Maiglöckchen-Blues

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Maiglöckchen-Blues
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Ernst von Wegen

Maiglöckchen-Blues

Vom Duft der kleinen, weiten Welt

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Maiglöckchen-Blues

I

I - 1

I - 2

I - 3

I - 4

I - 5

I - 6

II

II - 1

II - 2

II - 3

II - 4

II - 5

II - 6

III

III - 1

III - 2

III - 3

III - 4

III - 5

III - 6

III - 7

IV

IV - 1

IV - 2

IV - 3

IV - 4

IV - 5

IV - 6

V

Impressum neobooks

Maiglöckchen-Blues

Ernst von Wegen

Roman

Anmerkung des Autors

Die Handlung und sämtliche Personen sind ebenso frei erfunden wie alle gewerblichen und öffentlichen Institutionen. Manche von ihnen sind jedoch angelehnt an reale Wesen oder Einrichtungen. Diese sind so nah am Original, dass sie erkennbar bleiben, doch so weit verfremdet, dass sie als fiktiv gelten müssen.

Die Figuren sind mit Namen ausgestattet, wie sie im Weserbergland häufig zu finden sind. Deshalb sind Ähnlichkeiten unvermeidlich, aber nicht beabsichtigt.

I

Proömium

Holzminden ist nicht Berlin. Holzminden ist eine Kleinstadt, die im beschaulichen Weserbergland ums nackte Überleben kämpft. In diesem Sinne ist sie Berlins kleine Schwester vom Lande.

In diesem Sinne ist Holzminden auch die kleine Schwester Gelsenkirchens, Athens oder Kairos. Weltweit kämpfen kleine und große Städte ums nackte Überleben. Schiere Größe schützt nicht mehr. Provinz gibt es auch nicht mehr. Das Stadt-Land-Gefälle von Technik, Bildung und Kultur ist im Zeitalter des Internets eingeebnet. Die großen und die kleinen Städte der Welt kämpfen alle in derselben Arena des Global Village, jede auf ihre Art, jede mit ihren Möglichkeiten. Und in ihnen kämpfen die Menschen täglich um ihren Platz in der Stadt, um ihren Platz im Leben. Holzminden ist Kairo, ist Gelsenkirchen, ist Athen, ist Berlin.

I - 1

Der schwere Duft von Maiglöckchen zog durch die kleine Stadt, die in ihrem gewohnt unruhigen Schlaf lag. Es schien, als wolle sie kurz ihre plattgelegenen Glieder strecken, als wolle sie einen dickflüssigen Traum abschütteln, sich auf die andere Seite drehen, um gleich darauf wehrlos im Morast des nächsten zähen Traumes zu versinken.

Wie erfrischend war es, durch diese träge, duftschwangere Kühle zu gehen!

Allein die Zeit schien es eilig zu haben, mit sanftem Druck trieb sie das hauchzarte Morgenlicht durch die Gassen der schlafenden Stadt. Und wäre Odos Vorhaben nicht an die Zeit gebunden gewesen, hätte er sich gerne noch eine Weile untätig dieser honigzähen Kleinstadtruhe hingegeben. Wollte er aber seinen Schuss heute machen, musste er sich beeilen, morgen schon sollte das Wetter ganz anders sein.

Kupferne Schlangen spien die immergleiche, abgestandene Brühe in den buntsandsteinernen Marktbrunnen, das Glucksen und Plätschern des Wassers täuschte Frische vor. Am Fuße des Brunnens hingen einige übernächtigte Jugendliche herum wie sterbende Schmetterlinge, jedoch stolz auf ihre erste durchzechte Nacht - auf einem Tanz in den Mai? In einer Disco? In einem verruchten Partykeller, wer weiß? Hin und wieder zuckte Leben durch die erschöpften Körper. Der Lebendigste unter den Nachtfaltern dirigierte zum gemeinsamen Aufbäumen gegen die Schwerkraft des Schlafes. Er stellte sich in Rapper-Manier hin, spreizte die Finger und gab mit Zischlauten einen Groove vor. Einer nahm den Faden auf und stimmte den Megahit des Jahres an. Andere folgten ihm, doch ihre müden Zungen konnten dem Tempo nicht folgen: was als frecher Hip-Hop starten wollte, erstarb kläglich nach nur wenigen Zeilen.

