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Im Hause des Commerzienrates

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Im Hause des Commerzienrates
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1

Die Decembersonne huschte noch einmal scheu durch die große Schloßmühlenstube, dann nahm sie das letzte laue Strahlenfünkchen von den seltsamen Gegenständen, die auf dem tiefen Steinsimse des Eckfensters ausgebreitet lagen, und verschwand in dem Schneewolkenbette, das sich träge, aber beharrlich am Himmel emporschob. Die seltsam gleißenden Gegenstände auf dem Fenstersimse waren das Rüstzeug des Arztes, jene Sammlung von Instrumenten, die schon mit ihrem schneidig kalten Funkeln das Auge erschrecken und einen Schauer durch das Nervenleben des Menschen jagen. Ein mächtiges Bettgestell, an Kopf- und Fußende mit plumpen, bäurisch grellen Rosen- und Nelkensträußen bemalt und ausgefüllt mit Federbetten in bunten Ueberzügen, stand schräg in das Fensterlicht gerückt, und auf diesem Bette lag der Schloßmüller. Eben hatte ihn die rasche Hand des Arztes von einem Halsübel befreit, das ihn schon einige Male mit dem Erstickungstode bedroht – es war ein schwieriges, sehr gefährliches Unternehmen gewesen, aber der junge Mann, der jetzt sacht das Rouleau niederließ und geräuschlos die Instrumente in das Etui packte, sah befriedigt aus – die Operation war gelungen.

Der Kranke, der noch kurz zuvor unter der anfänglichen Wirkung des Chloroforms gegen die Hand des Arztes getobt und ihn mit kreischender Stimme Räuber und Mörder gescholten hatte, lag jetzt still und erschöpft in den Kissen. Das Sprechen war ihm untersagt, ein offenbar überflüssiges Verbot, denn wohl selten trug ein Gesicht so unverkennbar das Gepräge der verdrossenen Wortkargheit, als dieser dicke, viereckige Kopf, der nur eine Schönheit aufzuweisen hatte, das ungelichtete, silberweiße Haar.

„Du bist zufrieden, Bruck?“ fragte leise ein Herr, zu dem Arzte in die Fensternische tretend. Er hatte bis dahin am Fußende des Bettes gestanden und trug noch die Spuren der Aufregung und Spannung in seinen schönen Zügen.

Der Arzt nickte. „Alles gut bis jetzt – die robuste Natur des Kranken wird mich unterstützen,“ sagte er ruhig mit einem zuversichtlichen Blicke auf den alten Mann. „Und nun verlasse ich mich auf die Pflege – ich muß fort. Der Patient hat vorläufig unter allen Umständen in der gegebenen Lage zu verbleiben. Es darf durchaus keine starke Blutung eintreten –“

„Dafür lasse mich sorgen!“ unterbrach ihn der Andere lebhaft. „Ich bleibe, so lange eine so penible Aufsicht nöthig ist. … Willst Du drüben in der Villa sagen, daß ich nicht zum Thee komme?“

Ein leichtes Roth stieg in die Wange des Arztes, und etwas wie Niedergeschlagenheit lag in seinem Tone, als er sagte: „Ich muß den Umweg durch den Park vermeiden und so rasch wie möglich die Stadt zu erreichen suchen –“

„Du hast Flora heute noch nicht gesehen, Doctor –“

„Glaubst Du, das wird mir so leicht? Ich –“ er unterbrach sich und preßte die Lippen aufeinander, während er nach dem Etui griff, um es in die Tasche zu stecken. „Ich habe mehrere Schwerkranke,“ sagte er gleich darauf sehr ruhig; „das kleine Mädchen des Kaufmanns Lenz wird heute Nacht noch sterben. Dem Kinde kann ich nicht helfen, aber die Eltern, die vollkommen erschöpft sind durch Angst und aufopfernde Pflege, zählen die Augenblicke, bis ich komme – die Mutter ißt nur auf mein Zureden.“

Er trat an das Bett. Der Kranke hob die Lider und sah ihn vollkommen bewußt an; ja, in den stark hervorquellenden, von gerötheten Rändern umgebenen Augen lag ein Schimmer von Dankbarkeit für die so plötzlich fühlbar gewordene unaussprechliche Erleichterung. Er wollte seinem Befreier die Hand reichen, aber dieser hielt sie auf der Bettdecke fest, indem er das Verbot bezüglich jeder hastigeren Bewegung erneute. „Der Commerzienrath will hier bleiben, Herr Sommer; er wird dafür einstehen, daß meine Anordnungen streng befolgt werden,“ setzte er hinzu.

