Free

Im Hause des Kommerzienrates

Text
iOSAndroidWindows Phone
Where should the link to the app be sent?
Do not close this window until you have entered the code on your mobile device
RetryLink sent

At the request of the copyright holder, this book is not available to be downloaded as a file.

However, you can read it in our mobile apps (even offline) and online on the LitRes website

Mark as finished
Font:Smaller АаLarger Aa

13

Im Flur, dessen Fenster nach Norden gingen, herrschte schon leichte Dämmerung; nur von der Küche her, in welcher noch der letzte rötliche Abendschein an den Wänden hinspielte, fiel es hell über den roten Ziegelfußboden.

Die Tante Diakonus stand drinnen am Fenster und wusch das gebrauchte Teegeschirr. Die zurückberufene Köchin sollte erst morgen eintreffen; sie war krank geworden – deshalb lagen die kleinen Hausgeschäfte noch auf den Schultern der alten Frau. Sie nickte Käthe vertraulich mit freundlichem Lächeln zu; nicht die leiseste Ahnung von dem, was sich dort hinter der breiten Flügeltür zutrug, beunruhigte das stillfriedliche, sanfte Frauengemüt. Das junge Mädchen schauerte in sich zusammen und eilte vorüber, hinaus in den Garten.

Es war sehr kühl geworden. Ein starker Zugwind blies scharf und kältend vom Flusse her über ihr Gesicht und die nur von dem Seidenkleide bedeckten Schultern. Mit tiefatmender Brust stürmte sie ihm entgegen. Sie war ein Mädchen mit starkem Empfinden, mit heißem, kräftig kreisendem Jugendblute in den Adern; die Flammen der inneren Empörung brannten auch auf ihren Wangen, in den trockenheißen Augen und züngelten bis in die nervös klopfenden Fingerspitzen.

Sie hatte eben Schreckliches erlebt – welch ein entsetzliches Ringen zwischen zwei Menschenseelen! Und die Schuldige, die es heraufbeschworen, war ihre Schwester – dieser treulose, frivole Frauencharakter, der spielend das ernste Band zwischen Mann und Weib knüpfte, um es bei dem ersten Missfallen, wie das Gespinst haltloser Sommerfäden, zu zerreißen und in alle Lüfte hinausflattern zu lassen! Wohl hatte Flora sich diesmal in ihrem Opfer gründlich verrechnet; sie traf auf Stahl, wo sie ein durch die Verurteilung des Publikums und ihr eigenes systematisch durchgeführtes, allmähliches Erkalten bereits tiefgedemütigtes Herz leichten Spieles niederzutreten meinte, aber was halfen ihm die Festigkeit und Energie, mit denen er ihr die Stirn bot? Er war doch der Unterliegende. …

Käthe trat auf die Brücke, und die Hände auf das leicht erzitternde, schwanke Holzgeländer stützend, sah sie hinab. Die Wasser stürzten und rauschten unter ihren Füßen hin; mit jedem Steinblock, der seinen Platz im Flussbette behauptete, mit jeder starken Baumwurzel, die sich aus der Ufererde zwängte, rangen und stritten sie, dass der Gischt hochauf spritzte, und doch schwebte dort, fern, die bleiche Mondsichel inmitten der spiegelnden Flut, und es war, als stehe sie unverrückbar still für alle Zeiten. Stand so die Liebe im Menschenherzen? Umstürmten sie vergebens die wildesten Kämpfe, und erblich sie nicht, wo sie verachten musste, wo ihr Ideal in Trümmer ging? Nein, sie hatte das eben mit angesehen.

Wunderbare Leidenschaft! Schon einmal hatte sie unter dem Dache dort eine Menschenseele durch alle Stadien des Jammers, der Verzweiflung gehetzt. Wie die Tante dem jungen Mädchen neulich auf dem Heimgange erzählte, hatte in dem Hause am Flusse die schöne, junge Witwe eines Herrn von Baumgarten gelebt. Der Nachfolger ihres Gemahls, der Spross einer Seitenlinie und ein wunderschöner Kavalier, war täglich vom alten Herrenhause herübergekommen, um in das liebliche Frauenantlitz zu sehen, das sich, von Witwenschleier und Schneppenhaube umrahmt, aus dem Fenster bog. In das Haus durfte er nicht, denn sie war sehr sittsam. Er war auch oft hoch auf seinem schwarzen Ross über die schmale Holzbrücke geritten und hatte das schnaubende, ungebärdige Tier dicht an die Hauswand gedrängt, um den Atem des schönen Frauenmundes zu spüren und ihre weiße Hand mit heißer Inbrunst zu küssen, und die das mit angesehen, hatten geschworen, dass er nach Ablauf der Trauerzeit die junge Witwe wiederum als Herrin in das Schloss Baumgarten zurückführen werde.

