Das Geheimnis der alten Mamsell

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Kapitel 3

Der Abend war weit vorgerückt. Ein scharfer Novemberwind fegte durch die Straßen, und die ersten Schneeflocken taumelten auf Dächer und Straßenpflaster und auf die dunkle, frisch aufgeworfene Erde des Grabhügels, der sich über der jungen Frau des Polen wölbte.

Inmitten des Hellwigschen Wohnzimmers stand ein gedeckter Tisch. Es waren massive silberne Bestecke, die neben den Tellern lagen, und das weiße Damasttischtuch hatte Atlasglanz und zeigte ein prachtvolles Muster. Die Lampe stand auf dem kleinen, runden Sofatische, hinter welchem die Frau Hellwig saß und an einem langen, wollenen Strumpfe strickte. Sie war eine große, breitschultrige Frau, im Anfange der vierziger Jahre. Vielleicht war dies Gesicht im Schimmer der Jugend schön gewesen, wenigstens hatte das Profil jene klassische Linie, welche die Gesetze der regelmäßigen Schönheit verlangen; aber hinreißenden Zauber hatte die Frau wohl nie besessen. Und mochte ihr großes Auge auch noch so schön geschnitten und glänzend, ihr Teint noch so strahlend gewesen sein, sie hatten sicher nicht jenen Schmelz zu ersetzen vermocht, den ein reiches Seelenleben über die Züge haucht – wie hätte sich dies Gesicht so versteinern können bei innerer Wärme? Wie wäre es möglich gewesen, nach einer Jugend voll seligen Gebens und Nehmens, nach den zahllosen Anregungen und Empfindungen, die das Leben in der empfänglichen Seele weckt, noch so eisig zu blicken, wie diese starren, grauen Augen blickten? ... Ein dunkler Scheitel legte sich in einer strengen, festen Linie um die noch immer weiße Stirn. Das übrige Haar dagegen verschwand unter einem Mullhäubchen von tadelloser Frische. Diese Kopfbedeckung und ein schwarzes Kleid von gesucht einfachem Schnitt mit eng anliegenden Aermeln und schmalen, weißen Manschettenstreifen am Handgelenke gaben der gesamten Erscheinung etwas Puritanerhaftes.

Dann und wann wurde eine Seitenthür geöffnet, und das runzelvolle Gesicht einer alten Köchin erschien forschend in der Spalte.

»Noch nicht, Friederike!« sagte Frau Hellwig jedesmal mit eintöniger Stimme, ohne aufzublicken; aber die Nadeln flogen immer rascher durch die Finger, und ein eigentümlicher Zug von Verbissenheit lagerte um die schmalen Lippen. Die alte Köchin wußte genau, daß »die Madame« ungeduldig sei; sie liebte es, zu schüren, und rief endlich in weinerlichem Tone in das Zimmer:

»Du lieber Gott, wo aber auch nur der Herr bleibt! Der Braten wird schlecht, und wann soll ich denn heute fertig werden?«

Diese Bemerkung trug ihr zwar eine Rüge ein, denn Frau Hellwig litt es nicht, daß ihre Leute unaufgefordert ihre Meinung äußerten; aber sie zog sich vergnüglich samt ihrem Verweise in die Küche zurück, hatte sie doch gesehen, daß die Madame nun auch eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen hatte.

Endlich wurde die Hausthür aufgemacht. Der volle, tiefe Klang der Thürglocke scholl durch die Hausflur.

»Ach, das hübsche Klingkling da oben!« rief draußen eine klare Kinderstimme.

Frau Hellwig legte den Strickstrumpf in ein vor ihr stehendes Körbchen und erhob sich. Befremden und Erstaunen hatten den Ausdruck der Ungeduld verdrängt – sie sah gespannt über die Lampe hinweg nach der Thür. Draußen kratzte jemand unzählige Male mit den Füßen über die Strohmatte, das war ihr Mann. Gleich darauf trat er in das Zimmer und ging mit etwas unsicheren Schritten auf seine Frau zu. Er trug ein kleines Mädchen, das ungefähr vier Jahre alt sein mochte, auf dem Arme.

»Ich bringe dir hier etwas mit nach Hause, Brigittchen,« sagte er bittend, aber er verstummte sogleich wieder, als sein Auge das seiner Frau traf.

»Nun?« fragte sie, ohne sich zu bewegen.

»Ich bringe dir ein armes Kind –«

»Wem gehört es?« unterbrach sie ihn kalt.

