Das Geheimnis der alten Mamsell

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Felicitas schob einen wackeligen Tisch unter das Fenster und stieg hinauf. Ah, was war das! ... Freilich, mit der geträumten Ausschau in die weite Gotteswelt war es hier nichts; vier Dächer bildeten ein festgeschlossenes Quadrat, von denen das gegenüberliegende die anderen überragte und dem Blicke jede Fernsicht verwehrte; aber gerade dies Dach-Vis-a-vis war für die zwei erstaunten, weitgeöffneten Kinderaugen ein Wunder, wie es die schönsten Märchenbücher nicht wunderbarer erzählen konnten. Dort auf der hohen, doch sanft geneigten Schrägseite gab es nicht etwa Ziegel, wie sie die anderen Dächer schwarzbraun, schmutzig und bemoost zeigten – nein, es war förmlich überschüttet mit Blumen, mit Astern und Dahlien, welche ihre bunten Häupter hoch droben in den Lüften mit derselben Sicherheit wiegten, wie drunten, dicht an der starken Muttererde. Soweit ein pflegender menschlicher Arm von der am unteren Rande des Daches hängenden Galerie aus reichen konnte, stiegen Blumenreihen empor, dann aber schloß sich ihnen ein in allen Nüancen des Rot spielendes Blättergewirr an, fast wie ein Mantel, der sich um die Schultern einer glänzenden Schönheit legt – die wilde Weinrebe reckte und streckte sich bis hinauf zum First; selbst auf die Nachbardächer krochen die Ranken noch mit ihren leuchtenden, gefingerten Blättern und den schwarzblauen Trauben. Die Galerie hatte die ganze Länge des Daches und hing so luftig und leicht da, als sei sie hingeweht, und doch trug die Brüstung ihres Geländers schwere Kasten voll Erde, aus denen dicke Resedabüsche quollen und Hunderte von Monatsrosen ihre lachenden Köpfchen steckten.

Ein weißer, ziemlich plumper Gartenstuhl neben einem runden Tischchen, auf welchem ein Porzellankaffeegeschirr stand, bewies unwiderleglich, daß Geschöpfe von Fleisch und Blut hier oben hausten; gleichwohl behielt die ursprüngliche Vermutung des Kindes etwas für sich, nach welcher dort der kleine Vorbau, den eine Glasthür von der Galerie abschloß, das Hüttchen der Blumenfee sein mußte. Man sah weder Dach noch Mauern; es war alles überwuchert von großblätterigem, schottischem Epheu; die Kapuzinerkresse rankte sich hinauf, verstreute droben über die grüne Kuppel ihre gespornten Blütenkelche mit den feurig orangegelben Samtblättern und hing sie mutwillig schaukelnd über die Glasthür. Diese Thür klaffte ein wenig, und aus ihr quollen die Töne, die das Kind ans Fenster gelockt hatten.

Ein Blick hinunter in den Raum, den die vier Hintergebäude umschlossen, ließ plötzlich eine Ahnung in der kleinen Felicitas aufdämmern. Da drunten krakeelte und krähte es um die Wette – es war der Geflügelhof. Felicitas hatte ihn noch nie gesehen; denn aus Furcht, daß eines der schnarrenden Geschöpfe in den Vorderhof oder wohl gar in die Hausflur dringen könne, trug Friederike den Thürschlüssel stets in der Tasche. Wie oft aber war sie mit zornigem Gesichte in die Küche gekommen und hatte zu Heinrich hinübergescholten: »Die Alte da oben gießt wieder einmal ihr nichtsnutziges Gras, daß die Rinnen überlaufen ...!« Ach, das nichtsnutzige Gras waren die Tausende süßer Blumengesichtchen da drüben, und das Wesen, das sie pflegte und behütete, war – die alte Mamsell, die ja auch in diesem Augenblicke wieder den Sonntagnachmittag »entheiligte durch unheilige und lustige Weisen«.