Das offene Fenster über dem Weser Landcafé füllte eine robuste Frau, auf ihre massigen Unterarme gestützt. Missmutig verfolgte sie das Geschehen. Noch in den Ausklang des absterbenden Hip-Hops rief sie mit schneidender Stimme:

- Ist nun endlich Ruhe, oder muss ich die Polizei rufen?

Die jungen Leute winkten müde ab:

- Ist gut, Oma Eilers, wir sind gleich weg!

Die Alte schloss das Fenster und zog sich in die Hoffnung auf ein wenig Restschlaf zurück.

- Hey Odo, komm und trink einen mit uns, rief einer der Übernächtigten und pendelte eine halbleere Bierflasche zwischen Daumen und Zeigefinger. Seine brüchige Stimme rebellierte gegen die Müdigkeit, er kämpfte um sein schwindendes bacchantisches Hochgefühl und suchte nach einem würdigen Abschluss einer historischen Nacht; denn so viel war klar: diese noch nicht ganz vergangene Nacht war eine dieser Weißt-Du-Noch-Nächte von denen man sich ein Leben lang erzählt.

‚Wer erkennt mich denn da‘, fragte sich Odo Blume, ‚wo nicht einmal Pina mich wiedererkannt hat? Als ich von hier wegging, waren diese Kinder noch gar nicht geboren‘.

- Wer bist du? Woher kennst du mich?

- Ich bin Jan-Torben. Du bist mit meinem Alten zur Schule gegangen...

Der Junge hielt kurz inne. Nüchtern hätte er den Mann niemals mit dem vertrauten Du angesprochen. Doch der Alkohol und die durchwachte Nacht hoben ihn hoch zu den Erwachsenen. Odo verzog fragend das Gesicht.

- Jo Sagebiel, er hat viel von dir erzählt. Spricht sich eben rum, dass du wieder im Lande bist. Komm, lass uns einen trinken.

Joachim Sagebiels Sohn? Kurz erschreckte ihn der Gedanke, er könnte selbst schon erwachsene Kinder haben. Ohne eigene Kinder verharrt ja ein Teil von uns in permanenter Jugend. Die Physik zieht den Körper ins Alter, die Kinder schieben den Geist hinterher. Oder die Seele. Irgendwas jedenfalls scheint ohne eigene Kinder zurückzubleiben. Aus dem Gesicht dieses Milchbarts grüßte dunkel die Vergangenheit. Blanker Stahl durchbohrte Odos Brust: Schultern hochziehen, Wirbelsäule strecken, langsam und unauffällig einatmen, Luft kurz anhalten, langsam wieder ausatmen! So ließ gewöhnlich der stechende Schmerz bald wieder nach.

- Ein andermal gern sagte Odo knapp, der Nebel wartet nicht!

Der Milchbart stutzte:

- Hä? Wie meinst‘n das?

Odo hob seine Fototasche:

- Hier! Schnappschüsse, alles klar?

- Alles klar, der Nebel wartet nicht, sagte Jan-Torben Sagebiel und stieß ein erzwungenes Gelächter aus, irre und dämlich wie nur Besoffene es hervorbringen können:

- Hehehe, nicht wahr Freunde, Nebel und schöne Frauen sollte man nicht warten lassen, hehehe!

Odo hatte seinen damaligen Freund noch nicht wieder gesehen. Er hatte bislang nicht das geringste Bedürfnis, die alten Kontakte wiederzubeleben. Holzminden sollte eine Stadt wie jede andere sein. Ein Ort, den man aufsuchte, um etwas zu erledigen. Dass er zufällig hier aufgewachsen war, sollte keine Rolle spielen. Keine Bindung an eine Zeit, keine Bindung an einen Ort! Gebunden war man bloß an seine Aufgabe. Damit hatte er zwanzig Jahre lang gut gelebt, warum sollte er das aufgeben?

 

Am Ende der Weserstraße zeigte sich noch ein zarter Hauch von Morgennebel über dem Fluss. Es wurde rasch hell, fast zu rasch. ‚Ich hätte das Fahrrad nehmen sollen‘, dachte Odo und beschleunigte seinen Schritt. Seine Kameratasche, das Stativ, sein Bauchansatz und die Speckschicht des Oberkörpers hüpften im Rhythmus mit, als wollten sie sich vom Körper lösen. Odo hielt die Tasche und das Stativ fest, das Fett schwabbelte weiter. ‚Ein bisschen Sport wäre gut. Sobald sich in der Agentur die vielen Neuerungen etabliert haben, werde ich wieder ein wenig Sport machen‘, nahm Blume sich fest vor. Wie jedes Mal, wenn er sich körperlich anstrengen musste. Bisher fand sich immer was, das dem Sport in die Quere kam.