Aber da war er einmal auf längere Zeit fort gewesen, an einem fremden Hofe, und die Leute hatten der Edelfrau im Hause am Flusse hinterbracht, dass er sich ein junges Ehegemahl aus hochgräflichem Geschlechte mit heimbringen werde. Die schöne Witwe hatte nur gelächelt und desto emsiger an ihrem Fenster mach ihm ausgeschaut – sie hat an so viel Falschheit nicht geglaubt, bis das Zinken- und Trompetengeschmetter vom Schlosse herüber verkündigt hat, dass der eben zurückgekehrte Herr den Einzug seines jungen, stolzen Weibes mit einem üppigen Bankett feiere.

Und tags darauf war er mit der neuen Schlossherrin über die Holzbrücke geschritten, um sie im Hause am Flusse vorzustellen – die bunten Tulipanen auf ihrem schweren Brokatrock, den sie über den Boden hinschleppte, hatten weithin geleuchtet, und auf dem breiten Fächer in ihrer Hand hatte das hochgräfliche Wappen in Edelsteinen gefunkelt, und das rehfarbene Windspiel, das früher immer vor dem Rosse hergelaufen, war auch mitgekommen, aber diesmal lief es nicht nach dem Fenster, von wo ihm einst die weißen Hände Zucker und Kuchenbrocken herabgeworfen; es rannte ein Stückchen am Flussufer hin und deckte und winselte kläglich – und da schwamm ein schneeweißes Gewand, an dem die Wellen rissen und zerrten, um es mitzunehmen, aber die langen, blonden Flechten an dem blassen Frauenkopfe hatten sich im Wurzelgeflechte der Uferbäume verschlungen und hielten die Tode fest, für ihn, auf dass er noch einmal in die starren, weitoffenen Augen blicken sollte.

Das Fenster, an welchem sie mit der ganzen Zuversicht treuer Liebe gehofft, dass er wieder zu Ross über die Brücke kommen werde, war wohl das dort gewesen, wo abends die Lampe des Doktors brannte. Dort hatte sie wohl auch gestanden und in bitterer Verzweiflung die Wellen vorbeirauschen sehen, die von dem lustigen Hochzeitshause daherkamen, und das heiße Verlangen hatte sie überwältigt, den schönen Leib in das brausende Gewässer zu stürzen, dass es ihn forttrage weit, weit weg von der Stätte ihres ehemaligen Glückes. Und nun, nach langen, langen Jahren wurde an derselben Stelle der gleiche Herzenskampf durchlitten – nein, nicht der gleiche! War er nicht ein Mann mit starkem Geiste? Ein Mann, den schon sein hoher Beruf auf Erden festhalten und allmählich über das nagende Leid hinwegheben musste? Und wenn auch das unglückliche Weib, das sich durch einen raschen Sprung aus all dem Jammer in die Grabestiefe rettete, die weißen Arme aus dem Wasser hob, um ihn zu locken – er folgte ihr nicht. … Ein Schrecken durchfuhr sie. Hatte Henriette nicht gesagt: »Wer Flora einmal Liebe gebend gesehen, der begreift, dass ein Mann eher den Tod sucht, als dass er sie aufgibt«? Und musste er sie nicht aufgeben, nachdem sie ihm erklärt, dass sie ihn hasse?

Käthe lief angstvoll in den Garten zurück, als tauche dort am dunkelnden Ufer die ertrunkene Edelfrau mit den blonden Flechten empor und greife mit den Händen auch nach ihr.