»Dem unglücklichen Polen, der seine junge Frau auf eine so schreckliche Weise verloren hat ... Liebes Brigittchen, nimm die Kleine gütig auf!«

»Doch wohl nur für diese Nacht?«

»Nein – ich habe dem Manne heilig versprochen, daß das Kind in meinem Hause aufwachsen soll.«

Er sprach diese Worte rasch und fest; denn es mußte ja doch einmal gesagt werden.

Das weiße Gesicht der Frau war plötzlich mit einer hellen Röte übergossen, und ein schneidender Zug flog um ihre Lippen. Sie verließ ihren bisherigen Platz um einen Schritt und tippte mit einer unbeschreiblich maliziösen Bewegung den Zeigefinger gegen die Stirn.

»Ich fürchte, es ist nicht richtig bei dir, Hellwig,« sagte sie. Ihre Stimme hatte noch immer die kalte Ruhe, was in diesem Augenblicke um so verletzender klang. »Mir, mir eine solche Zumutung? ... Mir, die ich mein Haus zu einem Tempel des Herrn zu machen suche, Komödiantenbrut unter das Dach zu bringen, dazu gehört mehr noch, als – Einfalt.«

Hellwig fuhr zurück, und ein Blitz zuckte aus seinen sonst so gutmütigen Augen.

»Du hast dich gewaltig geirrt, Hellwig!« fuhr sie fort. »Ich nehme dies Kind der Sünde nicht in mein Haus – das Kind eines verlorenen Weibes, das so sichtbar vom Strafgerichte des Herrn ereilt worden ist.«

»So – ist das deine Meinung, Brigitte? Nun, so frage ich dich, welcher Sünden hat sich dein Bruder schuldig gemacht, als er auf der Jagd von einem unvorsichtigen Schützen erschossen wurde? Er war seinem Vergnügen nachgegangen – das arme Weib aber starb in Erfüllung einer schweren Pflicht.«

Das Blut wich der Frau aus dem Gesicht, sie wurde plötzlich kreideweiß. Einen Moment schwieg sie und richtete das Auge erstaunt und lauernd zugleich auf ihren Mann, der plötzlich eine solche Energie ihr gegenüber entwickelte.

Währenddem zog das kleine Mädchen, das Hellwig auf den Boden gestellt hatte, die rosenfarbene Kapuze herunter, und ein reizendes Köpfchen voll kastanienbrauner Locken kam zum Vorschein; auch das Mäntelchen flog zur Erde ... Wie verhärtet mußte das Herz der Frau sein, daß sie nicht sofort beide Arme ausbreitete und das Kind kosend an die Brust drückte! War sie völlig blind gegen den unsäglichen Liebreiz der kleinen Gestalt, die auf den zierlichsten Füßchen, die je in einem Kinderschuhe gesteckt, durch das Zimmer trippelte und mit großen Augen die neue Umgebung betrachtete? ... Das rosige Fleisch der runden Schultern quoll aus einem hellblauen Wollkleidchen, dessen Bändchen und Säume zierliche Stickerei zeigten – vielleicht war dieser Schmuck des Lieblings die letzte Arbeit der Hände gewesen, die nun im Tode erstarrt waren.

Aber gerade der elegante Anzug, der ungezwungene, geniale Fall der Locken auf Stirn und Hals, die graziösen Bewegungen des Kindes empörten die Frau.

»Nicht zwei Stunden möchte ich diesen Irrwisch um mich leiden,« sagte sie plötzlich, ohne auf die eklatante Zurechtweisung ihres Mannes auch nur eine Silbe zu erwidern. »Das zudringliche kleine Ding mit den wilden Haaren und der entblößten Brust paßt nicht in unseren ernsthaften, strengen Haushalt – das hieße geradezu der Leichtfertigkeit und Liederlichkeit Thür und Thor öffnen. Hellwig, du wirst diesen Zankapfel nicht zwischen uns werfen, sondern dafür sorgen, daß die Kleine wieder dahin zurückgebracht wird, wohin sie gehört.«

Sie öffnete die Thür, die nach der Küche führte, und rief die Köchin herein.

»Friederike, ziehe dem Kinde die Sachen wieder an,« befahl sie, auf Kapuze und Mantel der Kleinen deutend, die noch am Boden lagen.

»Du gehst augenblicklich in die Küche zurück!« gebot Hellwig mit lauter, zorniger Stimme und zeigte nach der Thür.

Die verblüffte Magd verschwand.