Senile Bettflucht trieb einen krummen Alten auf die Weserbrücke. Ist das nicht bitter? Das ganze Arbeitsleben lang träumt man davon, endlich ausschlafen zu können und im Alter jagen dich dann die schmerzenden Glieder und dumme Träume aus dem Bett. Die Krücke des Alten pochte im unrhythmischen Takt seines schleifenden Schrittes.

‚Sieht eher aus wie ein Hotel und nicht wie ein Altenheim‘, dachte Blume und sah bewundernd auf das stattliche Gebäude, das wie ein Brückenkopf am Stadtufer stand. Als er vor 20 Jahren Holzminden verlassen hatte, war das noch ein hässlicher Rohbau gewesen, der kurz zuvor im Hochwasser abgesoffen war. Schürmannbau hatte man die Ruine scherzhaft genannt. Die Kleinen nehmen sich gerne Anleihen von den Großen. Der große Schürmannbau hatte in der einstigen Bundeshauptstadt Bonn gestanden, benannt nach dem Architekten und genauso hoffnungslos im Hochwasser stehend wie der kleine Holzmindener Bruder. Niemand hatte damals geglaubt, aus den beiden Ruinen könne überhaupt noch was Brauchbares werden. Damals donnerten noch all die stinkenden Lastwagen über die Brücke und quetschten sich dröhnend durch das enge Herz der Stadt. Es hat sich so viel verändert hier. Weserabwärts ragte der Bogen der neuen Brücke aus dem Nebel, die nun den Durchgangsverkehr um die Stadt herumführte. Das war noch nicht sein Schnappschuss, aber Brücken, die aus dem Nichts ins Nichts führen, sind ob ihrer vieldeutigen Botschaft auf Kalendern oder Ansichtskarten immer wieder gern gesehen. Odo packte seine Kamera aus, legte sie am Brückengeländer auf und nahm den Schuss als Zugabe mit.

Nun aber schnell weiter!

Er musste noch am ehemaligen Sägewerk vorbei, das früher sein geschäftiges Durcheinander geschickt hinter Büschen und Bäumen verborgen hatte. Mittlerweile waren die Büsche und Bäume weg und an Stelle des alten, maroden Gebäudes strahlte eine gepflegte Tischlerei mit dem sinnigen Namen Specht Stil und Kompetenz aus. Daneben lag noch ein Haus und dahinter dann die Wiese und in ihrer Mitte die gesuchten Bäume. Odo erkannte Obstbäume nur an ihren Früchten. Davon aber war man noch weit entfernt. Gerade erst waren die Blüten abgefallen und die Blätter staken noch ihn ihren Knospen. Die Bäume standen also noch nackt bis aufs Skelett und reckten ihr bizarres Ast- und Zweigwerk eitel in den Morgennebel. Dieser Anblick hatte etwas Intimes, man konnte den Bäumen in ihr Inneres blicken, ehe sie ihr Geheimnis in dichtgrünes Blattwerk hüllten. Er stieg über den Zaun und rannte über die Wiese, so schnell Ausrüstung und Körperfett es zuließen, denn jeden Augenblick konnte die Sonne hinterm Kratzeberg hochkriechen und das mystische Motiv zerstören. Hastig stellte er sein Stativ auf und schraubte die Kamera dran. Mit geübtem Blick justierte er das Gerät, stellte es tiefer und kippte die Kamera leicht nach hinten. Da stand nun der Pflaumenbaum (so vermutete er) mit seinen zielstrebig nach oben gereckten Ästen und der knorrige Apfelbaum (oder war es ein Kirschbaum?) stand geduckt links daneben. Der Apfel- oder Kirschbaum sah aus, als hätte seine verdrehte Krone sich nie richtig entscheiden können, wohin sie eigentlich hatte wachsen wollen: mal hierhin; nein, doch wieder andersrum; dann wieder ganz anders, gerade wie es sich ergab. Warum war ihm der zufallsorientierte Apfel- oder Kirschbaum sympathischer als die geradlinige Pflaume? Egal, nur gemeinsam ergaben sie dieses faszinierende Ensemble. Ihr schwarzes Geäst, ihr filigranes Gezweige zeichnete sich kontrastreich vom weißen Dunst ab. So hatte er es gestern zufällig entdeckt und so wollte er es haben! Odo spielte mit Blenden und Belichtungszeiten und schoss ganze Serien ab. Über dem flachen, seidigen Nebelschleier, der die Weser bedeckte wie eine schlafende Frau, war der Himmel schon zur Hälfte in Rosa getaucht. Odo drehte sein Objektiv in die Totale, von links schob sich der Brückenbogen ins Bild. Er drehte zurück, bei etwa 28 mm verschwand die störende Brücke wieder. Nahezu perfekt, aber eben nur nahezu. Während er noch überlegte, was dem Bild fehlte, fiel ihm auf: Im Gegenteil es war zu viel. Ein Himmel halb in Flammen und darunter ein Idyll das an Kitsch grenzte, obwohl Odo sich immer wieder sagte: Die Natur kennt keinen Kitsch! Kitsch ist eine rein menschliche Erfindung. Er kippte die Kamera, so dass die Morgenröte verschwand und das filigrane Geäst im milchigen Nebelweiß wie eine Skulptur an der Grenze zwischen Leben und Tod verharrte. In dieses rauschhaft-schöne Bild fügte sich stimmig der penetrant-bittersüße Geruch der Maiglöckchen - ein Konglomerat aus Ästhetik, Erotik und tödlichem Gift! Odo sog die Luft gierig ein wie einen Joint. Der betäubende Duft kam aber nicht von lebendigen Blumen, sondern von der Fabrik am anderen Ende der Stadt. Man produziert hier rund um die Uhr Duft- und Aromastoffe für die ganze Welt. Holzminden ist und nennt sich: die Stadt der Düfte! Manchmal riecht es überall nach Erdbeereis, ein andermal zieht eine Zwiebelwolke oder der Hauch von Menthol in alle Windrichtungen. Am 1. Mai nun ausgerechnet Maiglöckchen: ein betörender Zufall.