Es dunkelte. Der Wald, der heute Zeuge eines beispiellos rohen Auftrittes gewesen, breitete sich einförmig schwarz wie ein Sargtuch über den niedrig gewölbten Hügelrücken, und das durchfurchte Ackerland lag glatt und verschlossen da und ließ nicht ahnen, dass Milliarden lebendiger Keime mit kleinen kräftigen Armen unter der Kruste wühlten und drängten, um eine wogende Halmenwelt an das goldene Licht der Sonne zu heben. Droben auf dem Dache knarrten die Wetterfahnen in dem fauchenden Abendwinde, der sich allmählich aufblies, um in der Nacht als brausender Frühlingssturm über die Erde hinzufahren. Das Gezweig der Silberpappeln am Staket schwankte, und die noch losen Fichtenäste der halbfertigen Laube knisterten unter seinem wilden Odem. Durchsichtig wie ein Schemen stieg ihr Astgeflecht empor – wenn einst das schattige Grün voll und dicht über dem Holzgerippe hing, wie stand es dann wohl um alles, was in diesem Augenblick unentwirrt unter der gestaltenden Hand des Schicksals lag? Saß die Tante je dort in dem heißgewünschten grünen Sommerasyl, stillbeglückt, frohen Gemütes, wie einst im kleinen Pfarrgarten? Wenn ihr Liebling unglücklich wurde, wenn sie ihn verlor, niemals!

Mit scheuem Blick bog Käthe um die westliche Hausecke. Der gedämpfte Schein einer Nachtlampe fiel aus den Fenstern des Krankenzimmers. Noch war der Kampf nicht zu Ende. In der einen Fensternische stand der Doktor, den Rücken dem jungen Mädchen zugewandt, ungebeugt, aber den rechten Arm gehoben, als fordere er Schweigen. Was mochte sie eben gesagt haben, die im dunklen Hintergrund stand, nicht so hoch von Gestalt, dass man mehr hätte sehen können, als die trotzig schüttelnde Bewegung der weißen Spitzenkante über dem goldblonden Schein der Stirnlöckchen – hatte sie wieder mit Impertinenz an seinen Beruf gerührt?

Käthe fühlte in nervöser Aufregung ihre Zähne zusammenschlagen, aber es kam auch ein Zorn, eine Erbitterung über sie, als müsse sie dazwischen springen und die Treulose mit Gewalt auf ihre Pflicht zurückführen. Sollte sie nicht doch hineingehen, an seine Seite treten und der wortbrüchigen Schwester die ganze Empörung, die ganze Verachtung ihres Mädchenherzens in das Gesicht schleudern? Welch ein Gedanke! Was würde er zu dieser Einmischung einer Dritten sagen? Und wenn er diese Dritte nur mit einem kühlen, befremdeten Blicke maß, wenn er sie schweigend bei Seite schob, wie er neulich mit den »aufdringlichen« kleinen blauen Blumen getan – in die Erde müsste sie sinken vor Beschämung.

Käthe ging schleunigst weiter. Jetzt durchschüttelte Eiseskälte ihren Körper, und das starke Mädchen mit dem sonnenhellen Geiste und den kerngesunden Nerven überschlich ein wunderliches Grauen vor der Einsamkeit, in der sie wandelte, vor dem kraftlosen Licht der bleichgoldenen Sichel am Himmel und dem monoton gurgelnden Gemurmel der vorbeischießenden Flusswellen. Hinter dem Küchenfenster sah sie die Tante neben der blanken zinnernen Küchenlampe sitzen und Gemüse für den morgenden Mittagstisch putzen – ein milder Gegensatz zu der bewegten Szene im Krankenzimmer. So friedlich und beschwichtigend das Bild auch war, dahinein durfte sie sich mit der fieberhaften Spannung in Seele und Körper, mit ihrer Angst vor dem Kommenden nicht wagen; sie hätte ihren erregten Zustand nicht verbergen können vor den klaren Augen der alten Frau.

 

Die Haustür stand noch offen, die der Küche aber war geschlossen. Käthe schlüpfte auf den Zehen durch den dunklen Flur und trat in das Zimmer der Tante Diakonus. Hier wollte sie versuchen, ruhiger zu werden, in diesem dunkelnden, köstlich stillen, anheimelnden Stübchen voll Blumenatem und sonst durchwärmter, reiner Luft. Sie setzte sich in den Lehnstuhl hinter dem Nähtisch. Die Lorbeerbäume wölbten sich zur Laube über und neben ihr; die Narzissen, Veilchen und Maiblumen auf den Fenstersimsen dufteten betäubend süß, und der Kanarienvogel, der sich’s eben im Dämmerdunkel zur Nachtruhe bequem gemacht, hüpfte piepend und erregt in seinem Käfig von einem Stängel zum andern – es war doch Leben neben ihr, wenn auch nur das einer erschreckten Vogelseele. Aber ruhiger wurde sie nicht. Durch diese Räume war die schöne Verlassene im Witwenschleier gewandelt, und die lächelnden Genien, die noch an der Stuckdecke schwebten, hatten auf ihre Schmerzensausbrüche, ihre Todesnot niedergesehen. Käthe wehrte sich vergebens gegen die Spukgestalt und den Gedanken, dass auch Bruck den Trennungsschmerz nicht überleben werde. Henriette hatte das gesagt; sie hatte seine tiefe, heiße Liebe in der ersten Verlobungszeit gesehen – sie musste es wissen.

