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Nachtstücke

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Bebend, unfähig, ein Wort zu sprechen, hatte der Freiherr neben V., der sich vor den Kamin setzte, Platz genommen. V. fing mit dem Inhalt des Aufsatzes an, den Hubert für V. zurückgelassen und den er erst nach Eröffnung des Testaments entsiegeln sollte. Hubert klagte sich mit Ausdrücken, die von der tiefsten Reue zeigten, des unversöhnlichen Hasses an, der in ihm gegen den ältern Bruder Wurzel faßte von dem Augenblick, als der alte Roderich das Majorat gestiftet hatte. Jede Waffe war ihm entrissen, denn wär' es ihm auch gelungen auf hämische Weise, den Sohn mit dem Vater zu entzweien, so blieb dies ohne Wirkung, da Roderich selbst nicht ermächtigt war, dem ältesten Sohn die Rechte der Erstgeburt zu entreißen, und es, wandte sich auch sein Herz und Sinn ganz ab von ihm, doch nach seinen Grundsätzen nimmermehr getan hätte.

Erst als Wolfgang in Genf das Liebesverhältnis mit Julien von St.

Val begonnen, glaubte Hubert den Bruder verderben zu können. Da fing

die Zeit an, in der er im Einverständnisse mit Daniel auf bübische

Weise den Alten zu Entschlüssen nötigen wollte, die den Sohn zur

Verzweiflung bringen mußten.

Er wußte, daß nur die Verbindung mit einer der ältesten Familien des Vaterlandes nach dem Sinn des alten Roderich den Glanz des Majorats auf ewige Zeiten begründen konnte. Der Alte hatte diese Verbindung in den Gestirnen gelesen, und jedes freveliche Zerstören der Konstellation konnte nur Verderben bringen über die Stiftung. Wolfgangs Verbindung mit Julien erschien in dieser Art dem Alten ein verbrecherisches Attentat, wider Beschlüsse der Macht gerichtet, die ihm beigestanden im irdischen Beginnen, und jeder Anschlag, Julien, die wie ein dämonisches Prinzip sich ihm entgegengeworfen, zu verderben, gerechtfertigt.

Hubert kannte des Bruders an Wahnsinn streifende Liebe zu Julien, ihr Verlust müßte ihn elend machen, vielleicht töten, und um so lieber wurde er tätiger Helfershelfer bei den Plänen des Alten, als er selbst sträfliche Neigung zu Julien gefaßt und sie für sich zu gewinnen hoffte. Eine besondere Schickung des Himmels wollt' es, daß die giftigsten Anschläge an Wolfgangs Entschlossenheit scheiterten, ja daß es ihm gelang, den Bruder zu täuschen. Für Hubert blieb Wolfgangs wirklich vollzogene Ehe sowie die Geburt eines Sohnes ein Geheimnis.

Mit der Vorahnung des nahen Todes kam dem alten Roderich zugleich der Gedanke, daß Wolfgang jene ihm feindliche Julie geheiratet habe, in dem Briefe, der dem Sohn befahl, am bestimmten Tage nach R..sitten zu kommen, um das Majorat anzutreten, fluchte er ihm, wenn er nicht jene Verbindung zerreißen werde. Diesen Brief verbrannte Wolfgang bei der Leiche des Vaters.

An Hubert schrieb der Alte, daß Wolfgang Julien geheiratet habe, er werde aber diese Verbindung zerreißen. Hubert hielt dies für die Einbildung des träumerischen Vaters, erschrak aber nicht wenig, als Wolfgang in R..sitten selbst mit vieler Freimütigkeit die Ahnung des Alten nicht allein bestätigte, sondern auch hinzufügte, daß Julie ihm einen Sohn geboren, und daß er nun in kurzer Zeit Julien, die ihn bis jetzt für den Kaufmann Born aus M. gehalten, mit der Nachricht seines Standes und seines reichen Besitztums hoch erfreuen werde. Selbst wolle er hin nach Genf, um das geliebte Weib zu holen.