»Du treibst mich zum Aeußersten durch deine Härte und Grausamkeit, Brigitte!« rief der erbitterte Mann. »Schreibe es daher dir und deinen Vorurteilen zu, wenn ich dir jetzt Dinge sage, die sonst nie über meine Lippen gekommen wären ... Wem gehört das Haus, das du, wie du sehr irrigerweise behauptest, zu einem Tempel des Herrn gemacht haben willst? – Mir ... Brigitte, du bist auch als arme Waise in dies Haus gekommen – im Laufe der Jahre hast du das vergessen, und, Gott sei es geklagt, je eifriger du an diesem sogenannten Tempel gebaut, je mehr du dich befleißigt hast, den Herrn und die christliche Liebe und Demut auf den Lippen zu führen, um so hochmütiger und hartherziger bist du geworden ... Dies Haus ist mein Haus, und das Brot, welches wir essen, bezahle ich, und so erkläre ich dir entschieden, daß das Kind bleibt, wo es ist ... Und ist dein Herz zu eng und liebeleer, um mütterlich für die arme Waise zu fühlen, so verlange ich wenigstens von meiner Frau, daß sie in Rücksicht auf meinen Willen dem Kinde den nötigen weiblichen Schutz zu teil werden läßt ... Wenn du nicht dein Ansehen bei unseren Leuten verlieren willst, so triff jetzt die nötigen Anordnungen zur Aufnahme des Kindes – außerdem werde ich die Befehle geben.«

Nicht ein Wort mehr kam über die weißgewordenen Lippen der Frau. Jede andere würde wohl in einem solchen Augenblicke der völligen Ohnmacht zu der letzten Waffe, den Thränen, gegriffen haben; aber diese kalten Augen schienen den süßen, erleichternden Quell nicht zu kennen. Dieses völlige Verstummen, diese eisige Kälte, mit der sich die ganze Frauengestalt förmlich panzerte, hatte etwas Beängstigendes und mußte jedem anderen die Brust zuschnüren ... Sie griff schweigend nach einem Schlüsselbunde und ging hinaus.

Mit einem tiefen Seufzer nahm Hellwig die Kleine bei der Hand und ging mit ihr im Zimmer auf und ab. Er hatte einen furchtbaren Kampf gekämpft, um diesem verlassenen Wesen eine Heimat in seinem Hause zu sichern, er hatte seine Frau tödlich beleidigt; nie, nie – das wußte er – vergab sie ihm die bitteren Wahrheiten, die er ihr eben gesagt hatte, denn sie war unversöhnlich.

Kapitel 4

Unterdes stellte Friederike einen kleinen Zinnteller mit einem Kinder-Eßbesteck und einer frischen Serviette auf den Tisch. Zugleich klingelte es draußen, und gleich darauf öffnete Heinrich die Zimmerthür und ließ einen kleinen, ungefähr siebenjährigen Knaben eintreten.

 

»Guten Abend, Papa!« rief der Kleine und schleuderte die Schneeflocken von seiner Pelzmütze.

Hellwig nahm den blonden Kopf seines Kindes zärtlich zwischen seine Hände und küßte es auf die Stirn.

»Guten Abend, mein Junge,« sagte er; »nun, war es hübsch bei deinem kleinen Freunde?«

»Ja; aber der dumme Heinrich hat mich viel zu früh geholt.«

»Das hat die Mama so gewünscht, mein Kind ... Komm her, Nathanael, sieh dir einmal dies kleine Mädchen an – es heißt Fee –«

»Dummheit! ... wie kann sie denn ›Fee‹ heißen – das ist ja gar kein Name!«

Hellwigs Auge streifte gerührt über das kleine Geschöpfchen, das Elternzärtlichkeit selbst mittels des Rufnamens poetisch zu verklären gesucht hatte.

»Ihr Mütterchen hat sie so genannt, Nathanael,« sagte er weich; »sie heißt eigentlich Felicitas ... Ist sie nicht ein armes, armes Ding? Ihre Mama ist heute begraben worden; sie wird nun bei uns wohnen, und du wirst sie lieb haben, wie ein Schwesterchen, gelt?«

»Nein, Papa, ich will kein Schwesterchen haben.«

Der Knabe war das treue Abbild seiner Mutter. Er hatte schöne Züge und einen merkwürdig klaren rosigen Teint; aber er hatte auch die häßliche Gewohnheit, das Kinn auf die Brust zu drücken und mit seinen großen Augen unter der gewölbten Stirn hervor nach oben zu schielen, was ihm einen Ausdruck von Heimtücke und Verschlagenheit gab. In diesem Augenblicke bog er den Kopf noch tiefer als sonst gegen die Brust, hob den rechten Ellbogen wie zu trotziger Abwehr in die Höhe und sah unter demselben mit einem bösartigen Ausdrucke nach dem Kinde hinüber.