Die Tante kam herein, um, wie jeden Abend, die brennende Lampe auf den Arbeitstisch des Doktors zu stellen. Sie schloss die Läden, ließ die Rouleaus herab und schürte das Feuer im Ofen; dann ging sie wieder hinaus, ohne das junge Mädchen in ihrer kleinen Fensterlaube bemerkt zu haben. Ihr leiser, schwebender Tritt erlosch schon hinter der Tür, gleich darauf aber hallten feste Männerschritte durch den Flur, und der Doktor trat in das Zimmer.

Er blieb einen Moment an der Schwelle stehen und strich sich tief aufseufzend mit der Hand über die Stirn; er ahnte so wenig wie die alte Frau, dass dort hinter dem dunklen Laub ein Menschenherz in tödlicher Angst klopfe – drückte sich doch die Mädchengestalt, atemlos, wie zu Stein erstarrt, an die Fensterwand. War alles vorüber? Kam er verarmt, verzweifelnd, ein einsamer Mann für immer?

Rasch durchschritt er die beiden Zimmer und trat an seinen Schreibtisch. Käthe erhob sich lautlos. Mitten im Stübchen der Tante stehend, konnte sie ihn sehen. Der Lampenschein beleuchtete grell und voll sein Profil, das noch alle Symptome aufgestürmter Leidenschaft zeigte. Er war erhitzt, dunkelrot auf Stirn und Wangen, als habe er einen weiten Weg in brennender Mittagsglut gemacht; selbst die Augenlider erschienen gerötet. Es war auch ein heißer Weg gewesen, ein Weg über Trümmer, zerstörte Illusionen und Hoffnungen – war er am Ende, am öden Ziel, wo die schöne Fata Morgana entschwebte und die ganze schreckhafte Einsamkeit kommender Zeiten ihn anstierte?

Im Stehen schrieb er ein paar Zeilen auf einen Briefbogen und steckte das Blatt in ein Couvert. Das geschah mit hastigen Händen, in fiebernder Erregung. Auch die Adresse wurde in flüchtigen Zügen hingeworfen – wessen Name war es, den er schrieb? Gab es in dieser Stunde, außer der furchtbaren Entscheidung, noch Etwas auf Erden, an das er denken mochte? Der Brief konnte nur für Flora bestimmt sein – ein letztes Lebewohl, oder der zermalmende Richterspruch eines sterbenden Mannes?

Und nun goss er aus einer Karaffe Wasser in das milchweiße Kelchglas, in welches sie neulich ihren Frühlingsstrauß gesteckt hatte, dann schloss er einen kleinen Schrank im Schreibtisch auf und nahm ein winziges Medizinfläschchen heraus; er hielt es gegen das Licht – fünf silberhelle, farblose Tropfen fielen in das Glas.

Bis dahin hatte Käthe mit dem unheimlichen Gefühl, als stehe ihr das Herz still, wie gelähmt an ihrem Platze verharrt, aber nun kam die ganze, allmählich bis ins Maßlose gesteigerte Aufregung ihres Inneren stürmisch zum Ausbruch. Mit einigen raschen Schritten stand sie an seiner Seite und legte die Linke auf seine Schulter; mit der Rechten umfasste sie krampfhaft seine Hand, die das Glas eben zum Munde führen wollte, und zog sie langsam nieder.

Sie war keines Lautes fähig; ihre ganze Seelenangst, der innere Jammer, das unsägliche Mitleiden, das ihr gleichsam das Herz umwendete, malten sich in den braunen Augen, die in flehender Beredsamkeit die seinen suchten. Sie fuhr zurück. Gott im Himmel, was hatte sie getan! Unter dem großen, erstaunt fragenden Blicke, der sie traf, sank sie vor Scham fast in die Knie. Einige unartikulierte Worte stammelnd, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und brach in ein bitterliches Weinen aus.