Dem alten Manne schien das recht zu sein; den Blick auf den Commerzienrath gerichtet, der die Versicherung mit einem freundlich lebhaften Kopfnicken bestätigte, schloß er die Augen wieder, als wolle er zu schlafen versuchen. Doctor Bruck aber nahm seinen Hut, reichte dem Commerzienrath die Hand und verließ das Zimmer.

Hätte eine angstvoll besorgte Frau am Krankenbette gesessen, ihr wäre jedenfalls bei diesem Hinausgehen das Gefühl des Verlassenseins, der Verzagtheit gekommen, wie jene arme Mutter in der Stadt mit dem Erscheinen des Arztes soviel Muth schöpfte, um aus seiner Hand die wenigen zur Selbsterhaltung nöthigen Bissen zu nehmen. Am Lager des Schloßmüllers waltete aber nicht solche zitternde Angst und unsägliche Liebe. Die alte Haushälterin, die beschäftigt war, das zur Operation gebrauchte Geräth zu entfernen, sah ziemlich gleichgültig darein; sie huschte wie eine Fledermaus an den Wänden hin, und die von der ärztlichen Hand verspritzten Wassertropfen auf der Tischplatte schienen sie mehr zu alteriren, als die Lebensgefahr, welche ihr Herr eben überstanden.

„Bitte, lassen Sie jetzt das gut sein, Jungfer Suse!“ sagte der Commerzienrath in sehr höflichem Tone. „Das Reiben auf dem wackeligen Tische macht ein nervenangreifendes Geräusch. Doctor Bruck wünscht in erster Linie Ruhe für den Papa.“

Jungfer Suse packte schleunigst Wischtuch und Kehrbesen zusammen und ging hinaus, um sich in ihrer blitzblanken Küche über die nassen Reste auf dem Eßtische zu beruhigen. Es war nun still geworden, so geräuschlos, wie es eben in der Schloßmühlenstube sein konnte. Durch den Fußboden lief unausgesetzt jenes leise, tactmäßige Schüttern, das von der Räderarbeit im Mühlenraume ausgeht; über das Wehr drüben stürzten die zerstäubenden Wasser in ewiger Wiederholung ihrer beschränkten Rauschmelodie, und dazwischen rucksten die Tauben und kamen plump gegen die Fensterscheiben geflattert aus den uralten, riesenhaft ausgebreiteten Kastanienwipfeln, in denen sie nisteten, und die von der Abendseite her einen Dämmerschein in die Schloßmühlenstube warfen. Jenes Lärmgemisch aber existirte nicht für den Kranken – es gehörte so unbewußt zu seinem Leben und Behagen, wie die Luft, wie der regelmäßige Tactschlag seines Herzens. –

Was war doch das für ein abstoßendes Greisengesicht, das der elegante Mann am Bette versprochenermaßen mit den Augen hütete! Nie war ihm das Ordinäre des Ausdrucks, nie der Zug von Härte und gemeiner Grobheit, der sich in tiefer Krümmung um die dicke, hängende Unterlippe zog, so widerwärtig aufgefallen wie in diesem Augenblicke, wo der Schlaf oder die Erschöpfung den Willen aufhob und den äußern Charakterstempel in die ursprünglichen Linien rückte. … Nun ja, der Alte hatte auch tief unten angefangen; er war bei Beginn seiner Laufbahn Müllerknecht gewesen; aber jetzt war er ein Mann, dem der Getreidehandel Unsummen in den Schooß geworfen – er war ein Träger der Geldmacht, der da auf dem bäuerisch altväterischen Bettgestelle lag, und vielleicht auch ein wenig in Rücksicht auf diese imponirende Thatsache nannte ihn der Commerzienrath respectvoll und zuvorkommend „Papa“; denn in Wirklichkeit knüpfte sie nicht ein Tropfen gemeinsamen Blutes an einander. Der verstorbene Banquier Mangold, mit dessen ältester Tochter erster Ehe der Commerzienrath vermählt gewesen, hatte als zweite Frau die Schloßmüllerstochter heimgeführt – das war das verwandtschaftliche Verhältniß zwischen dem Kranken und seinem Pfleger.