Diese Gedanken waren kaum in dem Köpfchen aufgetaucht, als auch schon die kleinen Füße auf der Fensterbrüstung standen. Die ganze Elastizität der Kinderseele, die Leid und Kummer über etwas Neuem für einen Moment völlig vergessen kann, machte sich auch hier geltend ... Das Kind konnte ja klettern wie ein Eichhörnchen, und über die Dächer hinzulaufen, war eine Kleinigkeit. Da unten auf den zwei an den Dächern hängenden Rinnen ließ es sich jedenfalls prächtig marschieren; sie sahen zwar etwas bemoost und wackelig aus, und dort in der Ecke, wo sie zusammenstießen, hingen beide schief, allein sie zerbrachen jedenfalls noch lange, lange nicht und ließen sich ja gar nicht vergleichen mit dem dünnen Seile, auf welchem Felicitas noch viel kleinere Mädchen, als sie selbst war, hatte tanzen sehen. Sie schlüpfte zum Fenster hinaus, und nach zwei Schritten über das abschüssige Dach stand sie in der Rinne. Es ächzte und knackte widerwillig unter den Füßchen, die tapfer vorwärts trippelten – rechts nicht der mindeste Halt, und links eine gähnende Tiefe von vier Stockwerken – wenn das die Mutteraugen gesehen hätten! – aber es ging vortrefflich. Noch ein Hinaufklettern auf das bedeutend höhere Dach, dann ein Sprung über das Geländer und das Kind stand mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen mitten unter den Blumen und sah über die anderen Gebäude hinaus in die weite, weite Welt, auf die ein purpurglühender Abendhimmel niederstrahlte.

Auf dem runden Tischchen lagen auch verschiedene Zeitungen, und auf einer derselben las das Kind im Vorüberschreiten lächelnd den Titel: »Die Gartenlaube«. Eine Gartenlaube, ja, die paßte freilich prächtig hierher, wo es hell und sonnig war, und wo eine so reine, frische Luft wehte!

Und nun stand das kleine Mädchen da und blickte schüchtern durch die Glasscheiben, die vielleicht noch nie ein Kindergesicht widergespiegelt hatten ... Wuchsen denn die Epheuzweige durch das Dach und rankten sich da drinnen in dem großen Zimmer weiter? Von der Wandbekleidung konnte man nichts sehen, sie war völlig überstrickt von Gezweig, aber in kleinen Zwischenräumen traten Postamente aus der Wand hervor, auf denen große Gipsbüsten standen – eine merkwürdige Versammlung ernster, bewegungsloser Köpfe, die sich leuchtend und geisterhaft abhoben von dem kräftigen Grün der Blätterwand. Sie ließen es sich schweigend gefallen, daß die Epheuranken Allotria trieben und sich hier quer um die Brust des einen und dort als Kranz um eines anderen ernste Stirn schlangen. Die Mutwilligen machten es ja mit den Fenstern nicht besser; sie hingen wie eine grüne Wolke verdunkelnd über den Vorhängen, und doch waren diese zwei Fenster zwei prächtige Landschaftsbilder, sie ließen draußen die Straßendächer weit unter sich und faßten da drüben den herbstlichen bunten Wald auf dem Bergrücken und die fahlen Streifen der Stoppelfelder in ihren Rahmen.

Unter den Fenstern stand ein Flügel. Die alte Mamsell, genau so gekleidet wie gestern, saß davor, und ihre zarten Hände griffen mit gewaltiger Kraft in die Tasten. Das Gesicht sah etwas verändert aus; sie trug eine Brille, und ihre gestern so schneebleichen Wangen waren gerötet.

Die kleine Felicitas war leise eingetreten und stand in dem Bogen, welchen der Vorbau bildete ... Fühlte die alte Dame die Nähe eines menschlichen Wesens, oder hatte sie ein Geräusch gehört – sie brach plötzlich mitten in einem rauschenden Akkorde ab, und ihre großen Augen richteten sich sofort über die Brille hinweg auf das Kind. Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch die schwächliche Gestalt der Einsamen, ein leiser Schrei entfloh ihren Lippen; sie nahm mit der zitternden Rechten die Brille ab und erhob sich, während sie sich auf das Instrument stützte.

»Wie kommst du hierher, mein Kind?« fragte sie endlich mit unsicherer Stimme, die jedoch trotz des Schreckens sanft und mild blieb.

»Ueber die Dächer,« versetzte das ängstlich gewordene kleine Mädchen beklommen und zeigte mit der Hand zurück nach dem Hofe.

»Ueber die Dächer? – Das ist unmöglich! Komm her, zeige mir, wie du gegangen bist.« Sie faßte die Hand des Kindes und trat mit ihm auf die Galerie. Felicitas deutete auf das Mansardenfenster und nach den Rinnen. Die alte Dame schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht.