Er begriff augenblicklich alles. Das verhängnisvolle Glas auf den Tisch stellend, nahm er bestürzt ihre Hände und zog sie an sich. »Käthe, liebe Käthe!« sagte er mit bebender Stimme und sah in das tränenüberströmte Antlitz, das sie mit einem sanften Neigen des Kopfes wegzuwenden suchte. In diesem Augenblicke erschien das prächtige, imponierende Mädchen vollkommen als das, was sie an Jahren, an Erfahrung, an fleckenloser Seele in Wirklichkeit war – als die Jugend in ihrem unangetasteten Glanze warmen rückhaltlosen Empfindens, aber auch in dem hilflosen Schrecken über eine ungeahnte Wendung.

Sie entzog ihm leise die Hände und trocknete in Hast ihre Augen mit dem Taschentuche. »Ich habe Sie schwer gekränkt, Herr Doktor«, sagte sie, immer noch mit den Tränen kämpfend. »Ich habe eine Taktlosigkeit begangen, die Sie mir ganz gewiss nie vergessen werden. Ach Gott, wie konnte ich mich nur in diese wahnwitzige Vorstellung so verrennen, dass« – sie biss sich auf die Unterlippe, um das krampfhafte Zucken ihres Mundes zu unterdrücken. »Gehen Sie nicht zu streng mit mir ins Gericht!« setzte sie mit sinkender Stimme hinzu. »Das, was ich heute schon durchleben musste, genügt wohl, um auch einen stärkeren, als meinen Mädchenverstand, zu verwirren.«

Er sah sie kaum an; nur von der Seite streifte sein Blick den schönen, jugendlichen Mund, als wolle er nicht zeigen, wie leid ihm diese bittere Selbstanklage tue, und wie fassungslos er selbst sei. Nun aber glitt das seelenvolle Lächeln, das sie schon kannte, leise durch seine Züge.

»Sie haben mich nicht gekränkt«, sagte er tröstend, »und wie sollte ich es wohl anfangen, mit Ihrem lauteren Gemüte ins Gericht zu gehen? Was Sie sich für eine Vorstellung von meinem Charakter, meiner Denkart, meinem Temperament gemacht haben mögen, um zu einem solchen Schlusse zu kommen – ich weiß es nicht; ich will darüber auch gar nicht grübeln, noch weniger aber widerlegen. Mir hat dieser Irrtum einen Lebensmoment gebracht, den ich allerdings nicht vergessen werde. Und nun beruhigen Sie sich, oder vielmehr, erlauben Sie mir, dass ich als Arzt meine Pflicht tue!« Er ergriff das Glas und hielt es ihr hin. »Nicht die Ruhe, die Sie fürchteten, wollte ich in diesem Tranke suchen« – er brach ab und hielt einen Augenblick inne. »Ich habe mich hinreißen lassen, heftig und leidenschaftlich zu werden, noch dazu am Krankenbette«, hob er von Neuem an; »das könnte ich mir nie verzeihen, wenn ich nicht bedächte, dass ich doch auch, wie jeder andere, Blut und Nerven habe, die mit dem guten Willen um die Herrschaft streiten. Ein paar Tropfen davon«, er zeigte auf das Medizinfläschchen, »genügen, um die nervöse Aufregung zu dämpfen.«

Sie nahm das Kelchglas, das er ihr bei diesen Worten nochmals bot, aus seiner Hand und trank es folgsam bis zur Neige leer.

»Nun aber möchte ich Sie um Verzeihung bitten, dass Sie eine so hässliche, aufregende Szene, wie die da drüben, mit ansehen mussten«, sagte er ernst und nachdrücklich. »Ich bin dafür verantwortlich; denn es hätte in meiner Macht gelegen, sie mit einigen zur rechten Zeit gesprochenen Worten zu verhindern.« Er lächelte so bitter, so schneidend, dass es dem jungen Mädchen durch die Seele ging. »Mich plage der leidige Bettelstolz, sagen einige meiner Herren Kollegen – die wenigen, die mich aus purer Gutmütigkeit noch nicht ganz haben fallen lassen – sie behaupten das, weil ich nicht zu den ›lauten‹ Leuten gehöre. Dieser ›Bettelstolz‹ ist zu einer Art von Kassandrafluch für mich geworden. Die Welt nimmt das Schweigen für Unfähigkeit, für Mangel an Urteil, und so hält man es gar nicht für nötig, sich mir gegenüber einen moralischen Zwang anzutun. Ich sehe Menschen, die sich als geniale, geistreiche Naturen äußerlich gerieren, plump und täppisch vorgehen und kann ihr Handeln und die damit verknüpften Ereignisse mathematisch genau voraussagen – o, dieser Ekel!« Er stieß leicht mit dem Fuße auf den Boden und schüttelte sich, als gelte es, ein verabscheutes Reptil von sich zu werfen.