Nun schob die Sonne ihre glühende Krone hoch. In ihren Lichtlanzen glitzerten die Nebeltröpfchen ihrer Auflösung entgegen. In wenigen Minuten zog die Sonne der schlafenden Weser die watteweiche Decke weg, die nun nackt und schamlos, träge und fröstelnd in ihrem Bett lag. Nur im langen Schatten des hässlichen Getreidesilos hielt sich noch eine weiße Schwade, durch die zwei Pferde galoppierten, verunsichert vom Fotografen oder auch nur aus morgendlichem Bewegungsdrang. Blume riss Kamera samt Stativ an sich, stellte auf „Dauerfeuer“ und hielt auf die Pferde. Das rasche Klicken der Kamera klang wie Jazzbesen, die auf ein Schlagzeug prasselten, begleitet vom exaltierten Gesang einer einzelnen Feldlerche und vom dumpfen Basso Sostenuto des Hufgetrappels.

- Yeah!

Solche Geschenke bekam man nur selten. Blume sah auf das Display und nickte hochzufrieden. Wenn er den hässlichen Getreidespeicher am oberen Bildrand wegschnitt, blieben ihm zwei Pferde, die durch eine Wolke galoppierten: Pegasus und Partner.

Er liebte dies absichtslose Arbeiten. Keine Werbebotschaft, keine Website, für die ein Bild gefunden oder geschaffen werden musste, sondern Bilder die für sich selber standen, Bilder, die sich ihren Zweck aussuchen durften: Kalender, Postkarte, Dekofoto, Bildband, oder, völlig zweckfrei: Kunst. Auf diese Weise hatte er sich schon ein stattliches Archiv geschaffen, aus dem er einige seiner besten Arbeiten gespeist hatte. Der Ordner „Kunst“ jedoch war beinah etwas Heiliges. Hierin sammelte er nur Bilder, die auch aus seinem Inneren hätten stammen können. Bilder, die er hätte malen wollen, hätte er zu malen vermocht. Aber er war nur Fotograf und daher auf den Zufall angewiesen, der ihm solche Wunschbilder lieferte. Hochzufrieden packte er seine Kamera in die Tasche.

Häufig, wenn Odo Auto fuhr, fiel ihm plötzlich etwas ins Auge - ein Haus, ein Baum, ein Berg, eine Brücke oder sonst was - in einem ganz bestimmten Licht - und wusste noch im selben Augenblick: das musste er so fotografieren, von dieser Perspektive, zu dieser Jahreszeit, bei diesem Wetter und in diesem Licht! Weil er schon zu viele solche „optischen Geschenke“, wie er sie nannte, nicht eingelöst hatte, notierte er mittlerweile Zeit, Ort und Motiv, um irgendwann den Shot zu machen. Dennoch konnte er nur wenige solcher Schüsse tatsächlich verwirklichen, weil er beispielsweise nicht wieder in diese Gegend kam oder Zeit, Licht und Stimmung nicht mehr passten. In seltenen Fällen fand er die Stelle einfach nicht mehr.