Der Commerzienrath erhob sich und trat leise vom Bette weg an eines der Fenster. Er war ein jugendlich rascher Mann, den das Stillsitzen und ängstliche Beobachten nervös machten; es widerstrebte ihm, fortgesetzt das unsympathische Antlitz und die geballten, knotigen, tief in die Bettdecke gewühlten Fäuste anzusehen, die einst die Peitsche über den Müllerpferden geschwungen hatten. Die letzte Kastanie vor dem Fenster, an welchem er stand, hatte längst die Blätter abgeworfen; jede Rundung, jedes Viereck, welches die kahlen, in einander geschlungenen Aeste formten, wurde zum Rahmen kleiner Landschaftsbilder, eines lieblicher als das andere, wenn auch im Augenblicke der düstere Decemberhimmel das Silberlicht der Teichspiegel dämpfte und mit seiner nassen Wolkenschleppe die duftige Veilchenbläue1 der fernen Berggipfel häßlich verwusch.

Dort rechts, nachdem er die Räder der Schloßmühle gedreht, machte der Fluß eine starke Krümmung; ein kleines Medaillon der Aeste seitwärts umschloß ein Stückchen seines funkelnden Streifens und zugleich ein Menschenwerk, dem er abermals dienen mußte – ein mächtiger Bau in Würfelform, ein ungeschmückter Steinkoloß, über den die Fensterreihen wie einförmige Perlenschnüre hinliefen, stand es in häßlicher Nüchternheit am Ufer. Das war die Spinnerei des Commerzienrathes. Auch er war ein reicher Mann; er beschäftigte Hunderte von Arbeitern dort zwischen den kreisenden Spindeln, aber dieses sein Eigenthum brachte ihn in eine gewissermaßen abhängige Beziehung zu dem Schloßmüller. Die Mühle, vor Jahrhunderten vom Landesherrn erbaut, war mit unglaublichen Privilegien ausgestattet worden, die, noch heute in Kraft, eine bedeutende Strecke des Flusses beherrschten und den Anwohnern das Leben sauer genug machten. Und auf diesen verbrieften Rechten stand der Schloßmüller mit seinen breiten Füßen und wies Jedem die Zähne, der auch nur mit einer Fingerspitze daran zu rühren wagte. Anfangs nur Pächter, hatte er allmählich und unmerklich die Fangarme seines wachsenden Reichthums ausgestreckt, bis er nicht allein Besitzer der Mühle, sondern auch des Rittergutes selbst geworden war, zu welchem sie gehörte. Und das hatte er durchgesetzt kurz vor der Verheirathung seines einzigen Kindes mit dem angesehenen Banquier Mangold. Für ihn selbst hatten nur der ausgedehnte Waldbesitz und die Ländereien Werth gehabt; die dazu gehörige prächtige Villa inmitten eines stattlichen Parkes war ihm zu allen Zeiten ein Gräuel gewesen; nichtsdestoweniger hatte er bereitwillig „die kostbare Spielerei“ im Stande erhalten, weil er ja seine Tochter als Herrin da schalten und walten sehen durfte, wo die ehemaligen hochmüthigen Besitzer consequent vergessen hatten, seinen Gruß zu erwidern. Jetzt war der Commerzienrath Miether der Villa; es lagen somit die ausgiebigsten Gründe vor, in gutem Einvernehmen mit dem Flußbeherrscher und Hauswirthe zu verbleiben, und das geschah – der Commerzienrath stand wie ein fügsamer Sohn zu dem mürrischen Alten.