Noch war er weit entfernt von der Herrschaft über sein empörtes Blut; noch stürmte die Bewegung heftig in ihm, und das frivole Wesen, das mit frevelnder Hand diese harmonische Natur aus den Fugen gerissen, dort sah es von der Wand hernieder, im weißen Iphigenia-Gewande an eine Säule gelehnt, mit gefalteten, lässig herabgesunkenen Händen und einem lieblich gedankenvollen Aufblicke; fast fromm sah das dämonische Mädchen aus. Damals hatte sie noch um seine Liebe, seinen Beifall geworben; damals war sie noch entschlossen gewesen, sein Ideal zu verwirklichen und dem künftigen »berühmten Universitätsprofessor« die waltende gute Fee seines Daheims zu werden. Sie wäre es doch nie geworden; gerade das wäre der Boden gewesen für ihre Sucht, als schaffender Geist zu brillieren. Er hätte einen besuchten Salon, aber kein Daheim, eine in unbefriedigtem Ehrgeize sich verzehrende Weltdame, aber kein wahrhaft liebendes Weib, keine »mitringende, mitfühlende Gehilfin« gehabt. Dagegen war er ja auch nicht mehr blind – und doch gab er sie nicht frei. Oder war nun doch das Band gelöst, nachdem Flora ihm so unumwunden den Ausdruck ihres Hasses in das Gesicht geschleudert hatte? Käthe wusste ja nicht, was sich nach ihrem Hinausgehen ereignet, soviel aber sagte sie sich, dass ihr längeres Verweilen hier in seinem Zimmer nicht statthaft sei, mochte der Würfel gefallen sein, wie er wollte.

Der Doktor hatte den finsteren Blick aufgefangen, den sie aus das Bild geworfen, und sah nun, dass sie sich zum Gehen anschickte.

»Ja, gehen Sie«, sagte er. »Henriettens Kammerjungfer ist gekommen und hat bereits ihr Pflegeramt angetreten. Der Zustand der Kranken ist derart, dass Sie getrost in die Villa zurückkehren können, um der Frau Präsidentin, wie sie es lebhaft zu wünschen scheint, beim Tee Gesellschaft zu leisten; sie fühle sich so sehr vereinsamt, ließ sie herüber sagen. Ich gebe Ihnen mein Wort, Sie können unbesorgt gehen; ich wache treulich über Ihre teure Kranke«, wiederholte er nachdrücklich, als sie lebhaft zu protestieren versuchte. »Aber geben Sie mir noch einmal die Hand!« Er hielt ihr die seine hin, und sie legte rasch und willig ihre schlanken Finger hinein. »Und nun, was man Ihnen auch heute noch sagen mag, lassen Sie sich nicht verleiten, mich zu verurteilen! Schon in den nächsten Tagen wird sie«, er nannte den Namen nicht und neigte nur, ohne hinüberzublicken, bitterlächelnd den Kopf nach Floras Bild, »ganz anders denken, und das ist’s, was mich konsequent bleiben heißt; ich darf nicht den Vorwurf auf mich nehmen, als hätte ich einen günstigen Moment – auszunutzen verstanden.«

Sie sah befremdet zu ihm auf, und er neigte bedeutsam und so sonderbar resigniert den Kopf, als wollte er sagen: »Ja, so steht es«, aber über beider Lippen kam kein Wort.