Noch ehe er diesen Entschluß ausführen konnte, ereilte ihn der Tod. Hubert verschwieg sorglich, was ihm von dem Dasein eines in der Ehe mit Julien erzeugten Sohnes bekannt, und riß so das Majorat an sich, das diesem gebührte. Doch nur wenige Jahre waren vergangen, als ihn tiefe Reue ergriff. Das Schicksal mahnte ihn an seine Schuld auf fürchterliche Weise durch den Haß, der zwischen seinen beiden Söhnen mehr und mehr emporkeimte. »Du bist ein armer dürftiger Schlucker«, sagte der älteste, ein zwölfjähriger Knabe, zu dem jüngsten, »aber ich werde, wenn der Vater stirbt, Majoratsherr von R..sitten, und da mußt du demütig sein und mir die Hand küssen, wenn ich dir Geld geben soll zum neuen Rock.« – Der jüngste, in volle Wut geraten über des Bruders höhnenden Stolz, warf das Messer, das er gerade in der Hand hatte, nach ihm hin und traf ihn beinahe zum Tode.

Hubert, großes Unglück fürchtend, schickte den jüngsten fort nach Petersburg, wo er später als Offizier unter Suwarow wider die Franzosen focht und blieb. Vor der Welt das Geheimnis seines unredlichen betrügerischen Besitzes kundzutun, davon hielt ihn die Scham, die Schande, die über ihn gekommen, zurück, aber entziehen wollte er dem rechtmäßigen Besitzer keinen Groschen mehr. Er zog Erkundigungen ein in Genf und erfuhr, daß die Frau Born, trostlos über das unbegreifliche Verschwinden ihres Mannes gestorben, daß aber der junge Roderich Born von einem wackern Mann, der ihn aufgenommen, erzogen werde. Da kündigte sich Hubert unter fremdem Namen als Verwandter des auf der See umgekommenen Kaufmann Born an und schickte Summen ein, die hinreichten, den jungen Majoratsherrn sorglich und anständig zu erziehn.

Wie er die Überschüsse der Einkünfte des Majorats sorgfältig sammelte; wie er dann testamentarisch verfügte, ist bekannt. Über den Tod seines Bruders sprach Hubert in sonderbaren rätselhaften Ausdrücken, die so viel erraten ließen, daß es damit eine geheimnisvolle Bewandtnis haben mußte, und daß Hubert wenigstens mittelbar teilnahm an einer gräßlichen Tat. Der Inhalt der schwarzen Mappe klärte alles auf. Der verräterischen Korrespondenz Huberts mit Daniel lag ein Blatt bei, das Daniel beschrieben und unterschrieben hatte. V. las ein Geständnis, vor dem sein Innerstes erbebte.

Auf Daniels Veranlassung war Hubert nach R..sitten gekommen, Daniel war es, der ihm von den gefundenen einhundertfünfzigtausend Reichstalern geschrieben. Man weiß, wie Hubert von dem Bruder aufgenommen wurde, wie er, getäuscht in allen seinen Wünschen und Hoffnungen, fort wollte, wie ihn V. zurückhielt. In Daniels Innerm kochte blutige Rache, die er zu nehmen hatte an dem jungen Menschen, der ihn ausstoßen wollen wie einen räudigen Hund. Der schürte und schürte an dem Brande, von dem der verzweifelnde Hubert verzehrt wurde. Im Föhrenwalde auf der Wolfsjagd, im Sturm und Schneegestöber wurden sie einig über Wolfgangs Verderben. »Wegschaffen« murmelte Hubert, indem er seitwärts wegblickte und die Büchse anlegte. »Ja, wegschaffen,« grinste Daniel, »aber nicht so, nicht so.«

Nun vermaß er sich hoch und teuer, er werde den Freiherrn ermorden, und kein Hahn solle darnach krähen. Hubert, als er endlich Geld erhalten, tat der Anschlag leid, er wollte fort, um jeder weitern Versuchung zu widerstehen. Daniel selbst sattelte in der Nacht das Pferd und führte es aus dem Stalle, als aber der Baron sich aufschwingen wollte, sprach Daniel mit schneidender Stimme: »Ich dächte, Freiherr Hubert, du bliebst auf dem Majorat, das dir in diesem Augenblick zugefallen, denn der stolze Majoratsherr liegt zerschmettert in der Gruft des Turms!«

Daniel hatte beobachtet, daß, von Golddurst geplagt, Wolfgang oft in der Nacht aufstand, vor die Tür trat, die sonst zum Turme führte, und mit sehnsüchtigen Blicken hinabschaute in die Tiefe, die nach Daniels Versicherung noch bedeutende Schätze bergen sollte. Darauf gefaßt, stand in jener verhängnisvollen Nacht Daniel vor der Türe des Saals. Sowie er den Freiherrn die zum Turm führende Tür öffnen hörte, trat er hinein und dem Freiherrn nach, der dicht an dem Abgrunde stand. Der Freiherr drehte sich um und rief, als er den verruchten Diener, dem der Mord schon aus den Augen blitzte, gewahrte, entsetzt: »Daniel, Daniel, was machst du hier zu dieser Stunde!«