Die beiden Bäume im Morgennebel draußen vor der Stadt hatten allerdings nicht mehr gekostet, als früh genug aufzustehen. Und das war kein Problem. Blume unterteilte sein Leben nicht, wie andere Leute, in Tag und Nacht, Arbeit oder Freizeit, Sonn- oder Wochentag. Er arbeitete, wann er Lust hatte, also fast immer, und er schlief wenn er müde war, also selten vor Mitternacht und kaum länger als fünf, sechs Stunden.

Nun hatte er im Kasten, was er hatte einfangen wollen, sogar noch einige kleine Zugaben, eine gute Ausbeute, doch der Tag war einfach zu jung und das Licht zu klar, um nach Hause zu gehen. Er klappte das Stativ nur zu, warf es auf die Schulter und überlegte, wo er fußläufig die besten Motive in dieser Tageszeit finden könnte.

I - 2

Ausgerechnet am Tag der Arbeit wurde nicht gearbeitet - Burkhardt Mahlmann fand das kurios, schon immer. Für ihn persönlich hieß das nichts weiter, als dass er an diesem Donnerstag keine Zeitungen auszutragen hatte. Nach alter Gewohnheit stand er trotzdem genauso früh auf wie immer. Das lautstarke Amselkonzert vor seinem Fenster ließ ihn ohnehin nicht mehr schlafen. Entgegen alter Gewohnheit rasierte er sich noch, ehe er aus dem Hause ging. So machte er den Donnerstag zum Feiertag. Das Frühstück verkniff er sich noch, die Vorfreude war schließlich genauso schön, wie das Frühstück selber. Sein scharfes Rasierwasser prickelte auf der geröteten Haut. Der kühle Ostwind verstärkte die wohltuende Frische. Ein Ziehen in der linken Hüfte kündigte einen Wetterumschwung an. Sein verschlissenes Gelenk war verlässlicher als manche Vorhersage von den Wetterfröschen im Fernsehen.

Von der Gaststätte Allersheimer Tor, in deren Dachgeschoss er eine winzige Wohnung hatte, radelte er gemütlich stadtauswärts, sein kleiner Anhänger, in dem sonst die Stapel mit den Tageszeitungen lagen, hoppelte über die Unebenheiten im Radweg. Die Wurzeln der Alleebäume drückten immer wieder den Asphalt hoch. Mahlmann kannte jeden Riss und jeden Huckel und steuerte sein Fahrrad durch dieses graue Wellenmeer wie ein erfahrender Kapitän. Nach dem Blauen Würfel, wie das Schulzentrum genannt wurde, bog er rechts ab in die Liebigstraße und nach der Baumschule fuhr er links rein, die Heusingerstraße entlang. Das war sein Lieblingsweg: an den Schrebergärten und am Reitstall vorbei, dann mitten durch die Feldmark mit Blick auf den sanften Bergrücken des Solling, dessen Waldrand von Äckern und einem Truppenübungsgelände der Bundeswehr nach oben gedrängt wurde. Im „grünen Halbjahr“ begann er seine Zeitungstour in der Dr. Jasper-Straße und arbeitete sich über den Grimmenstein bis zur Liebigstraße vor, um dann, wenn er die letzte Zeitung im Kasten der Baumschule versenkt hatte, eben jenen Abstecher durch die Felder zu machen. Die Macht der Gewohnheit zog ihn auch an diesem 1. Mai 2014 zum Briefkasten, bis er merkte, dass er heute gar nichts einzustecken hatte. Mahlmann lachte über diesen Reflex, der ihm wieder mal zeigte, dass ihm Pflichtbewusstsein noch immer über das Vergnügen ging.