»Gute Nacht, gute Nacht!« sagte er gleich darauf – er ließ mit leisem Drucke ihre Hand fallen und trat an den Schreibtisch, während sie rasch der Tür zuschritt. Unwillkürlich wandte sie sich noch einmal auf der Schwelle um – er führte eben seltsamer Weise das leere Kelchglas an seine Lippen; in demselben Augenblicke aber auch glitt es aus seiner Hand und zersprang auf dem Boden in Scherben und Splitter. – – –

Drüben im Krankenzimmer stand Flora zum Fortgehen gerüstet, sie sah aus, als bebe jede Fiber an ihr vor nervöser Ungeduld. »Wo steckst Du denn, Käthe?« schalt sie. »Die Großmama wartet; Du bist schuld daran, dass man uns den Tee mit Impertinenzen würzen wird.«

Käthe antwortete nicht. Sie warf den Baschlik über, den ihr die Jungfer mitgebracht, und trat an das Bett. Henriette schlief sanft; die dunkle Fieberröte auf ihren Wangen hatte bedeutend nachgelassen. Wiederholt hauchte das junge Mädchen einen Kuss auf das bleiche, schmale Händchen, das ruhig auf der Decke lag, dann folgte sie der hinausrauschenden Schwester.

Im Flure brannte eine kleine Lampe, und ein Lakai aus der Villa, der mit der Kammerjungfer gekommen war und noch Verschiedenes herübergetragen hatte, ging wartend auf und ab. Fast zugleich mit den Schwestern trat der Doktor in den Flur, und jetzt fühlte Käthe abermals die Glut tiefer Beschämung in ihre Wangen steigen; er reichte dem Bedienten das Billett, den vermeintlichen Todesgruß an die treulose Braut, zur Bestellung an einen in der Stadt wohnenden jungen Arzt.

 

Flora schritt an ihm vorüber, scheinbar, als wolle sie seine Instruktion für den Lakaien nicht unterbrechen, und verschwand rasch draußen im Dunkel. Käthe aber ging noch einmal in die Küche und verabschiedete sich von der Tante. Die alte Frau schüttelte mit ernstem Gesichtsausdrucke den Kopf, als sie sich überzeugen musste, dass »die Braut« das Haus bereits verlassen habe, ohne sie auch nur eines flüchtigen Gutenachtgrußes zu würdigen, aber sie schwieg und ging dem Doktor nach in die Krankenstube, um noch einmal nach der Leidenden zu sehen, ehe sie sich in ihr Zimmer zurückzog.

Draußen vor dem Hause blieb Flora stehen, nachdem die Schritte des vorausgeschickten Bedienten auf der Brücke verhallt waren. Der durch die offene Haustür fallende Schimmer der Flurlampe streifte schwach ihr Gesicht – es sah so ergrimmt, so leidenschaftlich beredt aus, als schwebe eine Verwünschung auf den halb geöffneten Lippen. Mit unaussprechlichem Hohne glitt ihr Blick über den roten Ziegelfußboden und die weißen, kahlen Wände drinnen, dann fuhr er die äußere Frontseite entlang, als wolle er das Gesamtbild der kleinen Besitzung noch einmal umfassen.

»Ja, ja, das wäre so etwas nach meinem Geschmacke gewesen – eine Hütte und ein Herz!« sagte sie mit einem steifen, drastisch ironischen Kopfnicken. »Einen Mann ohne Amt und Einfluss, über dem Kopfe eine spukhafte Spelunke, mitten im öden Felde, und ein isoliertes Zusammenleben zu Dreien, für welches die schmale Revenue meines väterlichen Erbteils ausreichen müsste! Nie in meinem ganzen Leben habe ich empfunden, was es heißt, gedemütigt werden – heute zum ersten Male kam mir in der bedrückend armseligen Umgebung das Gefühl, als sei ich herabgezerrt worden von dem Piedestal, auf das mich makellos gute Herkunft, vornehme Gestaltung der äußeren Verhältnisse und die eigene geistige Begabung gestellt haben. Gott mag geben, dass sich Henriettens Krankheit nicht zum Schlimmsten wendet! Ich könnte ihr kein letztes Lebewohl sagen; denn mich sieht dieses Haus nicht wieder. Wahrhaftig, schmachvoller ist nie ein Mädchen betrogen worden, als ich. – Ich möchte mich selbst ins Gesicht schlagen, dass ich so blind, so bodenlos unbefangen in diese Verhältnisse hineingetappt bin.«

Sie stürmte wie wahnwitzig der Brücke zu. Das Mondlicht, das sich wie ein dünner Silberschleier über das glitzernde Flussbett hinbreitete, floss schwach an ihr nieder, und der Wind, schon halb und halb zum Sturme gesteigert, fiel sie heftig an; er zauste an ihren Kleidern und blies ihr den atlasglänzenden Umhang vom Kopfe, und die gelösten Locken hoben sich wehend und schlangenhaft züngelnd über der weißen Stirn.