Aber da kreischte Daniel wild auf: »Hinab mit dir, du räudiger Hund« und schleuderte mit einem kräftigen Fußstoß den Unglücklichen hinunter in die Tiefe! – Ganz erschüttert von der gräßlichen Untat, fand der Freiherr keine Ruhe auf dem Schlosse, wo sein Vater ermordet. Er ging auf seine Güter nach Kurland und kam nur jedes Jahr zur Herbstzeit nach R..sitten. Franz, der alte Franz, behauptete, daß Daniel, dessen Verbrechen er ahnde, noch oft zur Zeit des Vollmonds spuke, und beschrieb den Spuk gerade so, wie ihn V. später erfuhr und bannte. Die Entdeckung dieser Umstände, welche das Andenken des Vaters schändeten, trieben auch den jungen Freiherrn Hubert fort in die Welt.

So hatte der Großonkel alles erzählt, nun nahm er meine Hand und sprach, indem ihm volle Tränen in die Augen traten, mit sehr weicher Stimme: »– Vetter – Vetter auch sie die holde Frau, hat das böse Verhängnis, die unheimhche Macht, die dort auf dem Stammschlosse hauset, ereilt! Zwei Tage nachdem wir R..sitten verlassen, veranstaltete der Freiherr zum Beschluß eine Schlittenfahrt. Er selbst fährt seine Gemahlin, doch, als es talabwärts geht, reißen die Pferde, plötzlich auf unbegreifliche Weise scheu geworden, aus in vollem wütenden Schnauben und Toben. >Der Alte – der alte ist hinter uns her<, schreit die Baronin auf mit schneidender Stimme! In dem Augenblick wird sie durch den Stoß, der den Schatten umwirft, weit fortgeschleudert. – Man findet sie leblos – sie ist hin! Der Freiherr kann sich nimmer trösten, seine Ruhe ist die eines Sterbenden! Nimmer kommen wir wieder nach R..sitten, Vetter!«

Der alte Großonkel schwieg, ich schied von ihm mit zerrissenem Herzen, und nur die alles beschwichtigende Zeit konnte den tiefen Schmerz lindern, in dem ich vergehen zu müssen glaubte.

Jahre waren vergangen. V. ruhte längst im Grabe, ich hatte mein Vaterland verlassen. Da trieb mich der Sturm des Krieges, der verwüstend über ganz Deutschland hinbrauste, in den Norden hinein, fort nach Petersburg. Auf der Rückreise, nicht mehr weit von K., fuhr ich in einer finstern Sommernacht dem Gestade der Ostsee entlang, als ich vor mir am Himmel einen großen funkelnden Stern erblickte. Näher gekommen, gewahrte ich wohl an der roten flackernden Flamme, daß das, was ich für einen Stern gehalten, ein starkes Feuer sein müsse, ohne zu begreifen, wie es so hoch in den Lüften schweben könne.

 

»Schwager! was ist das für ein Feuer dort vor uns?« frug ich den Postillon. »Ei«, erwiderte dieser, »ei, das ist kein Feuer, das ist der Leuchtturm von R..sitten.« R..sitten! sowie der Postillon den Namen nannte, sprang in hellem Leben das Bild jener verhängnisvollen Herbsttage hervor, die ich dort erlebte. Ich sah den Baron – Seraphinen, aber auch die alten wunderlichen Tanten, mich selbst mit blankem Milchgesicht, schön frisiert und gepudert, in zartes Himmelblau gekleidet ja mich, den Verliebten, der wie ein Ofen seufzt, mit Jammerlied auf seiner Liebsten Braue!