 

Von der Thurmuhr des Fabrikgebäudes schollen vier Schläge herüber, und hinter den hohen Scheiben des Comptoirs schlugen zugleich die Gasflammen auf; es wurde heute sehr früh dämmerig; jener feuchte Dampf, der Schnee bringt, füllte allmählich die Luft und machte den Essenrauch von der Stadt her träge über die Erde hinkriechen, während das Schieferdach der Spinnerei, jede Thürstufe und jeder Kieselstein den schlüpfrigen Glanz intensiver Nässe annahmen. Die Tauben, die noch geduldig, dick und faul neben einander auf den Kastanien hockten, verließen plötzlich die triefenden Aeste und flogen nach dem warmen, trockenen Schlage. Fröstelnd sah der Commerzienrath in die Stube zurück. Fast kam sie ihm behaglich und anheimelnd vor, die den verwöhnten Mann sonst stets anwiderte mit ihrer von Speiseresten erfüllten Luft, mit ihren verräucherten Tapeten und den berüchtigten Neuruppiner Bilderbogen an den Wänden, aber eben legte Jungfer Suse draußen frisches Scheitholz in das Ofenfeuer; das altväterische Sopha mit den dicken, weichen Federkissen stand so warm und bequem an der Wand, und auf den blankgeputzten Scheiben der Alkoventhür blinkte das letzte Restchen des falben Tageslichtes – ah, hinter dieser Alkoventhür stand der eiserne Geldspind – hatte er vorhin auch den Schlüssel abgezogen?

Kurz vor der Operation hatte der Schloßmüller sein Testament gemacht; die Gerichtspersonen und Zeugen waren dem Doctor Bruck und dem Commerzienrath noch auf der Treppe begegnet. Wenn er auch äußerlich bei guter Fassung war, mußte es doch im Innern des Patienten heftig gestürmt haben; jedenfalls war seine Hand beim Wegräumen der benöthigten Documente unstät und hastig gewesen, denn ein Papier war auf dem Tische liegen geblieben. Er hatte übrigens im letzten Augenblicke vor der Entscheidung das Versehen noch bemerkt und den Commerzienrath gebeten, das Schriftstück schleunigst im Schranke zu verschließen. Aus dem Alkoven führte noch eine zweite Thür nach dem Vorsaal, und es verkehrten viele fremde Leute in der Mühle; erschreckt trat der Commerzienrath in das schmale Stübchen; er war unverzeihlich leichtsinnig gewesen – die Schrankthür stand offen; wenn das der Alte gesehen hätte, der seinen Geldschrank wie ein Drache hütete! Es konnte wohl Niemand das Zimmer betreten haben, sagte sich der Commerzienrath zu seiner Beruhigung; selbst das leiseste Geräusch wäre ihm ja nicht entgangen, aber überzeugen mußte er sich dennoch, ob noch Alles in Ordnung.

Er schlug den eisernen Thürflügel möglichst lautlos zurück – sie standen sichtlich unberührt, die Geldsäcke, das silberschwere Piedestal des ehemaligen Müllerknechtes, und neben den Stößen von Werthpapieren thürmten sich in blinkenden Säulchen die Goldstücke aufeinander. Sein bewundernder Blick flog hastig über das Schriftstück, das er vorhin in Folge leichtbegreiflicher Spannung und Erregtheit allzuflüchtig in eines der musterhaft geordneten Fächer geworfen hatte – es war das Verzeichniß des Gesammt-Besitzthums. Welche imponirende Summen reihten sich da an einander! Sorgsam schob er das Papier auf die anderen Documente; dabei aber geschah es, daß er eines der Goldröllchen umstieß – klirrend rollte eine Anzahl Napoleonsd’or auf die Dielen nieder. Wie abscheulich das klang! Es war fremdes Geld, das er berührt hatte! Schrecken und eine an sich ungerechtfertigte Scham trieben ihm das Blut in das Gesicht; unverzüglich bückte er sich, um das Geld aufzulesen. In diesem Moment warf sich ein schwerer, massiger Körper von rückwärts über ihn her, und harte, grobe Finger würgten ihn am Halse.