»Ach, erschrecken Sie ja nicht!« sagte Felicitas mit ihrer lieblich unschuldigen Stimme. »Es ging wirklich ganz gut. Ich kann klettern wie ein Junge, und Doktor Böhm sagt immer, ich sei ein Flederwisch und hätte keine Knochen.«

Die alte Mamsell ließ die Hände vom Gesicht fallen und lächelte – es lag noch so viel Anmut in diesem Lächeln, das zwei Reihen sehr schöner, weißer Zähne sehen ließ. Sie führte die Kleine in das Zimmer zurück und setzte sich in einen Lehnstuhl.

»Du bist die kleine Fee, gelt?« sagte sie, indem sie Felicitas an ihre Kniee heranzog. »Ich weiß es, wenn du auch nicht auf rosa Gazewolken zu mir hereingeflogen bist ... Dein alter Freund Heinrich hat mir heute mittag von dir erzählt.«

Bei Heinrichs Namen kam die ganze Wucht des Leides wieder über das Kind. Wie heute morgen stieg eine glühende Röte in die Wangen, und Groll und Weh zogen jene herben Linien um den kleinen Mund, die über Nacht den Ausdruck des Kindergesichts zu einem völlig anderen gemacht hatten ... Den Augen der alten Mamsell entging diese plötzliche Veränderung nicht. Sie nahm schmeichelnd das Gesicht des kleinen Mädchens zwischen ihre Hände und bog es zu sich herab.

»Siehst du, mein Töchterchen,« fuhr sie fort, »seit vielen Jahren kommt der Heinrich allsonntäglich herauf zu mir, um Verschiedenes für mich zu besorgen ... Er weiß, daß er nie gegen mich erwähnen darf, was sich drunten im Vorderhause ereignet, und bisher hat er auch nie das Gebot überschritten ... Wie lieb muß er die kleine Fee haben, daß er plötzlich gegen meinen so streng ausgesprochenen Wunsch handeln konnte!«

Die trotzigen Augen des Kindes schmolzen.

»Ja, er hat mich lieb – sonst niemand,« sagte sie, und ihre Stimme brach.

»Sonst niemand?« wiederholte die alte Dame, während ihr unaussprechlich sanfter Blick ernst liebevoll auf dem Gesichte der Kleinen ruhte. »Weißt du denn nicht, daß einer da ist, der dich immer lieb haben wird, auch wenn sich alle Menschen von dir abwenden sollten? ... Der liebe Gott –«

»O, der will mich ja gar nicht, weil ich ein Spielerskind bin!« unterbrach Felicitas die Sprecherin mit ausbrechender Heftigkeit. »Frau Hellwig hat heute morgen gesagt, meine Seele sei so wie so verloren, und alle drunten im Vorderhause sagen, er habe meine arme Mama verstoßen, sie sei nicht bei ihm ... Ich habe ihn aber auch nicht mehr lieb – ganz und gar nicht, und ich will auch nicht zu ihm, wenn ich gestorben bin – was soll ich denn dort, wo meine Mama nicht ist?«

 

»Gerechter Gott, was haben diese Grausamen mit ihrem sogenannten christlichen Glauben aus dir gemacht, armes Kind!«

Die alte Dame erhob sich hastig und öffnete eine Seitenthür. Es war dem Kinde, als umflatterten hier weiße Wölkchen des Himmels sein Haupt. Ueber das in einer Ecke stehende Bett, über Thüren und Fenster floßen weiße Mullvorhänge herab. Die blaßgrüne Wand des kleinen Gemachs tauchte nur in einzelnen schmalen Streifen zwischen dem wolkigen Gewebe auf ... Welch ein Kontrast zwischen diesem kleinen Raume, so frisch und makellos rein, wie der Gedanke, der aus einer gesunden, unbefleckten Seele kommt, und jenem düsteren Boudoir drunten im Vorderhause, in welchem Frau Hellwig während der frühen Morgenstunden auf dem Betstuhle kniete, auf jenem Betstuhle, dessen gestickte Polster wohl für die grausigen Marterwerkzeuge, nirgends aber für ein Symbol des Friedens und der Versöhnung Raum hatten.