Die Kleine stand dort und zog und zerrte verlegen an ihrem Röckchen; der bedeutend größere Junge imponierte ihr offenbar, aber allmählich kam sie näher, und ohne sich durch seine gehässige Stellung abschrecken zu lassen, griff sie mit leuchtenden Augen nach dem Kindersäbel, der an seinem Gürtel hing. Er stieß sie zornig zurück und lief seiner Mutter entgegen, die eben wieder eintrat.

»Ich will aber kein Schwesterchen haben!« wiederholte er weinerlich. »Mama, schicke das ungezogene Mädchen fort; ich will allein sein bei dir und dem Papa!«

Frau Hellwig zuckte schweigend die Achseln und trat hinter ihren Stuhl am Eßtische.

»Bete, Nathanael!« gebot sie eintönig und faltete die Hände. Sofort fuhren die zehn Finger des Knaben ineinander; er senkte demütig den Kopf und sprach ein langes Tischgebet ... Unter den obwaltenden Umständen war dies Gebet die abscheulichste Profanation einer schönen christlichen Sitte.

Der Hausherr rührte das Essen nicht an. Auf seiner sonst so blassen Stirn lag die Röte innerer Aufregung, und während er mechanisch mit der Gabel spielte, flog sein getrübter Blick unruhig über die mürrischen Gesichter der Seinen. Das kleine Mädchen ließ es sich dagegen vortrefflich schmecken. Sie steckte einige Bonbons, die er neben ihren Teller gelegt hatte, gewissenhaft in ihr Täschchen.

»Das ist für Mama,« sagte sie zutraulich; »die ißt Bonbons zu gern; Papa bringt ihr immer ganze große Düten voll mit.«

»Du hast gar keine Mama!« rief Nathanael feindselig herüber.

»O, das weißt du ja gar nicht!« entgegnete die Kleine sehr aufgeregt. »Ich habe eine viel schönere Mama, als du!«

Hellwig sah tieferschrocken und scheu nach seiner Frau, und seine Hand hob sich unwillkürlich, als wollte sie sich auf den kleinen rosigen Mund legen, der das eigene Interesse so schlecht zu wahren verstand.

»Hast du für ein Bettchen gesorgt, Brigittchen?« fragte er hastig, aber mit sanfter, bittender Stimme.

»Ja.«

»Und wo wird sie schlafen?«

»Bei Friederike.«

»Wäre nicht so viel Platz – wenigstens für die erste Zeit – in unserem Schlafzimmer?«

»Wenn du Nathanaels Bett hinausschaffen willst, ja.«

Er wandte sich empört ab und rief das Dienstmädchen herein.

»Friederike,« sagte er, »du wirst des Nachts dies Kind unter deiner Obhut haben – sei gut und freundlich mit ihm; es ist eine arme Waise und an die Zärtlichkeit einer guten, sanften Mutter gewöhnt.«

»Ich werde dem Mädchen nichts in den Weg legen, Herr Hellwig,« entgegnete die Alte, die offenbar gehorcht hatte; »aber ich bin ehrlicher Leute Kind und hab' in meinem ganzen Leben nichts mit Spielersleuten zu schaffen gehabt – wenn man nur wenigstens wüßte, ob die Menschen getraut gewesen sind.«

Sie schielte hinüber nach Frau Hellwig und erwartete ohne Zweifel einen belobenden Blick für ihre »herzhafte« Antwort, allein die Madame band eben Nathanael die Serviette ab und sah überhaupt drein, als sehe und höre sie von dem ganzen Handel nichts.

»Das ist stark!« rief Hellwig entrüstet. »Muß ich denn erst heute erfahren, daß in meinem ganzen Hause weder Mitleiden noch Erbarmen zu finden ist? Und Du meinst, du dürftest unbarmherzig sein, weil du ehrlicher Leute Kind bist, Friederike? ... Nun, zu deiner Beruhigung sollst du wissen, daß die Leute in rechtlicher Ehe gelebt haben; aber ich sage dir auch hiermit, daß ich von nun an sehr streng mit dir verfahren werde, sobald ich merke, daß du dem Kinde irgendwie zu nahe trittst.«

Es schien, als sei er des Kampfes müde. Er stand auf und trug die Kleine in die Kammer der Köchin. Sie ließ sich gutwillig zu Bett bringen und schlief bald ein, nachdem sie mit süßer Stimme für Papa und Mama, für den guten Onkel, der sie morgen wieder zu Mama tragen werde, und – für »die große Frau mit dem bösen Gesichte« gebetet hatte.