„Hallunke, Spitzbube! Ich bin noch nicht todt,“ zischte der Schloßmüller mit seltsam erloschener Stimme. Ein momentanes Ringen erfolgte; der schlanke junge Mann mußte alle seine Kraft und Elasticität aufbieten, um den Alten abzuschütteln, der wie ein Panther auf ihm hockte, ihm die Kehle so furchtbar zusammenschnürend, daß ein feuriger Funkenregen vor seinen Augen aufstiebte – ein angstvoller Griff seiner eigenen beiden Hände, dann ein gewaltsamer Ruck und Stoß, und er stand befreit auf seinen Füßen, während der Schloßmüller an die Wand taumelte.

„Sind Sie toll, Papa?“ keuchte er empört und athemlos. „Welche bodenlose Gemeinheit“ – er verstummte entsetzt; der Verband unter dem erbleichenden Gesicht des Kranken erschien plötzlich scharlachroth, und diese entsetzliche Farbe kroch sickernd, mit unglaublicher Schnelligkeit auch als breites Band über die weiße Bettjacke – da war die Blutung, die um jeden Preis verhindert werden sollte.

Der Commerzienrath fühlte seine Zähne wie im Fieber zusammenschlagen. War er schuld an diesem Unglück? „Nein, nein,“ sagte er sich erleichtert und umschlang den Kranken, um ihn für’s Erste nach dem Bett zu schaffen, aber der Alte stieß erbittert nach ihm und zeigte schweigend auf die verstreuten Goldstücke; sie mußten Stück um Stück aufgelesen und an Ort und Stelle zurückgelegt werden; die furchtbare Gefahr, in der er schwebte, ahnte er entweder nicht oder er vergaß sie über der Angst um sein Gold. Erst, nachdem der Commerzienrath vor seinen Augen den Schrank verschlossen und den Schlüssel in seine Hand gedrückt hatte, wankte er in die Stube zurück und sank taumelnd auf sein Lager, und als endlich zwei Müllerburschen und Jungfer Suse auf das wiederholte Hülferufen des Commerzienrathes herbeistürzten, da lag der Schloßmüller bereits lang hingestreckt und stierte mit gläsernen Augen wie entgeistert auf seine Brust, die der unaufhaltsam entfließende Lebensstrom immer breiter mit Purpur bedeckte.

Die Burschen eilten nach der Stadt, um Doctor Bruck zu suchen, während die Haushälterin Wasser und Leinen herbeischleppte – vergebliche Mühe! Es half nichts, daß der Commerzienrath angstvoll Tuch um Tuch auf die Wunde preßte, um den Quell zu verstopfen; der ließ sich nicht wieder zurückleiten. Es blieb kein Zweifel: die Schlagader war zerrissen. Wie war das gekommen? Trug die wahnsinnige innere und äußere Aufregung des alten Mannes allein die Schuld, oder – der Herzschlag stockte ihm – hatte er bei seiner verzweifelten Abwehr die Schnittwunde am Halse des Wüthenden gepackt und tödtlich erweitert? Für einen solchen Moment gab es kein Erinnern; wie kann Einer wissen, ob er die Schulter oder den Hals eines heimtückischen Angreifers faßt, wenn ihm der Erstickungstod droht und das gewaltsam nach dem Gehirne gedrängte Blut Feuerräder vor seinen Augen kreisen läßt! Aber wozu auch eine so gräßliche Möglichkeit aufstellen? Hatten nicht der Sprung aus dem Bette, die innere kochende Wuth vollkommen genügt, das Unglück herbeizuführen, das ja der Arzt selbst schon von einer einzigen allzu heftigen Bewegung abhängig gemacht? Nein, nein, sein Gewissen war rein und unbelastet; er konnte sich nicht den geringsten Vorwurf machen, auch was die Grundursache dieses grauenhaften Vorfalles betraf. Er war an den Schrank getreten, einzig und allein aus Besorgniß für das Eigenthum des alten Mannes; nicht einmal der Wunsch, diese Schätze zu besitzen, war ihm in jenem flüchtigen Momente gekommen – das wußte er genau. Was konnte er für die gemeinen Gesinnungen des erbärmlichen Kornwucherers, der bei Jedem, auch dem anerkannt respectabelsten Manne, räuberische Gelüste voraussetzte? An die Stelle der Angst und des Entsetzens trat jetzt der Ingrimm. Das hatte er von seiner Liebenswürdigkeit, von jener Höflichkeit des Herzens, die seine Bekannten an ihm rühmten; sie hatte ihn wie schon so oft, hingerissen, Verpflichtungen auf sich zu nehmen, die ihn in Unannehmlichkeiten verwickelten. Wäre er doch zu Hause geblieben, zu Hause in seinem köstlich behaglichen Salon, am Whisttisch in unverkümmerter Gemüthsruhe seine Cigarre rauchend! Sein böser Dämon mußte ihm zugeflüstert haben, die Rolle des aufopfernden Pflegers zu spielen; nun stand er inmitten der haarsträubendsten Situation, und seine vor Ekel und Grauen immer wieder zurückschreckenden Hände netzten sich mit dem Blute des Elenden, der ihn eben um ein Haar erwürgt hätte.