»Er gibt mich nicht frei, trotz meines Flehens und meiner Gegenwehr«, sagte sie, mitten auf der Brücke stehen bleibend, zu der Schwester, die ihr folgte und nun ohne Weiteres an ihr vorüber schreiten wollte. »Du bist dabei gewesen – Du hast gehört, was für entscheidende Worte gefallen sind. Er handelt ehrlos, erbärmlich, wie eine kalte Krämerseele, die den Untergang eines Betrogenen vollkommen ermisst, und doch auf der Erfüllung des unheilbringenden Kontraktes besteht. Mag er – mag er sich zeitlebens mit dem Gedanken sättigen, dass ihm ein Schatten von Recht verblieben ist – ich bin von diesem Moment an frei.«

Sie hatte bei den letzten Worten den Verlobungsring vom Finger gestreift und schleuderte ihn weit hinüber in die rauschenden Fluten.

»Flora, was hast Du getan!« schrie Käthe auf und bog sich mit ausgestreckten Händen über das Brückengeländer, als könne sie den Ring noch erfangen. Er war versunken. Ob ihn die Wellen mit fortspülten, oder ob er liegen blieb auf dem Grunde, nahe dem Hause, in welchem das Unheil einzog, sobald warme, liebende Menschenherzen darin schlugen? Das junge Mädchen meinte, das blonde, tote Weib müsse aus dem glitzernden Wasserschwalle auftauchen und drohend das verächtlich fortgeschleuderte Symbol der Treue emporhalten. Schaudernd legte sie die Hand über die Augen.

»Närrchen, alteriere Dich doch nicht, als sei ich selbst hineingesprungen mit Haut und Haar!« sagte Flora mit kaltem Lächeln. »Manche andere mit weniger Willens- und Widerstandskraft hätte es vielleicht getan – ich werfe einfach den letzten Ring einer verhassten Kette von mir.« Sie hob die Linke und strich wie liebkosend über den befreiten Ringfinger. »Es war nur ein schmaler, dünner Goldreif, ›einfach‹, wie es der da drin« – sie nickte mit dem Kopfe nach dem Hause hin – »in seiner erkünstelten Spartanermanier zu lieben vorgibt, und doch drückte er grob wie Eisen. Nun mag er rosten da unten – ich fange ein neues Leben an.«

Ja, sie hatte die Last »abgeschüttelt, abgeschüttelt um jeden Preis«, wie sie schon immer gesagt. Das Schreckbild einer verhassten Ehe versank, und dafür ging »die Sonne des Ruhmes« auf.

Flora flog davon, als brenne die Brücke unter ihren Sohlen. Käthe folgte ihr schweigend. In der Seele der jungen Schwester stürmte es erschütternd, sinnverwirrend; das klare, gesunde Urteil, mit welchem sie an die Menschen und Dinge heranzutreten pflegte, war verdunkelt; sie stand völlig steuerlos zwischen Recht und Unrecht, zwischen Wahrheit und Lüge. Gebärdete sich nicht das schöne Wesen da neben ihr, dieses personifizierte Gemisch von eklatantem Unrecht, von Übermut und grausamer Willkür, so zuversichtlich und taktfest, als könne und dürfe es gar nicht anders handeln? Zertrat Flora nicht ihr gegebenes Wort, ihre Pflichten mit gutem Fug und Recht, gerade so, wie sie jetzt mit ihren raschen Füßen über die Kiesel der Allee hinschritt? – –

Im Korridor der Villa meldete der Bediente den beiden Schwestern, dass die Frau Präsidentin Besuch habe; es seien zwei alte Damen zum Tee gekommen.

»Desto besser!« sagte Flora zu Käthe. »Ich bin wahrhaftig nicht in der Stimmung, heute noch die Scheherazade der Großmama zu spielen. Die alte Generalin hat immer die Taschen voll Klatsch und Stadtneuigkeiten; da ist man entbehrlich.«

Sie ging, wie sie sagte, für eine halbe Stunde hinein, um den Tee zu besorgen und sich dann mit ihrem »übervollen Herzen« zurückzuziehen. Käthe aber ließ sich mit Unwohlsein entschuldigen – war es doch auch, als woge ihr das fiebererregte Blut einer beginnenden Krankheit in Kopf und Herzen.