Auf dem Nachttische, neben dem Bette, lag eine große, vielgebrauchte Bibel. Die alte Dame schlug sie mit sicherer, kundiger Hand auf und las laut und tiefbewegt: »Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.« Und sie las weiter und weiter und schloß mit dem Verse: »Die Liebe hört nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und das Erkenntnis aufhören wird.«

»Und diese Liebe kommt von ihm, ja, Gott ist diese Liebe selbst,« sagte sie und legte ihren Arm um die Schultern des Kindes. »Deine Mama ist sein Kind, wie wir alle, und sie ist eingegangen zu ihm, denn ›die Liebe hört nimmer auf‹ ... Suche sie getrost da droben, und wenn du nachts aufblickst zum Himmel mit seinen Millionen wundervoller Sterne, so denke du fest und sicher: ›Neben einem solchen Himmel gibt es keine Hölle!‹ ... Und nun hast du ihn auch wieder lieb, gelt, recht von Herzen lieb, meine kleine Fee?«

Das Kind antwortete nicht, aber es schlug leidenschaftlich beide Arme um die milde Trösterin, und ein heißer Thränenstrom stürzte aus seinen Augen. –

Zwei Tage darauf hielt ein Wagen vor dem Hellwigschen Hause. Die Witwe stieg ein mit ihren zwei Söhnen, um ihnen das Geleit bis zur nächsten Stadt zu geben. Johannes ging nach Bonn, um Medizin zu studieren, zuvor aber sollte er Nathanael demselben Institut übergeben, in welchem er erzogen worden war.

Heinrich stand breitspurig und behaglich in der offenen Hausthür neben Friederike und sah dem Wagen nach, der langsam und schwerfällig über das holprige Pflaster des Marktplatzes hinschwankte. Es zog etwas wie ein leiser Pfiff über seine gespitzten Lippen – bei ihm stets das Anzeichen einer wohligen Stimmung – und beide Daumen steckten fest eingeklemmt in den gewaltigen Fäusten, was der Volksmund ungefähr in die Worte übersetzt: »Herr, behüte uns, daß das Unheil nicht wiederkehre!«

»Da können nun so ein halb Mandel Jährchen vergehen, bis wir den einen oder den anderen wieder ins Haus kriegen,« sagte er seelenvergnügt zu Friederike, die sich pflichtschuldigst mit dem Schürzenzipfel über die Augen fuhr.

»Und das ist dir wohl ganz recht, du Dickkopf?« fuhr sie ihn an. »Ein schöner Dank für das Trinkgeld, das du vom jungen Herrn gekriegt hast!«

»Geh in deine Küche – auf dem Herde liegt das Zeug noch; ich rühr's mit keinem Finger an! Kannst dir meinetwegen einen roten Rock und gelbe Schuhe zum Vogelschießen dafür kaufen.«

»Ach, du gottheilloser Mensch! ... Einen roten Rock und gelbe Schuhe, wie eine, die auf dem Seile tanzt!« rief die alte Köchin erbittert. »Na, es ist nur gut, daß man weiß, warum du so wütend bist – der junge Herr hat dir's heute morgen gut gegeigt!«

»I, was du nicht alles weißt!« warf der Hausknecht gleichmütig ein. Er steckte die Hände in die Seitentaschen seines Rockes, zog die Schultern in die Höhe und pflanzte sich noch breiter auf die Schwelle als bisher. Diese Haltung empörte Friederikes Gemüt stets bis zur Leidenschaft, denn es lag die äußerste Verachtung dessen drin, was sie sagte.

»Hat der Mensch da zwanzig Thaler Lohn und höchstens fünfzig Thaler in der Sparkasse,« fuhr sie giftig fort, »und stellt sich vor seine reiche Herrschaft hin wie der Großmogul und spricht: ›Geben Sie mir das fremde Kind, ich bringe es bei meiner Schwester unter, es soll Ihnen keinen Heller kosten,‹ und –«

»Und da hat der junge Herr geantwortet,« ergänzte Heinrich, indem er das Gesicht langsam der Erzürnten zuwendete: »›Das Kind ist in den besten Händen, Heinrich; es bleibt bis zu seinem achtzehnten Lebensjahre unter allen Umständen hier im Hause, und du wirst dich nicht unterstehen, es je zu bestärken, wenn es widerspenstig gegen meine Mutter ist, und – solltest du einmal wieder die alte Küchenhexe draußen beim Horchen ertappen, so nagle sie ohne Gnade am Ohrläppchen auf der Thür fest.‹ Was meinst du denn, Friederike, wenn ich jetzt –« er hob den Arm, und die alte Köchin floh schimpfend in die Küche.

Kapitel 10

Neun Jahre waren an dem stattlichen Hause auf dem Marktplatze vorübergestrichen; aber weder auf die eisenfesten Mauern, noch in das Frauenprofil am wohlbekannten Fenster des Erdgeschosses hatten sie einen Zug des Verfalles zu zeichnen vermocht ... Vielleicht sahen die Drachenköpfe hoch oben am Dache für den aufmerksamen Beschauer etwas mitgenommen aus – kein Wunder, wenn auch Drachenköpfe, weinten sie doch jahraus jahrein mit dem Himmel und gossen seine Thränenströme auf das Pflaster; nachher kam wieder die Sonne und durchglühte sie, solcher Wechsel verändert die Physiognomie. Die Frau da drunten aber stand auf dem Boden der starren Ueberzeugung, auf dem hohen Piedestal der eigenen Unfehlbarkeit – in dieser wandellosen, eisigkalten Region gibt es keinen Zweifel, keine Kämpfe, kein inneres Ringen, daher die äußere Versteinerung, die man eine gute Konservation zu nennen pflegt.

Eine auffallende Veränderung zeigte das alte Haus aber doch: die Rouleaux in der großen Erkerstube des ersten Stockes waren seit einigen Wochen stets aufgerollt und Blumentöpfe standen auf den Fenstersimsen. Der Blick der Vorübergehenden suchte pflichtschuldigst nach wie vor zuerst das Fenster mit dem Asklepiasstocke, und Frau Hellwig konnte der ehrerbietigen Grüße stets sicher sein, aber dann huschten die Augen verstohlen hinauf nach dem Erker. Dort, inmitten der steinernen Fenstereinfassung, erschien häufig ein reizendes Frauengesicht von förmlich blendender Frische, ein Kopf voll aschblonder Locken, mit blauen Taubenaugen, die fast kinderhaft groß und rund in die Welt schauten, und dieser Kopf saß auf einem blühenden Leibe vom schönsten Ebenmaße, den meist ein weißes Mullkleid umhüllte. Manchmal, freilich nicht oft, erhielt das liebliche Bild im Fensterrahmen aber auch eine entstellende Zugabe – eine Kindergestalt war dann auf einen Stuhl geklettert und sah neugierig über die Schultern der Dame hinunter auf den Marktplatz; es war ein armes, durch die Skrofelkrankheit furchtbar entstelltes Köpfchen; die Hand, welche das spärliche, weißblonde Haar so sorgfältig in zierliche Ringel kräuselte, machte sich vergebliche Mühe – unter dem künstlichen Lockenbau trat die Häßlichkeit des fahlen, aufgedunsenen Gesichtchens nur um so grotesker hervor, und der stets höchst elegante Anzug war auch selten geeignet, die unförmliche Taille und die aufgetriebenen Gelenke des Kindes zu verbergen. Allein bei allem Kontraste in der äußeren Erscheinung waren beide doch Mutter und Kind, und um des letzteren willen waren sie nach Thüringen gekommen.

Innerhalb der letztverflossenen neun Jahre nämlich hatte ein Ingenieur seine Wünschelrute ziemlich nahe dem Weichbilde der Stadt X. spielen lassen; der moderne Mosesstab hatte dem Boden einen bitteren Quell entlockt, der an der Luft, wenn auch nicht zu Gold und Silber, so doch zu sehr schätzenswerten Salzkrystallen erhärtete. Das war ein Fingerzeig für die Bewohner von X. Sie etablierten ein Soolbad, das im Vereine mit dem ausgezeichneten Renommee der Thüringer Luft sehr bald Hilfesuchende aus aller Herren Länder herbeizog.

Die junge Dame war auch in die Stadt gekommen, um ihr Kind in der Salzflut zu baden, und zwar auf Anraten des Professors Johannes Hellwig in Bonn ... Ja, die Frau da drunten hinter dem Asklepiasstocke hatte viel für ihren Sohn gethan! Sie hatte es durchgesetzt, daß er frühzeitig unter das Regiment des strenggläubigen Verwandten am Rhein gekommen war; sie hatte es nie geduldet, daß er während seines siebenjährigen Fernseins auch nur ein einziges Mal auf Ferien nach Hause kommen durfte; sie hatte jeden Morgen pünktlich und regelrecht seinen Namen auf dem Betstuhle genannt und war nie müde geworden, die Zahl und Beschaffenheit seiner Hemden von der Ferne aus streng zu kontrollieren – und da war er nun auch ein berühmter Mann geworden.

Es würde übrigens dem jungen Professor bei all seiner Berühmtheit und Wohlerzogenheit schwerlich gelungen sein, einen seiner Patienten in der geschonten Erkerstube seiner Mutter unterzubringen, wären nicht seine beiden Schützlinge Tochter und Enkelin jenes strenggläubigen Verwandten am Rhein gewesen, auf welchen Frau Hellwig große Stücke hielt. Nebenbei hatte auch die schöne junge Frau den Vorzug eines hübschen Titels – sie war die Witwe eines Regierungsrates in Bonn. Es konnte der Welt gegenüber ganz und gar nichts schaden, wenigstens eine kleine Regierungsrätin in der Familie zu haben, da Herr Hellwig sich stets starrköpfig geweigert hatte, seine Gattin zu einer Frau Kommissionsrätin oder dergleichen zu machen.

Frau Hellwig saß am Fenster auf der Estrade. Man hätte meinen können, die Zeit sei auch spurlos an dem feinen, schwarzen Wollkleide, an Kragen und Manschetten vorübergegangen; bis auf die kleine Nadel, die den Kragen unter dem Kinne zusammenhielt, war der Anzug genau derselbe, wie wir ihn am ersten Abend an der großen Frau kennen gelernt haben. Nur erschien die Büste voller; die engen Aermel umschloßen drall die starken Oberarme, und der Schneider hatte, vielleicht heimlicherweise, den Rock faltenreicher um die plumpe, sehr ungraziöse Taille gereiht ... Ihre großen weißen Hände lagen mit dem Strickzeuge feiernd im Schoße – sie hatte in diesem Augenblicke Wichtigeres zu thun.

An der Thür, in sehr ehrerbietiger Entfernung stand ein Mann; seine schmale Gestalt steckte in einem abgeschabten Rocke, und die Hand, die er öfter beim Sprechen hob, war voller Schwielen. Er sprach leise und stockend – war es doch so unheimlich still im Zimmer; nur das Ticken der Wanduhr begleitete seinen Vortrag. Aus dem Munde der gestrengen Frau kam kein ermutigendes Wort, ja, es schien, als fehle dieser regungslosen Gestalt sogar der Atemzug, als könne der starre, unbewegliche Blick stets und immer nur das eine Ziel haben – das ängstliche, blasse Gesicht des Mannes, der endlich erschöpft schwieg und sich mit seinem kattunenen Taschentuche den Schweiß von der Stirn wischte.

»Sie sind an die Unrechte gekommen, Meister Thienemann,« sagte Frau Hellwig nach einer abermaligen Pause kalt. »Ich zersplittere mein Geld nicht in so kleine Kapitalien.«

»Ach, Madame Hellwig, so ist's ja auch gar nicht gemeint; ich werde doch nicht so unbescheiden sein!« entgegnete der Mann lebhaft und trat einen Schritt näher. »Aber Sie sind bekannt als eine wohlthätige Dame, denn Sie sammeln jahraus jahrein für die Armen und stehen so oft im Wochenblatte mit Lotterien und dergleichen, und da wollte ich nur bitten, mir für ein halbes Jahr gegen Zinsen das Kapitälchen von fünfundzwanzig Thalern aus dem Gesammelten vorzustrecken.«

Frau Hellwig lächelte – der Mann wußte nicht, daß dies ein Todesurteil für seine Hoffnung war.

»Ich könnte beinahe denken, es sei nicht ganz richtig bei Ihnen, Meister Thienemann – diese Zumutung ist wirklich neu!« sagte sie beißend. »Allein ich weiß ja, daß Sie sich um die Bestrebungen der Gläubigen für die heilige Kirche nicht kümmern, und deshalb will ich Ihnen sagen, daß von den dreihundert Thalern, die gegenwärtig disponibel in meinen Händen sind, nicht ein Heller hier in der Stadt bleibt. Ich habe es für die Mission gesammelt – es ist heiliges Geld, – bestimmt zu einem Gott wohlgefälligen Werke, nicht aber, um Leute zu unterstützen, die arbeiten können.«

»Madame Hellwig, an Fleiß lass' ich's nicht fehlen!« rief der Mann mit halberstickter Stimme. »Aber die Krankheit hat mich ins Elend gebracht ... Du lieber Gott, wie noch bessere Zeiten für mich waren, da hab' ich über Feierabend Kleinigkeiten gearbeitet und hab' sie in Ihre Lotterien gegeben, weil ich dachte, sie kämen unseren Armen zu gute, und nun geht das Geld hinaus in die weite Welt, und bei uns gibt's doch auch viele, die keinen Schuh an den Füßen und im Winter kein Scheit Holz auf dem Boden haben.«

 

»Ich verbitte mir alle Anzüglichkeiten! ... Wir thun übrigens hier auch Gutes, aber mit Auswahl, Meister Thienemann ... Solche Männer, die im Handwerkervereine Vorträge voller Irrlehren mit anhören, bekommen natürlich nichts. Sie thäten auch besser, bei Ihrer Hobelbank zu stehen, als daß Sie in die Sterne und in die Steine gucken und behaupten, es sei da auch vieles anders, als die heilige Schrift aussage ... Ja, ja, dergleichen gotteslästerliche Reden kommen uns schon zu Ohren, und wir merken sie uns fleißig für vorkommende Fälle ... Sie kennen nun meine Ansicht und haben bei mir gar nichts zu hoffen.«

Frau Hellwig wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus.

»Lieber Gott, was muß man sich doch alles sagen lassen, wenn man in Not ist!« seufzte der Mann. »Das verdanke ich meiner Frau; sie hat nicht geruht, bis ich in dies Haus gegangen bin.«

Er sah noch einmal nach dem zweiten Fenster des Zimmers, und als ihm auch von dort her weder Hilfe noch ein tröstendes Wort kam, ging er zur Thür hinaus. Der letzte Blick des armen Handwerkers hatte der Regierungsrätin gegolten, die Frau Hellwig gegenüber saß. War je eine weibliche Erscheinung geeignet, eine frohe Hoffnung in dem Herzen Hilfsbedürftiger zu erwecken, so war es jene rosige Gestalt im duftigen, fleckenlos weißen Kleide. Die weichen Linien des Profils, der Glorienschein der hellen Locken über der Stirne, die blauen Augen, – das alles machte den Gesamteindruck eines Engelkopfes – für den aufmerksamen Beobachter jedoch den eines gemeißelten; denn während mehr als einmal das Rot der Entrüstung über Frau Hellwigs Stirne geflogen war, und der Bittende so beweglich in Stimme und Gebärden seine sorgenvolle Angst an den Tag gelegt hatte, war von jenem lieblichen Oval auch nicht einen Augenblick der Ausdruck lächelnder Ruhe gewichen. Der schöne Busen hob und senkte sich in gleichmäßigen Atemzügen; die halbgestickte Rose unter ihren Fingern hatte sich während der kleinen Szene um ein Blatt vermehrt, und das strengste Auge würde an den sorgfältig abgezählten Kreuzstichen auch nicht den geringsten Makel entdeckt haben.

»Du hast dich doch nicht geärgert, Tantchen?« fragte sie aufblickend mit lieblich schmeichelnder Stimme, als der Meister das Zimmer verlassen hatte. »Mein seliger Mann stand auch mit diesen Fortschrittlern stets auf sehr gespanntem Fuße, und das Vereinswesen war ihm ein Greuel ... Ah, sieh da, Karoline!«

Bei diesem Ausrufe winkte sie nach der Küchenthür. Dort war schon längst, noch während der Anwesenheit des Tischlermeisters, ein junges Mädchen leise und geräuschlos eingetreten ... Wer vor vierzehn Jahren die schöne junge Frau des Taschenspielers vor den Gewehrläufen der Soldaten hatte stehen sehen, der mußte unwillkürlich erschrecken bei dieser wiedererstandenen Erscheinung. Es waren dieselben Körperformen, wenn auch zarter und mädchenhafter und hier in einen groben, dunklen Stoff gehüllt, während jenes unglückliche Weib der gleißende Schimmer theatralischen Pompes umgeben hatte. Es waren dieselben tadellosen Linien des Kopfes mit der perlmutterweißen, schmalen Stirne und den unmerklich herabgesenkten Mundwinkeln, die dem Gesicht einen hinreißenden Ausdruck leiser Schwermut verliehen. Bei jener Unglücklichen hatte der thränenvolle Blick aus dunkelgrauen Augensternen diesen Ausdruck vollendet; das junge Mädchen dagegen hob in diesem Momente die schwarzbewimperten Lider, und ein Paar brauner leuchtender Augen wurden sichtbar. Sie zeugten von einer Seele, die sich nicht überwunden gab, die sich nicht hatte beugen lassen zu widerstandsloser Duldung; es lag Kraft und Opposition in diesem Blicke – rollte doch auch polnisches Blut in den Adern dieses jungen Geschöpfes, ein versprengter Tropfen jenes edlen, heißen Stromes, der sich immer wieder erhebt zu erfolglosem Kampfe gegen die Uebermacht.