Bis hin zu den Schrebergärten standen Wahlplakate. Europa-Wahl, Holzminden wählte zusätzlich noch den Bürgermeister, diesmal vielleicht sogar eine Bürgermeisterin. Eine Kanzlerin haben wir schon, eine Landrätin auch, irgendwann ist alles in Weiberhand, dachte er, der eingefleischte Junggeselle. Aber gut, wenn sie es denn besser machten als die Kerle, warum nicht? Im Zuge des Wahlkampfs kündigte ein Plakat prominenten Besuch aus Berlin an: ein Spitzenmann der Linken wollte am Tag der Arbeit in Holzminden sprechen. ‚Reden können die alle gut‘, dachte Mahlmann, ‚aber eine richtige Arbeit hat mir das bis heute nicht gebracht‘.

Buck - so nannten ihn alle, das spielte auf seinen Sprachfehler an - Buck Mahlmann hatte immer gerne gearbeitet. Viele Jahre lang war er Faktotum in der nahen Brauerei Sollinggold gewesen. Bis die Brauerei vor zehn Jahren den Besitzer gewechselt hatte. Der neue Besitzer brauchte kein Faktotum mehr. Auch niemand sonst in der Gegend brauchte einen ungelernten Fünfzigjährigen, der lispelte, Konsonanten zwischen den Lippen zerquetschte und in Erregung auch noch stotterte. Nur die Tageszeitung hatte Verwendung für ihn. Ein dickes Lob zum Dienstjubiläum: Immer pünktlich gewesen! Nicht einmal krank gewesen in den zehn Jahren, Respekt! In Burkhardts Augen war das Austragen von Zeitungen gar keine richtige Arbeit, es machte ja nicht müde. Aber gebraucht zu werden, war schön. Kein pflichtbewusster Mensch kann ganz ohne Aufgabe und völlig nutzlos in den Tag hineinleben. Da wird einer doch rammdösig bei, oder nicht?

 

Von Montag bis Sonnabend holte er seinen Stapel direkt beim „Holzmindener Anzeiger“ in der Bülte, warf ihn in seinen Fahrradanhänger und mäanderte - im „grauen Halbjahr“ - von der Liebigstraße über den halben Grimmenstein, Fröbelstraße, Braunschweiger Straße, usw. bis zur Dr. Jasper-Straße. Im „grünen Halbjahr“ aus erwähnten Gründen andersrum.

Die Felder hinter der Baumschule und dem Liebigstadion waren noch größtenteils kahl, während drüben unterm Beveraner Burgberg schon die Rapsfelder leuchteten als verfügten sie über eine eigene Lichtquelle. Eine Amsel flog aus dem Gebüsch und flatterte zeternd vor ihm her. Weiter hinten, gut versteckt, antwortete eine Singdrossel vielstimmig-melodiös. Die unscheinbaren Amseln mit ihrem schlichten Geschrei hüpfen einem immer vor den Augen herum. So wollen die Vögel mögliche Feinde vom nahen Nest weglocken. Ihre begabte Kollegin, die Singdrossel dagegen bekommt man kaum zu Gesicht. Scheues Künstlervolk, das gibt’s also auch bei den Vögeln. Weit oben flog ein Reiher von der Weser her, vermutlich ins Hasselbachtal zum Frühstück. Links, hoch über den Feldern schmetterte eine einsame Lerche ihre Sehnsüchte nach einem Partner in den glasklaren Morgenhimmel - es ist so wenig, was die Lebenden treibt, doch das Wenige ist stark und mächtig: der leere Magen und der volle Sack, sie alleine schreiben uns all die schönen Lieder und Geschichten. Ja, Burkhardt Mahlmann kannte das Leben und deshalb fürchtete er es nicht.

Im Glück nicht jubeln, im Leid nicht klagen,

das Unvermeidliche mit Würde tragen.

Das hatte ihm sein Vater ins Poesiealbum geschrieben. Da war Bucki zehn gewesen. Das hatte er sich gemerkt, bis heute. Das Leben gab ihm wenige Möglichkeiten zu jubeln. Grund zu klagen hatte er keinen. Ein wahrhaft würdevolles Leben führte er.