In der tiefen Wehmut, die mich durchbebte, flackerten wie bunte Lichterchen V.s derbe Späße auf, die mir nun ergötzlicher waren als damals. So von Schmerz und wunderbarer Lust bewegt, stieg ich am frühen Morgen in R..sitten aus dem Wagen, der vor der Postexpedition hielt. Ich erkannte das Haus des Ökonomieinspektors, ich frug nach ihm. »Mit Verlaub«, sprach der Postschreiber, indem er die Pfeife aus dem Munde nahm und an der Nachtmütze rückte, »mit Verlaub, hier ist kein Ökonomieinspektor, es ist ein königliches Amt, und der Herr Amtsrat belieben noch zu schlafen.«

Auf weiteres Fragen erfuhr ich, daß schon vor sechzehn Jahren der Freiherr Roderich von R., der letzte Majoratsbesitzer, ohne Deszendenten gestorben und das Majorat der Stiftungsurkunde gemäß dem Staate anheimgefallen sei. Ich ging hinauf nach dem Schlosse, es lag in Ruinen zusammengestürzt. Man hatte einen großen Teil der Steine zu dem Leuchtturm benutzt, so versicherte ein alter Bauer, der aus dem Föhrenwalde kam und mit dem ich mich ins Gespräch einließ. Der wußte auch von dem Spuk zu erzählen, wie er auf dem Schlosse gehaust haben sollte, und versicherte, daß noch jetzt sich oft, zumal beim Vollmonde, grauenvolle Klagelaute in dem Gestein hören ließen.

Armer, alter, kurzsichtiger Roderich! Welche böse Macht beschworst du herauf, die den Stamm, den du mit fester Wurzel für die Ewigkeit zu pflanzen gedachtest, im ersten Aufkeimen zum Tode vergiftete.

Das Gelübde

Am Michaelistage, eben als bei den Karmelitern die Abendhora eingeläutet wurde, fuhr ein mit vier Postpferden bespannter stattlicher Reisewagen, donnernd und rasselnd durch die Gassen des kleinen polnischen Grenzstädtchens L., und hielt endlich still vor der Haustür des alten teutschen Bürgermeisters. Neugierig steckten die Kinder die Köpfe zum Fenster heraus, aber die Hausfrau stand auf von ihrem Sitze und rief, indem sie ganz unmutig ihr Nähzeug auf den Tisch warf, dem Alten, der aus dem Nebenzimmer schnell eintrat, entgegen: »Schon wieder Fremde, die unser stilles Haus für eine Gastwirtschaft halten, das kommt aber von dem Wahrzeichen her. Warum hast du auch die steinerne Taube über der Tür aufs neue vergolden lassen?« Der Alte lächelte schlau und bedeutsam ohne etwas zu erwidern; im Augenblick hatte er den Schlafrock abgeworfen, das Ehrenkleid, das vom Kirchgange her noch wohlgebürstet über der Stuhllehne hing, angezogen, und ehe die ganz erstaunte Frau den Mund zur Frage öffnen konnte, stand er schon, sein Samtmützchen unterm Arm, so daß sein silberweißes Haupt in der Dämmerung hell aufschimmerte, vor dem Kutschenschlage, den indessen ein Diener geöffnet. Eine ältliche Frau im grauen Reisemantel stieg aus dem Wagen, ihr folgte eine hohe jugendliche Gestalt mit dicht verhülltem Antlitz die auf des Bürgermeisters Arm gestützt, in das Haus hinein mehr wankte als schritt, und kaum ins Zimmer getreten, wie halb entseelt in den Lehnstuhl sank, den die Hausfrau auf des Alten Wink schnell herangerückt. Die ältere Frau sprach leise und sehr wehmütig zu dem Bürgermeister: »Das arme Kind! – ich muß wohl noch einige Augenblicke bei ihr verweilen«, damit machte sie Anstalt ihren Reisemantel herunterzuziehen, worin ihr des Bürgermeisters ältere Tochter beistand, so daß bald ihr Nonnengewand, sowie ein auf der Brust funkelndes Kreuz sichtbar wurde, welches sie als Äbtissin eines Zisterzienser Nonnenklosters darstellte. Die verhüllte Dame hatte unterdessen nur durch ein leises, kaum vernehmbares Ächzen kund getan, daß sie noch lebe und endlich die Hausfrau um ein Glas Wasser gebeten. Die brachte aber allerlei stärkende Tropfen und Essenzen herbei, und pries ihre Wunderkraft, indem sie die Dame bat, doch nur die dicken, schweren Schleier, die ihr alles freie Atmen verhindern müßten, abzulegen. Mit der Hand jede Annäherung der Hausfrau abwehrend, mit allen Zeichen des Abscheues den Kopf zurückbeugend, verwarf aber die Kranke den Vorschlag, und selbst, als sie endlich es sich gefallen ließ, den Duft einer starken Lebensessenz einzuziehen, als sie etwas von dem verlangten Wasser, in das die besorgte Hausfrau einige Tropfen eines bewährten Elixiers hineingetan, genoß, tat sie alles dies unter den Schleiern, ohne sie nur im mindesten zu lüpfen. »Ihr habt doch, mein lieber, alter Herr!« wandte sich die Äbtissin zum Bürgermeister, »Ihr habt doch alles so bereitet, wie es gewünscht worden?« – »Jawohl«, erwiderte der Alte, »jawohl! ich hoffe, mein durchlauchtigster Fürst soll mit mir zufrieden sein, so wie die Dame, für die ich alles zu tun bereit bin, was nur in meinen Kräften steht.« – »So laßt mich«, fuhr die Äbtissin fort, »mit meinem armen Kinde noch einige Augenblicke allein.« Die Familie mußte das Zimmer verlassen. Man hörte, wie die Äbtissin eifrig und salbungsvoll der Dame zusprach, und wie diese endlich auch zu reden begann mit einem Ton, der tief bis ins Herz drang. Ohne gerade zu horchen, blieb denn doch die Hausfrau an der Türe des Zimmers stehen, indessen wurde italienisch gesprochen, und selbst dies machte für sie den ganzen Auftritt geheimnisvoller und vermehrte die Beklommenheit, welche ihr den Mund verschloß. Frau und Tochter trieb der Alte fort, um für Wein und andere Erfrischungen zu sorgen, er selbst ging in das Zimmer zurück. Getrösteter, gefaßter schien die verschleierte Dame, welche mit gebeugtem Haupt und gefalteten Händen vor der Äbtissin stand. Diese verschmähte es nicht, etwas von den Erfrischungen anzunehmen, die ihr die Hausfrau darbot, dann rief sie: »Nun ist es Zeit!« Die verschleierte Dame sank nieder auf die Knie, die Äbtissin legte die Hände auf ihr Haupt und sprach leise Gebete. Als diese geendet, schloß sie, indem häufige Tränen ihr über die Wangen rollten, die Verschleierte in die Arme und drückte sie heftig wie im Übermaß des Schmerzes an die Brust, dann gab sie gefaßt und würdevoll der Familie die Benediktion und eilte, vom Alten geleitet, rasch in den Wagen, vor dem die frisch angelegten Postpferde laut wieherten. In vollem Juchzen und Blasen jug der Postillion durch die Gassen zum Tore hinaus. Als nun die Hausfrau gewahrte, daß die verschleierte Dame, für die man ein paar schwere Koffer vom Wagen abgepackt und hineingetragen, dablieb, wohl gar auf lange Zeit eingezogen sei, konnte sie sich gar nicht lassen vor peinlicher Neugier und Sorge. Sie trat hinaus auf den Hausflur und dem Alten, der eben in das Zimmer wollte, in den Weg. »Um Christus willen«, flüsterte sie leise und ängstlich, »um Christus willen, welch einen Gast bringst du mir ins Haus, denn du weißt doch ja von allem und hast es mir nur verschwiegen.« – »Alles, was ich weiß, sollst du auch erfahren«, erwiderte der Alte ganz ruhig. »Ach, ach!« fuhr die Frau noch ängstlicher fort, »du weißt aber vielleicht nicht alles; wärst du nur jetzt im Zimmer gewesen. Sowie die Frau Äbtissin abgefahren, mochte es der Dame doch wohl zu beklommen werden in ihren dicken Schleiern. Sie nahm den großen schwarzen Kreppflor, der ihr bis an die Knie reichte, herab, und da sah ich« – »Nun was sahst du denn«, fiel der Alte der Frau, die zitternd sich umschaute, als erblicke sie Gespenster, in die Rede. »Nein«, sprach die Frau weiter, »die Gesichtszüge konnte ich unter den dünnen Schleiern gar nicht deutlich erkennen, aber wohl die Totenfarbe, ach die greuliche Totenfarbe. Aber nun Alter, nun merk auf: deutlich, nur zu deutlich, ganz sonnenklar liegt's am Tage, daß die Dame guter Hoffnung ist. In wenigen Wochen kommt sie ins Kindbett.« – »Das weiß ich ja, Frau«, sprach der Alte ganz mürrisch, »und damit du nur nicht umkommen mögest vor Neugier und Unruhe, will ich dir mit zwei Worten alles erklären. Wisse also, daß Fürst Z., unser hoher Gönner, mir vor einigen Wochen schrieb, die Äbtissin des Zisterzienserklosters in O. werde mir eine Dame bringen, die ich bei mir in meinem Hause aufnehmen solle, in aller Stille, jedes Aufsehen sorglich vermeidend. Die Dame, welche nicht anders genannt sein wolle, als schlechtweg Cölestine, werde bei mir ihre nahe Entbindung abwarten, und dann nebst dem Kinde, das sie geboren, wieder abgeholt werden. Füge ich nun noch hinzu, daß der Fürst mir mit den eindringlichsten Worten die sorgsamste Pflege der Dame empfohlen und für die ersten Auslagen und Bemühungen einen tüchtigen Beutel mit Dukaten, den du in meiner Kommode finden und beäugeln kannst, beigefügt hat, so werden wohl alle Bedenken aufhören.« – »So müssen wir«, sprach die Hausfrau, »vielleicht arger Sünde, wie sie die Vornehmen treiben, die Hand bieten.« Noch ehe der Alte darauf etwas erwidern konnte, trat die Tochter zum Zimmer heraus, und rief ihn zur Dame, welche sich nach Ruhe sehne und in das für sie bestimmte Gemach geführt zu werden wünsche. Der Alte hatte die beiden Zimmerchen des obern Stocks so gut ausschmücken lassen, als er es nur vermochte, und war nicht wenig betreten, als Cölestine frug, ob er außer diesen Gemächern nicht noch eins, dessen Fenster hintenheraus gingen, besitze. Er verneinte das und fügte nur, um ganz gewissenhaft zu sein, hinzu, daß zwar noch ein einziges Gemach mit einem Fenster nach dem Garten heraus, vorhanden, dies dürfte aber gar kein Zimmer, sondern nur eine schlechte Kammer genannt werden; kaum so geräumig, um ein Bette, einen Tisch und einen Stuhl hineinzustellen, ganz einer elenden Klosterzelle gleich. Cölestine verlangte augenblicklich, diese Kammer zu sehen, und erklärte, kaum hineingekommen, daß eben dieses Gemach ihren Wünschen und Bedürfnissen angemessen sei, daß sie nur in diesem und keinem andern wohnen, und es nur dann, wenn ihr Zustand durchaus größeren Raum und eine Krankenwärterin erfordern solle, mit einem größern vertauschen werde. Verglich der Alte schon jetzt dieses enge Gemach mit einer Klosterzelle, so war es andern Tages ganz dazu geworden. Cölestine hatte ein Marienbild an die Wand geheftet und auf den alten hölzernen Tisch, der unter dem Bilde stand, ein Kruzifix hingestellt. Das Bette bestand in einem Strohsack und einer wollenen Decke, und außer einem hölzernen Schemmel und noch einem kleinen Tisch, litt Cölestine kein anderes Gerät. Die Hausfrau, ausgesöhnt mit der Fremden durch den tiefen zehrenden Schmerz, der sich in ihrem ganzen Wesen offenbarte, glaubte nach gewöhnlicher Weise sie aufheitern, unterhalten zu müssen, die Fremde bat aber mit den rührendsten Worten, eine Einsamkeit nicht zu verstören, in der allein mit ganz der Jungfrau und den Heiligen zugewandtem Sinn sie Tröstung finde. Jedes Tages, sowie der Morgen graute, begab sich Cölestine zu den Karmelitern, um die Frühmesse zu hören; den übrigen Tag schien sie unausgesetzt Andachtsübungen gewidmet zu haben, denn so oft es auch nötig wurde sie in ihrem Zimmer aufzusuchen, fand man sie entweder betend oder in frommen Büchern lesend. Sie verschmähte andere Speise als Gemüse, anderes Getränk als Wasser, und nur die dringendsten Vorstellungen des Alten, daß ihr Zustand, das Wesen, das in ihr lebe, bessere Kost fordere, konnte sie endlich vermögen, zuweilen Fleischbrühe und etwas Wein zu genießen. Dieses strenge klösterliche Leben, hielt es auch jeder im Hause für die Buße begangener Sünde, erweckte doch zu gleicher Zeit inniges Mitleiden und tiefe Ehrfurcht, wozu denn auch der Adel ihrer Gestalt, die siegende Anmut jeder ihrer Bewegungen nicht wenig beitrug. Was aber diesen Gefühlen für die fremde Heilige etwas Schauerliches beimischte, war der Umstand, daß sie die Schleier durchaus nicht ablegte, so daß keiner ihr Gesicht zu erschauen vermochte. Niemand kam in ihre Nähe, als der Alte und der weibliche Teil seiner Familie, und diese, niemals aus dem Städtchen gekommen, konnten unmöglich durch das Wiedererkennen eines Gesichts, das sie vorher nicht gesehen, dem Geheimnis auf die Spur kommen. Wozu also die Verhüllung? – Die geschäftige Fantasie der Weiber erfand bald ein greuliches Märchen. Ein fürchterliches Abzeichen (so lautete die Fabel), die Spur der Teufelskralle, hatte das Gesicht der Fremden gräßlich verzerrt, und darum die dicken Schleier. Der Alte hatte Mühe dem Gewäsche zu steuern und zu verhindern, daß wenigstens vor der Türe seines Hauses nicht Abenteuerliches von der Fremden geschwatzt wurde, deren Aufenthalt in des Bürgermeisters Hause freilich in der Stadt bekannt geworden. Ihre Gänge nach dem Karmeliterkloster blieben auch nicht unbemerkt, und bald nannte man sie des Bürgermeisters schwarze Frau, womit freilich sich von selbst die Idee einer spukhaften Erscheinung verband. Der Zufall wollte, daß eines Tages, als die Tochter der Fremden die Speisen in das Zimmer brachte, der Luftstrom den Schleier erfaßte und aufhob; mit Blitzesschnelle wandte sich die Fremde, so daß sie sich in demselben Moment dem Blick des Mädchens entzog. Diese kam aber erblaßt und an allen Gliedern zitternd herab. Keine Verzerrung, aber so wie die Mutter ein totenbleiches, hatte sie ein marmorweißes Antlitz erschaut, aus dessen tiefen Augenhöhlen es seltsam hervorblitzte. Der Alte schob mit Recht vieles auf des Mädchens Einbildung, aber auch ihm war es, im Grunde genommen, so zumute wie allen; er wünschte das verstörende Wesen, trotz aller Frömmigkeit, die es bewies, fort aus seinem Hause. Bald darauf weckte in einer Nacht der Alte die Hausfrau und sagte ihr, daß er schon seit einigen Minuten ein leises Wimmern und Ächzen, ein Klopfen vernehme, das von Cölestinens Zimmer zu kommen scheine. Die Frau, von der Ahnung ergriffen, was das sein könne, eilte hinauf. Sie fand Cölestinen, angezogen und in ihre Schleier gewickelt, auf dem Bette halb ohnmächtig liegen und überzeugte sich bald, daß die Niederkunft nahe sei. Schnell traf man die längst vorbereiteten Anstalten, und in weniger Zeit war ein gesundes holdes Knäblein geboren. Dies Ereignis, hatte man es auch längst vorausgesehen, trat doch wie unerwartet ein, und vernichtete in seinen Folgen das drückende unheimliche Verhältnis mit der Fremden, welches auf der Familie schwer gelastet hatte. Der Knabe schien, wie ein sehnender Mittler, Cölestinen dem Menschlichen wieder näher zu bringen. Ihr Zustand litt keine strenge asketische Übungen, und indem ihre Hülflosigkeit ihr die Menschen, welche sie mit liebender Sorgfalt pflegten, aufnötigte, gewöhnte sie sich mehr und mehr an ihren Umgang. Die Hausfrau dagegen, die nun die Kranke warten, ihr selbst die nahrhafte Suppe kochen und darreichen konnte, vergaß in dieser häuslichen Sorge alles Böse, was ihr sonst über die rätselhafte Fremde in den Sinn gekommen. Sie dachte nicht mehr daran, daß ihr ehrbares Haus vielleicht zum Schlupfwinkel der Schande dienen sollte. Der Alte jubelte ganz verjüngt und hätschelte den Knaben, als sei ihm ein Enkelkind geboren, und er, wie alle übrige, hatten sich daran gewöhnt, daß Cölestine verschleiert blieb, ja selbst während der Entbindung. Die Wehmutter hatte ihr schwören müssen, daß, trete ja ein Zustand der Bewußtlosigkeit ein, doch die Schleier nicht gelüpft werden sollten, außer von ihr, der Wehmutter selbst, im Fall der Todesgefahr. Es war gewiß, daß die Alte Cölestinen unverschleiert gesehen, sie sagte aber darüber nichts, als: »Die arme junge Dame muß sich ja wohl so verhüllen« – Nach einigen Tagen erschien der Karmelitermönch, der den Knaben getauft hatte. Seine Unterredung mit Cölestinen, niemand durfte zugegen sein, dauerte länger als zwei Stunden. Man hörte ihn eifrig sprechen und beten. Als er fortgegangen, fand man Cölestinen im Lehnstuhl sitzend, auf dem Schoße den Knaben, um dessen kleine Schultern ein Skapulier gelegt war, und der ein Agnusdei auf der Brust trug. Wochen und Monate vergingen, ohne daß, wie der Bürgermeister geglaubt hatte, und wie es ihm auch vom Fürsten Z. gesagt worden, Cölestine mit dem Kinde abgeholt wurde. Sie hätte ganz eintreten können in den friedlichen Kreis der Familie, wären die fatalen Schleier nicht gewesen, die immer den letzten Schritt zur freundlichen Annährung hemmten. Der Alte nahm es sich heraus, dies der Fremden selbst freimütig zu äußern, doch als sie mit dumpfem feierlichen Ton erwiderte: »Nur im Tode fallen diese Schleier«, schwieg er davon und wünschte aufs neue, daß der Wagen mit der Äbtissin erscheinen möge.