Wie bleiern träge Minute um Minute hinschlich! Jetzt war sich der Schloßmüller augenscheinlich bewußt, in welche Gefahr er sich gebracht hatte; er rührte sich nicht, und nur seine Augen richteten sich in angstvoller Spannung auf die Thür, wenn draußen auf dem Vorsaale Schritte erklangen; er hoffte auf Rettung durch den Arzt, während der Commerzienrath schaudernd die Veränderung in seinem Gesichte verfolgte. So aschfarben malt nur die Hand des Todes.

Jungfer Suse hatte die Lampe hereingebracht; sie war wiederholt vor das Thor gelaufen, um nach Doctor Bruck auszuschauen, und nun stand sie zu Häupten des Bettes und schüttelte sich stumm vor Entsetzen bei dem Anblicke, den das weiße Lampenlicht schreckhaft hervortreten ließ. Wenige Minuten darauf sanken die Augen des Schloßmüllers zu, und der Schlüssel, den er bis dahin krampfhaft festgehalten, fiel auf die Bettdecke; eine Ohnmacht trat ein. Unwillkürlich griff der Commerzienrath nach dem Schlüssel, um ihn wegzulegen, aber in den Moment, wo er das verhängnißvolle Stückchen Eisen mit den Fingern berührte, kam ihm ein Gedanke, der ihn traf, wie ein unvermutheter Schlag: welche Physiognomie erhielt wohl der unglückselige Vorfall in den Augen der Welt? Er kannte es nur zu gut, das zischelnde, flüsternde Weib, die Lästersucht; sie schlich ja auch durch seine Salons, und das starke Geschlecht am Spieltische amüsirte sich genau mit demselben Behagen bei ihren versteckten, boshaften Fingerzeigen, ihrem zweideutigen Lächeln, wie die theetrinkenden Damen. Und wenn nur ein Einziger achselzuckend mit bedenklichem Augenzwinkern sagte: „Ei, was hatte denn auch der Commerzienrath Römer im Geldschranke des Schloßmüllers zu suchen?“ so genügte das, um sein Blut sieden zu machen. Es blieb aber nicht bei diesem Einzigen; er hatte Feinde und Widersacher genug, wie Alle, die das Glück bevorzugt; er wußte, daß man sich morgen in der Stadt erzählen werde, die Operation sei gelungen gewesen, aber die Aufregung darüber, daß der Pfleger heimlich über seinen Geldschrank gegangen, habe eine Verblutung des Patienten herbeigeführt. Und da war ein schmutziges Mal auf dem Namen des beneideten Römer, das selbst keine gerichtliche Untersuchung wegwaschen konnte; wo waren denn die entlastenden Zeugen? Etwa seine bisher anerkannte Ehrenhaftigkeit? Er lachte bitter in sich hinein, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Niemand wußte besser als er, daß sich die Mitwelt in nichts rascher findet, als eine anerkannte Ehrenhaftigkeit für Schein zu halten, sobald der Schein gegen sie auftritt. Er bückte sich über den Ohnmächtigen, dem Jungfer Susanne die Schläfe mit Essenzen wusch, und beobachtete ihn plötzlich mit verändertem Blicke; wenn dieser Mann da nicht selbst so viel Kraft wieder erlangte, um den Vorgang zu erzählen, dann wurde das Ereigniß mit ihm begraben – über die Lippen des Anderen kam kein Wort.

Endlich schlugen draußen die Hofhunde an, und rasche Schritte kamen über das Steinpflaster und die Treppe herauf. Doctor Bruck blieb einen Moment wie versteinert in der Stubenthüre stehen, dann legte er schweigend seinen Hut auf den Tisch und trat an das Bett. Welche athemlose Stille bei einem solchen Erscheinen! Sie breitet gleichsam die Schwingen aus, um feierlich den Ausspruch über Leben und Tod zu empfangen.

„Wenn er doch nur erst wieder zu sich käme, Herr Doctor!“ flüsterte endlich die Haushälterin beklommen.

„Das wird er schwerlich,“ versetzte Doctor Bruck von seiner Untersuchung aufblickend – jede Spur von Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. „Mäßigen Sie sich!“ gebot er ernst, als Jungfer Suse in ein Klagelied ausbrechen wollte.„Sagen Sie mir lieber, weshalb der Kranke das Bett verlassen hat!“ Er hatte die Lampe vom Tisch genommen und beleuchtete den Fußboden – die Dielen vor dem Bette waren mit Blut bespritzt.

„Das rührt von den vollgesogenen Tüchern her,“ erklärte der Commerzienrath mit blassem Gesicht, aber großer Bestimmtheit, während die Haushälterin heilig und theuer versicherte, daß der Schloßmüller bei ihrem Wiedereintreten noch genau so im Bett gelegen, wie es der Herr Doctor angeordnet habe.

Doctor Bruck schüttelte den Kopf. „Die Blutung ist nicht ohne alle äußere Veranlassung eingetreten; es muß eine heftige Erschütterung eingewirkt haben –“

 

„Daß ich nicht wüßte – ich versichere Dir, nein!“ sagte der Commerzienrath, ziemlich fest dem ausdrucksvollen Blick des Arztes begegnend. „Uebrigens, was soll dieser Inquisitorenblick? Ich sehe nicht ein, weshalb ich es Dir verheimlichen sollte, wenn der Kranke wirklich in einem Fieberanfall aus dem Bette gesprungen wäre.“ Er bliebe unbeirrt auf dem Wege, den er eingeschlagen. Fast wollte es ihm die Kehle zusammenschnüren bei seinen letzten Worten. Um den äußeren Ehrenschein zu retten, gab er die wahre innere Ehre hin – er leugnete mit eherner Stirne, aber er war ja auch in Wirklichkeit ohne alle Schuld; er war der an Leben und Gesundheit Schwerbedrohte gewesen. Nicht ein einziges Motiv lag nahe, welches das Bekennen des wahren Sachverhaltes zur Gewissenspflicht gemacht hätte.

Der Arzt wandte sich schweigend von ihm ab. Unter seinen Bemühungen schlug zwar der Schloßmüller die Augen wieder auf, aber er stierte mit wirrem, erloschenem Blick in’s Leere, und der Versuch, zu sprechen, erstarb in einem schwachen Gurgeln und Lallen.

Mehrere Stunden später verließ der Commerzienrath Römer die Schloßmühle – es war Alles vorüber. Ueber die Thüren des Sterbezimmers und des Alkovens spannten sich bereits breite Papierstreifen. Der Commerzienrath hatte sofort nach dem letzten Athemzuge des Schloßmüllers bei den Gerichten Anzeige gemacht und als vorsichtiger und gewissenhafter Mann vor seinen Augen versiegeln lassen.

1Vorlage: Veichenbläue