An der Brücke, die den Wirtschaftsweg über die Umgehungsstraße führte, stoppte Buck und stieg vom Rad. ‚Das müsste Wolfgang sehen‘, dachte er, ‚das würde er malen wollen‘. Mahlmann bewunderte die Hobby-Maler der Gegend und besuchte jede Ausstellung des Kunstkreises Holzminden. Die Abstrakten sagten ihm nichts, aber die Landschaftsmalereien liebte er. Buck hätte gerne selber gemalt, allein, ihm fehlte das Talent. Er hatte es versucht - für sich im stillen Kämmerlein und in Zeichenkursen der Volkshochschule, doch seine groben Pranken gehorchten ihm nicht. Arbeiterpranken eben. Muss man mit leben. Dennoch sah er die schönen Seiten der Welt durchaus mit dem Blick eines Malers und gab den Begabteren gerne Hinweise auf schöne Motive. Was Buck an diesem ersten Mai an dieser Stelle so gefiel, war der Weißdornbusch, der seine schneeflockengleichen Blüten in das knallige Gelb des Rapsfeldes auf der anderen Straßenseite hineinstreckte. Er sog den herben Rapsblütenduft ein, den der leichte Ostwind ihm direkt in die Nase trieb. Roch ein bisschen wie Schweißfüße, der Raps, sagte er immer, aber der wunderschöne Anblick tröstete über den Geruch hinweg. Der verschwenderische Frühling trägt eben gerne dick auf. Kurz überlegte Mahlmann, geradeaus weiter zu fahren, entschloss sich aber, wie immer links runter den Radweg zu nehmen, der in einigem Abstand zur Umgehungsstraße durch die Büsche führte. Weiter unten dann der offene Blick zur Brauerei Sollinggold. War über 25 Jahre lang sein zweites Zuhause gewesen, der Laden. Alles hatte er gemacht, ohne zu murren, ohne auf Überstunden zu achten. Leider zählt heute nur noch, was mit dem Rechenstift erfassbar ist. Die gute Seele eines Betriebes erfasst der Rechenstift nicht. Bucks versöhnliches Wesen, das so manchen Streit geschlichtet hatte, erfasste er auch nicht; seinen unerschütterlichen Optimismus, der so manchem Morgenmuffel auf die Sprünge half, erfasste der Rechenstift nicht. Auch nicht seine Hilfsbereitschaft. Und auch das neue kühle Arbeitsklima und die Angst um den Arbeitsplatz, die sich mit dem Führungswechsel eingeschlichen hatten, fanden keinen Eingang in die Zahlenkolonnen. Nur die Abfindung, die man ihm als Trostpflaster über die Seelenwunde geklebt hatte, die drei Monatsgehälter extra, die fanden sich als soziales Feigenblatt in den Büchern wieder und als Großzügigkeit in den Köpfen der neuen Geschäftsleitung.

Über die Jahre hinweg hatte er sich daran gewöhnt, nicht mehr gebraucht zu werden - glaubte er. Es war ein wackeliger Glaube. Ein wenig wie das Ziehen in der Hüfte: wenn man es gerade nicht spürt, glaubt man es überwunden. Nicht gebraucht zu werden, war schon schlimm genug, noch schwieriger aber war es, sich nicht als Schmarotzer zu fühlen. Immer wieder musste er sich von neuem einreden:

- Ich will ja was tun, aber sie lassen mich nicht! Wenn der Staat mir keine Arbeit geben kann, muss er mir wenigstens zu essen geben - sonst muss ich betteln, oder gar stehlen.

Nur so war’s auszuhalten. Er hatte ausreichend zu essen, er hatte ein Dach über dem Kopf und er hatte ein warmes Bett. Brauchte einer mehr? Er nicht! Seine Genügsamkeit und sein jederzeit abrufbarer Arbeitswille bildeten einen Schutzwall, an dem er jeden Tag baute und flickte. So konnte er leben, ja sogar verhalten genießen: den Frühling, die Sonne, die klare Luft, den nach Schweißfüßen riechenden Raps. Noch ein kurzer, wehmütiger Blick hinüber zur Brauerei, dann bog er am Bültekreisel links ab und fuhr zurück in die Stadt. Nach Hause. Frühstücken. An der Bülte-Kreuzung stieg er brav vom Rad, weil er von vorne einen Streifenwagen kommen sah. Dort hatten sie ihn vergangenen Montag erst vom Rad geholt, die Brüder. Ausgerechnet der Warnecke und so ein junger Hilfssheriff, neu in der Stadt. Der hatte ihm unbedingt zeigen müssen, was er schon gelernt hatte:

- Was steht da, bitte?

Und Mahlmann hatte, wie ein Schuljunge, vorlesen müssen:

- R-Radfahrer a-abteigen! I-I-Ich kann lesen, Bolfgang, dag doch was!

Polizeihauptmeister Wolfgang Warnecke hatte nur vieldeutig das Gesicht verzogen, er ließ den Jungen gewähren. Mahlmann hatte noch nachgeschoben:

- W-War doch aber Grün. Und is doch w-weit und breit kein M-Mensch tu sehen, kein Auto, n-nix!