Wir wissen jetzt, daß das an der Thür stehende junge Mädchen Felicitas ist, wenn sie auch notgedrungen auf den simplen Namen Karoline hört – den »Komödiantennamen« hatte Frau Hellwig sofort bei Beginn ihrer Selbstherrschaft zu dem »Theaterplun der« in die Dachkammer geworfen.

Felicitas näherte sich der Herrin des Hauses und legte ein bewunderungswürdig gesticktes Batisttaschentuch auf den Nähtisch derselben. Die Regierungsrätin griff hastig danach.

»Soll das auch verkauft werden zum Besten der Missionskasse, Tante?« fragte sie, während sie das Tuch entfaltete und die Stickerei prüfte.

»Je nun, freilich,« versetzte Frau Hellwig; »Karoline hat es ja zu diesem Zwecke arbeiten müssen – sie hat lange genug damit getrödelt. Ich denke, drei Thaler wird es doch wohl wert sein.«

»Vielleicht,« meinte die Regierungsrätin achselzuckend. »Woher haben Sie denn die Zeichnung zu den Ecken, liebes Kind?«

Ein leises Rot stieg in Felicitas' Gesicht. »Ich habe sie selbst entworfen,« antwortete sie mit leiser Stimme.

Die junge Witwe sah rasch auf. Ihr blaues Auge veränderte sich für einen Moment – es schillerte fast ins Grünliche.

»So, selbst entworfen?« wiederholte sie langsam. »Nehmen Sie mir's nicht übel, Kindchen, aber das ist eine Kühnheit, die ich mit dem besten Willen nicht fasse. Wie kann man nur so etwas wagen ohne die erforderlichen Kenntnisse! ... Das ist echter Batist, der Tante kostet dies Stück mindestens einen Thaler – es ist verdorben durch die stümperhafte Zeichnung.«

Frau Hellwig fuhr heftig empor.

»Ach, sei nicht böse auf Karoline, liebe Tante, sie hat es gewiß nur gut gemeint,« bat begütigend mit sanfter Stimme die junge Dame. »Vielleicht läßt es sich doch noch verwerten ... Sehen Sie, liebes Kind, ich habe mich grundsätzlich nie mit Zeichnen abgegeben, der Stift in der weiblichen Hand gefällt mir nicht, aber nichtsdestoweniger habe ich ein sehr, sehr scharfes Auge für eine fehlerhafte Zeichnung ... Gott im Himmel, was ist das für ein monströses Blatt hier!«

Sie zeigte auf ein längliches Blatt, dessen Spitze umgebogen war, und das sich in täuschenden Umrissen abhob von dem durchsichtigen Gewebe. Felicitas erwiderte kein Wort, doch sie preßte die zarten Lippen aufeinander und sah fest in das Gesicht der Tadlerin ... Die Regierungsrätin wandte sich hastig ab und legte die rechte Hand über die Augen.

»Ach, liebes Kind, jetzt hatten Sie wieder einmal Ihren stechenden Blick!« klagte sie. »Es schickt sich wirklich nicht für ein junges Mädchen in Ihren Verhältnissen, andere so herausfordernd anzusehen. Denken Sie nur an das, was Ihnen Ihr wahrer Freund, unser guter Sekretär Wellner, immer sagt: ›Hübsch demütig, liebe Karoline! ... Sehen Sie, da haben Sie nun gleich wieder einen verächtlichen Zug um den Mund – das könnte einen beinahe ärgern! ... Wollen Sie sich denn wirklich auf das Romantische spielen und das Anerbieten dieses Ehrenmannes hartnäckig zurückweisen, weil – Sie ihn nicht lieben? ... Lächerlich! Da wird schließlich mein Vetter Johannes doch einen Machtspruch thun müssen!«

Wie mußte sich das junge Mädchen in der Selbstbeherrschung geübt haben! Bei den letzten Worten der Regierungsrätin fuhr sie empor; man sah, wie ihr das rebellische Blut nach dem Kopfe stürmte; das plötzlich hoch empor gerichtete Haupt erhielt einen Augenblick etwas Dämonisches durch den Ausdruck des Hasses und der Verachtung. Dennoch sagte sie gleich darauf ruhig und kalt: »Ich werde es darauf ankommen lassen.«

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