Spät in der Nacht ging Friederike zu Bett. Sie war zornig, daß sie so lange hatte aufbleiben müssen, und rumorte rücksichtslos in der Kammer. Die kleine Felicitas fuhr jäh aus dem Schlafe empor; sie setzte sich im Bette auf, strich die wirren Locken aus der Stirn, und ihre Augen glitten angstvoll suchend über die räucherigen Wände und dürftigen Möbel der engen, schwach beleuchteten Kammer.

»Mama, Mama!« rief sie mit lauter Stimme.

»Sei still, Kind, deine Mutter ist nicht da; schlafe wieder ein,« sagte die Köchin mürrisch, während sie sich entkleidete.

Die Kleine sah erschreckt zu ihr hinüber; dann fing sie an, leise zu weinen – sie fürchtete sich offenbar in der fremden Umgebung.

»Na, jetzt heult die Range auch noch, das könnte mir fehlen – gleich bist du still, du Komödiantenbalg!« Sie hob drohend die Hand. Die Kleine steckte erschrocken das Köpfchen unter die Decke.

»Ach, Mama, liebe Mama,« flüsterte sie, »wo bist du nur? Nimm mich doch in dein Bett – ich fürchte mich so ... ich will auch ganz artig sein und gleich einschlafen ... Ich habe dir auch etwas aufgehoben, ich habe nicht alles gegessen – Fee bringt dir etwas mit, liebe Mama ... Oder gib mir nur deine Hand, dann will ich in meinem Bettchen bleiben und –«

»Bist du wohl still!« rief Friederike und rannte wie wütend nach dem Bette des Kindes ... Es rührte sich nicht mehr – nur dann und wann drang ein unterdrücktes Schluchzen unter der Decke hervor.

Die alte Köchin schlief längst den Schlaf des Gerechten, als das arme Kind, die aufgeschreckte Sehnsucht im kleinen Herzen, noch leise nach der toten Mutter jammerte.

Kapitel 5

Hellwig war Kaufmann. Erbe eines bedeutenden Vermögens, hatte er dasselbe durch verschiedene industrielle Unternehmungen noch vermehrt. Er zog sich jedoch, weil er kränkelte, ziemlich früh aus der Geschäftswelt zurück und privatisierte in seiner kleinen Vaterstadt. Der Name Hellwig hatte da einen gewichtigen Klang. Die Familie war seit undenklichen Zeiten eine der angesehensten, und durch viele Generationen hindurch hatte immer einer der Träger des geachteten Namens irgend ein Ehrenamt der Stadt bekleidet. Der schönste Garten vor den Thoren des Städtchens und das Haus am Markte waren seit Menschengedenken im Besitze der Familie. Das Haus bildete die Ecke des Marktplatzes und einer steil bergaufsteigenden Straße, und an dieser Ecke lief die stattliche Fronte des Gebäudes in einen weit hervorspringenden Erker aus. In den zwei oberen Stockwerken hingen jahraus, jahrein schneeweiße Rouleaus hinter den Scheiben; nur dreimal im Jahre und dann stets einige Tage vor den hohen Festen verschwanden die Hüllen – es wurde gelüftet und gescheuert. Die mächtigen, erzenen Drachenköpfe hoch oben am Dache, die das Regenwasser aus der Dachrinne hinunter auf das Pflaster spieen, die Vögel, welche vorüberflatterten, sahen dann die aufgespeicherten Schätze des alten Kaufmannshauses, sahen die altmodische Pracht der Zimmer – jene hohen Schränke von kostbarer eingelegter Arbeit mit den blitzenden Schlössern und Handhaben, die reichen seidendamastenen Ueberzüge auf den strotzenden Daunenkissen der Kanapees und den hochgepolsterten Stühlen, die deckenhohen, in die Wand eingefügten, venezianischen Spiegel und in den Kammern die hochaufgestapelten Gastbetten, deren Leinenüberzügen ein starker Lavendelduft entquoll.