Da hatte der junge Polizist gesagt, man könne die Gesetze nicht nach Tageszeit oder Verkehrsaufkommen variabel auslegen, das führe geradewegs ins Chaos. Nein, man müsse - JEDER - müsse die bestehenden Vorschriften buchstabengetreu einhalten,

- ...verstehen Sie: buchstabengetreu!

Dabei hatte der junge Polizist genüsslich mit seinem Finger auf das Schild getippt.

- Die Dinger hängen nicht zum Spaß da! Heute will ich nochmal ein Auge zudrücken, das nächste Mal sind vierzig Euro fällig.

Der Staat gibt, der Staat nimmt.

- Ich zahle pünfzig, wenn Sie mir eine A-A-Arbeit geben.

Der junge Polizist hatte ihn verständnislos angeglotzt. Das alte Zuständigkeitsproblem: jeder ist der Staat, aber zuständig fühlt sich jeder nur für sich selbst.

Und nun sah Burkhardt Mahlmann eben jenen jungen Polizisten aus dem Auto winken, als wolle er ihm sagen: Bitte, geht doch! ‚Wichtigtuer‘, dachte Buck und lächelte betont freundlich zurück. Dabei machte er einen kleinen Schlenker mit dem Rad, der Blick zur Seite und ein gleichzeitiger Stich in der Hüfte verleiteten ihn dazu. Es machte den Eindruck, er sei betrunken. Doch Mahlmann hatte sich schnell wieder im Griff. Am anderen Ende der Kreuzung, wo der Radweg aus Allersheim auf den aus der Liebigstraße stieß, stieg er wieder auf sein Rad und fuhr erwartungsfroh auf sein Frühstück zu. Nun, da der Streifenwagen weg, und sein Respekt vor dem forschen jungen Beamten verflogen war, dachte Mahlmann: ‚Heute hätten sie anhalten müssen, da konnte ich Wolfgang gleich den Tipp geben.‘

Mindestens drei Anregungen Mahlmanns hatte der Hobbymaler Wolfgang Warnecke schon verwertet und auch andere nahmen seine Hinweise dankbar an. Etliche Bilder hatten ihre Existenz nur Bucks geübtem Auge zu verdanken. Also durfte er sich dem Kunstkreis Holzminden durchaus ein wenig zugehörig fühlen.

Am Tag der Arbeit öffnete das Back-Drive-In etwas später als gewöhnlich. Keine eiligen Arbeiter, keine gehetzten Paketzusteller heute, die ihre Frühstückstüte holten, nur einige Frühaufsteher: Hundebesitzer, Jogger, Schlaflose, Genießer, die sich am Feiertag gerne was Frisches gönnten. Das Back-Drive-In war ein Shop der Bäckerei Klingspor, daher das Back- im Namen. Der Laden hatte nach amerikanischem Vorbild ein Fenster, überdacht, an dem man aus dem Auto heraus kaufen konnte. Ein Drive-In also. Buck hatte noch nicht einen Menschen aus dem Auto heraus kaufen sehen, nicht alle amerikanischen Ideen fallen hier auf fruchtbaren Boden. Dagegen witzelten Wortspieler und Spaßvögel mit Englischkenntnissen darüber. Back-Drive-In - Fahr hinten rein! Solche Geschichten eben. Buck hatte diese Anspielungen nie so ganz verstanden, die englische Sprache war ihm ebenso fremd wie amerikanische Ideen.

An gewöhnlichen Tagen kam Mahlmann immer nachmittags und holte sich die übriggebliebenen Brötchen zum halben Preis. Und meist ließen Maike oder eine ihrer Kolleginnen ein, zwei Brötchen mehr in die Tüte fallen. Besser auf Buckis Tisch als im Mülleimer.

Heute, im Hochgefühl des Feiertags leistete Mahlmann sich ein Baguette mit Kochschinken und Salatblättern - und zusätzlich zwei Brötchen für süßen Belag. Maike, die Verkäuferin, legte ihm mit Augenzwinkern noch eine Frühstücksportion Honig in die Tüte. Buck zwinkerte dankend zurück und sagte:

- Armes Mädchen, bist eine der benigen, die arbeiten müssen, am Tag der Arbeit. Eigentlich müsste er ja Tag der Faulheit heißen, oder nich, hahaha!

Maike kannte Buckis Witze allesamt, lachte höflich und sagte: