit mir selbst und mit dem Mädchen verfahren, das mir diese unbesiegbare Neigung einflößte. Ich habe jede, auch die unschuldigste Annäherung streng von mir gewiesen – nicht einmal die Blumen, die sie in der Hand gehalten und achtlos vergessen hatte, litt ich in meinem Zimmer. Sie war gern in meinem Hause, und ich wehrte diesem Verkehre, als ob sie mir einen Feuerbrand unter das Dach trage; ich war kalt, unhöflich ihr in das Gesicht hinein, das mich doch entzückte wie noch nie ein Menschenantlitz –«

»Mein Gott, ja – man begreift das! Entzückend für das Auge des Arztes, gesund und rund und weiß und rot, als habe die Natur den Tüncherpinsel dazu genommen.« Mit diesen Worten wich die Erstarrung, die über die atemlos horchende Frauengestalt gekommen war – sie presste die geballte Rechte heftig gegen die Brust. »Und ein solches Bekenntnis wagst Du mir gegenüber? Wie, Blumen wirft diese naive Jugend in das Zimmer der Männer, die sie kirren will –«

»Still!« Er hob die Hand mit jenem gebieterisch zwingenden Blicke, der stets selbst diesen Mund verstummen machte. »Mich überschütte mit Vorwürfen – ich will sie widerstandslos über mich ergehen lassen, vor Käthe aber stehe ich in Wehr und Waffen. Sie hat meine Liebe für sich niemals wissentlich angefacht; sie ist nach Dresden zurückgekehrt und hat nicht gewusst, wie es um mich, wie es um – sie selbst steht. Weshalb sie damals gegangen, das weißt Du am besten. Während man sie von einer Seite drängte, eine Ehe ohne Liebe einzugehen, wurde ihr von der andern erschreckend deutlich nahegelegt, dass sie ihr Zimmer zu räumen und einem hochgeborenen Besuche Platz zu machen habe. Ich war Zeuge dieser unverblümten Ausweisung; um ein Haar hätte ich mich damals vergessen und, der Frau Präsidentin Worte der Erbitterung gesagt, und doch, als die indirekte Aufforderung an mich erging, die Überzählige in mein Heim aufzunehmen, da hatte auch ich keinen Raum für sie; ja, sie musste eine Stunde später vor meinem Hause, wenn auch ohne mein Wissen, mit anhören, wie ich meine Tante ersuchtes den Verkehr mit ihr abzubrechen, so lange ich noch aus- und eingehe. Und da ist sie gegangen, tiefverletzt in ihrem stolzen, festen, und doch so weichen Gemüte, und ich war barbarisch, nein, unmoralisch genug, um eines falschen Prinzips, um eines tönernen Götzen willen, der gewisse Ehrbegriffe repräsentiert, in der großen Lüge zu beharren, die ich ihr, mir selbst und der ganzen Welt glaubwürdig zu machen suchte.«

Wie überwältigt von seiner eigenen Schilderung schwieg er sekundenlang; Flora warf sich über das Ruhebett hin und presste den Kopf zwischen ihre schmalen Hände, als wolle sie nichts mehr hören, aber er fuhr fort: »Ich ließ sie erbarmungslos gehen; ich atmete – nun sollte es besser werden mit mir und meiner inneren Qual – töricht, töricht! Ich sah nicht, wie in demselben Augenblicke, wo sie hinter dem Ufergebüsche verschwand, ein Dämon an mich herankroch, der sich festklammerte – es war nicht die Überbürdung meiner Praxis, was mich hohlwangig und der Geselligkeit gegenüber finster und  feindselig machte – in der angestrengten Arbeit und Tätigkeit bin ich stets freudig und tatkräftig geblieben – es war die Sehnsucht, die sich von Tag zu Tag steigerte.«

Er hatte den Fensterbogen verlassen und durchmaß das Zimmer in sichtlichem innerem Aufruhre, und jetzt erhob sich Flora wieder wie mit einem gewaltsamen Rucke und schüttelte das nach vorn gefallene Lockengeringel wild aus der Stirn.

»Um Käthes willen?« rief sie bitter auflachend. »Möchte doch der Papa jetzt sehen, welch richtiger Instinkt seine Erstgeborene geleitet hat, als sie sich weigerte, die Schlossmüllerstochter Mama zu nennen, als sie feiner neugeborenen Jüngsten den Rücken wandte, weil sie ja schon zwei richtige Schwestern habe, und kein Stiefschwesterchen wolle! Und es ist kein falscher Grundsatz gewesen, der Dir bisher zur Richtschnur gedient hat – nein. Wie viel tausend ›große Lügen‹ um dieses Prinzipes willen beseelen und regieren das Menschengetriebe, und die sie siegreich durchführen, wird man bis in alle Ewigkeit respektabel und ehrenhaft nennen –«

»Ich habe mir gelobt, das Vergangene bei dieser Entscheidung nicht zu berühren«, unterbrach er sie, stehenbleibend, mit bebender Stimme, aber offenbar entschlossen, der Sache ein Ende zu machen, »und doch zwingst Du mich, auf jenen Auftritt zwischen Dir und mir zurückzukommen, der nach dem Attentate im Walde erfolgte. Ich habe mir damals von meiner Braut in das Gesicht sagen lassen, dass sie mich hasst, oder vielmehr verachte, weil mich ein Missgeschick zu verhinderst schien, die Berühmtheit zu werden, mit der sie sich zu verloben geglaubt hatte. Ich habe tags darauf die beispiellose Tatsache erlebt, dass sich dieser Hass mittelst meiner Ernennung zum fürstlichen Hofrate sofort in die innigste Zuneigung verwandelte, und habe schweigend, mit verbissener Verachtung mein Joch weitergeschleppt, weil ich eben ›respektabel und ehrenhaft‹ bleiben wollte. Und ich hätte auch diese abscheuliche Lüge zu Ende geführt, wären wir Zwei allein die Betreffenden geblieben, wäre nur mir die Marter eines verödeten Lebens aufgebürdet gewesen. Ich möchte die drei Menschenherzen um die es sich handelt, vor die große Schiedsrichterin, die Moral, hinstellen: das eine, das sich zu dem ›Ja‹ am Altare nur herbeilässt, weil es ihm zu einer lebhaft gewünschten äußeren Lebensstellung verhilft, und die beiden anderen, die sich der heiligen Mission plötzlich bewusst werden, in wahrer, inniger Liebe sich zu ergänzen, die in gleichem Schlage zueinander gehören, ob sie auch bis nach den entgegengesetzten Polen auseinander gedrängt würden –«

Ein halberstickter Schrei unterbrach ihn. »Hat sie es wirklich gewagt, das heuchlerische Geschöpf, ihre Augen zu dem Verlobten ihrer Schwester zu erheben? Sie hat Dir ihre verbrecherische Liebe eingestanden?«

Er maß sie einen Moment mit flammenden Augen, in sprachlosem Zorne. »Und wenn Du auch vor den schlimmsten Bezeichnungen nicht zurückschrickst, Du kannst diesen fleckenlosest Mädchencharakter doch nicht verunglimpfen«, sagte er gepresst. »Ich habe seit jenem Abschied kein Wort wieder von ihren Lippen gehört; auch in dieser Nacht nicht, wo sie endlich die Augen mit zurückkehrendem Bewusstsein wieder aufschlug. Sie ist gestern zurückgekommen, und ich habe es nicht gewusst. Ich war vor dem Polterabend-Lärm, der selbst an jedem Krankenbett erwähnt und erörtert wurde, in meinen einsamen Garten geflüchtet – und da sah ich sie plötzlich an der Brücke stehen, eine Verbannte, die sich nicht über den Holzbogen wagte, weil mein hartes Wort sie hinausgestoßen hatte.« Er verstummte, und eine dunkle Glut überströmte sein Gesicht; nun und nimmer sprach er es vor diesen Ohren aus, wie ihm mit jenem Anblick die »himmelhochjauchzende« Überzeugung gekommen sei, dass das weinende Mädchen dort ihn liebe.

»Ich habe sie dann, nach dem furchtbaren Ereignis im Parke gesucht«, fuhr er fort, sich gewaltsam in eine ruhigere Redeweise zwingend; »und als ich sie vom Boden aufnahm, da sagte ich mir, dass der Tod an diesem schwachatmenden Leben nur vorübergegangen sei, damit ich doch noch glücklich werden solle. Da riss ich mich los von allen Banden des Herkommens und einer zweifelhaften Ehrverpflichtung; ich stellte mich übe’ das Basengeschwätz der medisierenden Welt und verzichtete auf den Ehrentitel eines ›respektabelst‹ Heuchlers.«

Schon während seiner ganzen letzten Schilderung hatte sich Floras Haltung verändert; sie hatte verspielt– es war alles aus, und sie wäre nicht das intrigante Weib mit dem scharfen Blick und dem kalt berechnenden Geist gewesen, wenn sie sich nichts auch sofort dieser Situation zu bemächtigen gewusst hätte! Das trotzig Gespannte in ihrer Gestalt wandelte sich unter den Augen des sprechenden Mannes in die weiche Gliedergeschmeidigkeit der Katze. Mit fliegenden Händen zog sie das verschobene Morgenhäubchen über die Locken, und während sie die Spitzenbarben unter dem Kinn ineinanderschlang, sah sie mit einem wahrhaft satanischen Lächeln unter den tiefgesenkten Brauen empor und fügte, alle ihre scharfen, blitzenden Zähne zeigend, mit Bezug auf seine letzten Worte: »Wie, ohne mich zu fragen, mein Herr Doktor? Nun, immerhin! Im Hinblick auf die eben gehörten naiven Geständnisse frage ich mich, nicht ohne ein befreites Aufatmen: ›Was hätte aus Dir werden sollen an der Seite eines solchen Gefühlsschwärmers!‹ Und drum ist’s gut so, ganz gut so für uns beiden wie es gekommen. Ich gebe Dir Dein Wort zurück, allerdings nur ungefähr so, wie man einen Vogel am Faden fliegen lässt, dessen eines Ende man fest um den Finger wickelt.« Sie tippte, abermals scharflächelnd mit der feinen Fingerspitze auf den Verlobungsring an ihrer Hand. »Freie um die erste, beste junge Dame der Residenz – und sei es eine meiner glühendsten Neiderinnen, wie ich ja deren genug habe – und ich will den Reifen in ihre Hand legen; nur Käthe nicht, absolut nicht! Hörst Du? Und wenn Du mit ihr über das Meer flüchten, oder an den entlegensten Dorfkirchenaltar treten wolltest: ich würde im richtigen Moment da sein, um Einspruch zu tun.«

»Gott sei Dank, dazu hast Du nicht die Macht«, sagte er totenbleich und tiefatmend.

»Meinst Du? Dass Du niemals nach Deinem Wunsch und Sinn glücklich wirst, dafür lasse mich sorgen, Treuloser Erbärmlicher, der ein stolzes Blumenbeet zertritt, um – eine Gänseblume zu pflücken! Du wirst von mir hören.«

Unter leisem Hohngelächter schritt sie rasch ihrem Schlafzimmer zu, dessen Tür sie hinter sich verriegelte, und fast gleichzeitig klopfte ein Lakai draußen und berief den Doktor in die Beletage, weil »Fräulein Henriette« eben wieder von einem sehr schlimmen Brustkrampf befallen worden sei.