Diese Räume wurden nicht bewohnt. Es war niemals Sitte in der Familie Hellwig gewesen, einen Teil des geräumigen Hauses zu vermieten. Durch alle Zeiten hatte da droben vornehmes, feierliches Schweigen geherrscht, das nur unterbrochen wurde durch eine glänzende Hochzeit oder Kindtaufe und im Laufe des Jahres dann und wann durch den hallenden Schritt der Hausfrau, die dort ihre Leinenschätze, ihr Silber- und Porzellangeschirr verwahrt hielt.

Frau Hellwig war als zwölfjähriges Kind in dies Haus gekommen. Die Hellwigs waren ihr verwandt und nahmen sie auf, als ihre Eltern rasch hintereinander starben und sie und ihre Geschwister mittellos hinterließen. Das junge Mädchen hatte einen schweren Stand der alten Tante gegenüber, die eine strenge und stolze Frau war. Hellwig, der einzige Sohn des Hauses, empfand anfänglich Mitleiden für sie, später aber verwandelte sich die Teilnahme in Liebe. Seine Mutter war entschieden gegen seine Wahl, und es kam deshalb zu schlimmen Auftritten, allein der Liebende setzte schließlich seinen Willen durch und führte das Mädchen heim. Er hatte die mürrische Schweigsamkeit der Geliebten für mädchenhafte Schüchternheit, ihre Herzenskälte für sittliche Strenge, ihren starren Sinn für Charakter gehalten und stürzte mit dem Eintritt in die Ehe aus all seinen Himmeln. Binnen kurzem fühlte der gutmütige Mann die eiserne Faust einer despotischen Seele im Genicke, und da, wo er dankbare Hingebung gehofft hatte, trat ihm plötzlich der krasseste Egoismus entgegen.

Seine Frau schenkte ihm zwei Kinder, den kleinen Nathanael und seinen um acht Jahre älteren Bruder Johannes. Den letzteren hatte Hellwig schon als elfjähriges Kind zu einem Verwandten, einem Gelehrten, gebracht, der am Rhein lebte und Vorstand eines großen Knabeninstituts war.

Das waren Hellwigs Familienverhältnisse zu der Zeit, wo er das Kind des Taschenspielers in sein Haus nahm. Das schreckliche Ereignis, dessen Zeuge er gewesen war, hatte ihn tief erschüttert. Er konnte den flehenden, unsäglich schmerzlichen Blick der Unglücklichen nicht vergessen, als sie gedemütigt in seiner Hausflur gestanden und seinen Thaler in Empfang genommen hatte. Sein weiches Herz litt unter dem Gedanken, daß es vielleicht sein Haus gewesen war, wo das arme Weib den letzten verwundenden Stachel ihrer unglückseligen Lebensstellung hatte empfinden müssen. Als daher der Pole ihm die letzte Bitte der Verstorbenen mitteilte, da erbot er sich rasch, das Kind erziehen zu wollen. Erst als er auf die dunkle Straße hinaustrat, wohin ihm der letzte, herzzerreißende Abschiedsruf des unglücklichen Mannes nachscholl, und wo die Kleine, ihre Aermchen fester um seinen Hals schlingend, nach der Mama frug, erst da dachte er an den Widerspruch, der ihn voraussichtlich daheim erwartete; allein er rechnete auf den Liebreiz des Kindes und auf den Umstand, daß seiner eigenen Ehe ja ein Töchterchen versagt sei – er hatte trotz aller schlimmen Erfahrungen noch immer keinen vollkommenen Begriff von dem Charakter seines Weibes, sonst hätte er sofort umkehren und das Kind in die Arme des Vaters zurückbringen müssen.

War bis dahin das Verhältnis zwischen Hellwig und seiner Frau ein frostiges gewesen, so hatte es jetzt nach der Aufnahme der kleinen Waise den Anschein, als seien granitene Mauern zwischen dem Ehepaar aufgestiegen. Im Hause ging zwar alles seinen Gang unbeirrt fort. Frau Hellwig wanderte täglich mehrere Male durch die Haus- und Wirtschaftsräume – sie hatte durchaus keinen schwebenden Gang, und für ein feines oder gar ein ängstliches Ohr hatten diese harten, festen Schritte etwas Nervenaufregendes. Fortwährend glitt dabei ihre rechte Hand über Möbel, Fenstersimse und Treppengeländer – es war ein unbezwinglicher Hang, eine Manie dieser Frau, die große, weiße Hand mit den kolbigen Fingerspitzen und den breiten Nägeln über alles hinstreifen zu lassen und dann die innere Fläche sorgsam zu prüfen, ob nicht Staubatome oder das verpönte Fädchen eines Spinnewebenversuchs daran hänge ... Es wurde gebetet nach wie vor, und die Stimmen, die Gottes ewige Liebe und Barmherzigkeit priesen, die sein Gebot wiederholten, nach welchem wir selbst unsere Feinde lieben sollen, sie klangen genau so eintönig und unbewegt, wie vorher auch. Man nahm die Mahlzeiten gemeinschaftlich ein, und Sonntags schritt das Ehepaar einträchtig nebeneinander zur Kirche. Aber Frau Hellwig vermied es mit eiserner Konsequenz, ihren Mann anzureden. Sie fertigte seine Annäherungsversuche mit der knappesten Kürze ab und machte es möglich, stets neben oder über der kleinen Gestalt des Hausherrn hinwegzusehen. Ebensowenig existierte der kleine Eindringling für sie. Sie hatte an jenem stürmischen Abende der Köchin ein für allemal befohlen, täglich eine Portion Essen mehr anzurichten, und in die Kammer derselben einige Bettstücke nebst Leinzeug geworfen. Den kleinen Koffer mit Felicitas' Habseligkeiten, den unterdes der Hausknecht aus dem »Löwen« gebracht, mußte Friederike vor den Augen der Hausfrau öffnen, und die äußerst sauber gehaltene, kleine Garderobe, welcher der Hauch eines sehr feinen Odeurs entquoll, sofort auf einen offenen Gang zum Auslüften hängen ... Hiermit begann und beschloß sie die ihr aufgedrungene Fürsorge für das »Spielerskind«, und als sie danach wieder in das Zimmer trat, war sie mit diesem Kapitel innerlich fertig für alle Zeiten. Nur ein einziges Mal schien es, als ob ein Funke Teilnahme in ihr aufglimme. Eines Tages nämlich saß eine Nähterin im Wohnzimmer und fertigte aus einem dunklen Stoffe zwei Kleider für Felicitas, genau nach dem strengen Schnitte, wie die Frau des Hauses sich trug. Zu gleicher Zeit preßte Frau Hellwig die widerstrebende Kleine zwischen ihre Kniee und bearbeitete deren Kopf so lange mit Bürste, Kamm und Pomade, bis das wundervolle Lockengeringel die erwünschte Glätte und Nachgiebigkeit erhielt und sich in zwei häßliche, steife Zöpfe am Hinterkopfe zwängen ließ ... Die Abneigung dieses Weibes gegen Grazie und Anmut, gegen alles, was wider die Gebote ihrer verknöcherten Ansichten stritt, und was seine Linien und Formen aus dem Gebiete des Idealen entnahm – jener Widerwille war stärker noch als ihr Starrsinn, als der Vorsatz, die Anwesenheit des Kindes im Hause völlig zu ignorieren ... Hellwig hätte weinen mögen, als ihm sein kleiner Liebling so entstellt entgegentrat, während seine Frau nach der Sühne, die ihr schönheitsfeindlicher Sinn gebieterisch verlangt hatte, womöglich noch zurückweisender gegen das Kind war als vorher.

 

Noch war indes die Kleine nicht zu beklagen; noch konnte sie aus dem Bereiche jener Medusenaugen an ein warmes Herz flüchten – Hellwig liebte sie wie seine eigenen Kinder. Freilich fand er nicht den Mut, dies offen auszusprechen, – seinen Fonds von Energie hatte er an jenem ereignisvollen Abende seiner Frau gegenüber völlig erschöpft – aber sein Auge wachte unablässig über Felicitas. Gleich Nathanael hatte sie ihr Spielwinkelchen in ihres Pflegevaters Zimmer; dort durfte sie ungestört ihre Puppen herzen und sie einwiegen mit den Melodien, die sie noch gelernt hatte auf den Knieen der Mutter. Nathanael ging nicht in die öffentliche Schule; er erhielt seinen Unterricht von Privatlehrern unter den Augen des Vaters, und als Felicitas ihr sechstes Jahr erreicht hatte, begann dieser Unterricht auch für sie. Sobald aber der Schnee schmolz und Krokus und Schneeglöckchen die noch leeren, schwarzen Rabatten besäumten, wanderte Hellwig täglich mit den Kindern hinaus in seinen großen Garten; da draußen wurde gelernt und gespielt, während man nur zur Essenszeit das Haus am Marktplatze aufsuchte. Frau Hellwig betrat sehr selten den Garten; sie zog es vor, mit dem Strickstrumpfe in ihrer großen, stillen Stube, hinter dem makellos weißen, in regelrechte Fältchen gebrochenen Fenstervorhange zu sitzen, und zu diesem Vorzuge hatte sie einen ganz besonderen Grund. Ein Vorfahr Hellwigs hatte den Garten in altfranzösischem Stile angelegt. Es war sicher eine Meisterhand gewesen, von welcher die rings verteilten, lebensgroßen mythologischen Figuren und Gruppen aus Sandstein herrührten. Freilich hoben sich die hellen Gestalten scharf ab von den düsteren, steifen Taxuswänden. Die reizenden, aber ziemlich unverhüllten Formen einer Flora, die entblößten zarten Schultern und Arme der sich sträubenden Proserpina und die muskulöse Nacktheit ihres gewaltigen Entführers mußten den Blick des Eintretenden sogleich auf sich ziehen – und das waren in der That Steine des Anstoßes für Frau Hellwig. Sie hatte anfänglich die Hinwegschaffung dieser »sündhaften Darstellung des menschlichen Leibes« gebieterisch verlangt, allein Hellwig rettete seine Lieblinge durch Vorzeigung des väterlichen Testaments, in welchem ausdrücklich die Entfernung der Statuen untersagt wurde. Hierauf hatte Frau Hellwig nichts Eiligeres zu thun, als zu Füßen der mythologischen Zankäpfel eine Wildnis von Schlingpflanzen anlegen zu lassen, und nicht lange dauerte es, so erschien Herrn Plutos grimmiges Gesicht unter einer ehrwürdigen, grünen Allongeperücke. Eines schönen Morgens aber riß Heinrich auf Befehl seines Herrn mit einem wahren Wonnegefühl die grünen Schmarotzer bis auf das kleinste Wurzelfäserchen aus der Erde, und seit der Zeit vermied es Frau Hellwig im Interesse ihres Seelenheils, noch mehr aber darum, weil die Statuen hohnlächelnde Zeugen ihrer Niederlage waren, den Garten zu betreten. Gerade deshalb wurde er aber auch die eigentliche Heimat der kleinen Felicitas.

Hinter den großen Taxuswänden dehnte sich ein großer, prächtiger Rasenfleck. Riesige Nußbäume senkten die Stämme tief ein in das blumengesprenkelte Gras, und ein rauschender Mühlbach durchschnitt zum Teil die grüne Fläche; seine Borde umsäumte dichtes Haselgesträuch, und der kleine beraste Damm, den man zum Schutze gegen das im Frühling reißende Gewässer aufgeworfen hatte, schimmerte im Mai gelb von Schlüsselblumen, und später lugten die rosenroten Aeuglein der Feldnelken zwischen den wehenden Halmen.

Felicitas lernte unermüdlich und saß mit merkwürdig beherrschter Haltung in den Lehrstunden. Wenn aber Hellwig am späten Nachmittage den Unterricht für beendet erklärte, dann erschien sie plötzlich völlig umgewandelt. Noch hochrot vom Lerneifer, war sie doch wie toll, wie berauscht von der Freiheit: sie konnte immer und immer wieder mit hochgehobenen Armen, wie ohne Zweck und Ziel, über den Rasenplatz jagen, ungebändigt, in wilder Grazie, wie das junge Roß der Steppe. Dann glitt sie blitzschnell am Stamme eines Nußbaumes empor, tauchte den Kopf, umwogt von aufgelösten Haarmassen, jauchzend aus der höchsten Spitze des Wipfels und lag dann plötzlich wieder drunten am Mühlbache; die gefalteten Hände unter den Kopf gelegt und in das grüne Düster der droben leise auf und ab wehenden gefiederten Nußblätter schauend, träumte sie, träumte jene hellen, trügerischen Gebilde von Welt und Zukunft, die sich wohl hinter jeder lebhaft denkenden Kinderstirne aus gehörten goldenen Märchen und der eigenen Einbildungskraft zusammenweben ... Drunten rauschte das Wasser eintönig vorüber; die Sonnenstrahlen taumelten auf den Wellen und drangen gedämpft durch die dunklen Haselbüsche wie halbverschleierte, geheimnisvolle Glutaugen; Bienen und Hummeln summten vorüber, und die Schmetterlinge, die, im Vordergarten gelangweilt, die sorgfältig gepflegten exotischen Gewächse umflattert hatten, fanden hier das gelobte Land und hingen sich furchtlos an die Blumenkelche dicht neben der Wange des kleinen Mädchens ...