 

Der Frühling war herangekommen, von einem Spaziergange kehrte die Familie des Bürgermeisters heim, Blumensträuße in den Händen tragend, deren schönste der frommen Cölestine bestimmt waren. Eben als sie ins Haus treten wollten, sprengte ein Reiter heran, eifrig nach dem Bürgermeister fragend. Der Alte sprach, er sei selbst der Bürgermeister und stehe vor seinem Hause. Da sprang der Reiter herab vom Pferde, das er festband an den Pfosten und stürzte mit dem gellenden Ruf. »Sie ist hier, sie ist hier«, ins Haus und die Treppe herauf. Man hörte eine Tür einschlagen und Cölestinens Angstgeschrei. Der Alte, von Entsetzen erfaßt, eilte nach. Der Reiter – wie nun sichtlich, war ein Offizier von der französischen Jägergarde mit vielen Orden geschmückt, hatte den Knaben aus der Wiege gerissen und in den linken, mit dem Mantel umschlungenen Arm genommen; den rechten hatte Cölestine erfaßt, alle Kraft aufbietend, den Räuber des Kindes zurückzuhalten. Im Ringen riß der Offizier den Schleier herab ein todstarres marmorweißes Antlitz, von schwarzen Locken umschattet, blickte ihn an, glühende Strahlen aus den tiefen Augenhöhlen schießend, während schneidende Jammertöne aus den halbgeöffneten unbewegten Lippen quollen. Der Alte nahm wahr, daß Cölestine eine weiße, dicht anschließende Maske trug. »Entsetzliches Weib! willst du, daß auch mich deine Raserei ergreife?« schrie der Offizier, indem er sich mit Gewalt losriß, so daß Cölestine zu Boden stürzte. Nun umfaßte sie aber seine Knie, indem sie mit dem Ausdruck des unsäglichsten Schmerzes, mit einem Ton, der das Herz durchschnitt, flehte: »Laß mir das Kind! – o laß mir das Kind! – nicht um die ewige Seligkeit sollst du mich bringen. – Um Christus – um der heiligen Jungfrau willen – laß mir das Kind – laß mir das Kind.« – Und bei diesen Jammertönen regte sich keine Muskel, regten sich nicht die Lippen des Totenantlitzes, so daß dem Alten, der Hausfrau – allen, die ihm gefolgt, vor Grauen das Blut in den Adern stockte! »Nein«, schrie der Offizier wie in heller Verzweiflung, »nein, unmenschliches, unerbittliches Weib, das Herz konntest du aus dieser Brust reißen, aber verderben sollst du nicht im heillosen Wahnsinn das Wesen, das sich tröstend an die blutende Wunde legt!« – Fester drückte der Offizier das Kind an sich, so daß es laut zu weinen begann – da brach Cölestine aus in ein dumpfes Heulen: »Rache – des Himmels Rache über dich – du Mörder!« – »Laß ab! – laß ab – fort mit dir, du Höllenspuk!« kreischte der Offizier, und schleuderte mit einer konvulsivischen Bewegung des Fußes Cölestinen weit von sich, und wollte zur Türe heraus. Der Alte trat ihm in den Weg, er riß aber schnell ein Terzerol hervor, rief, die Mündung gegen den Alten gekehrt: »Die Kugel durch den Kopf dem, der dem Vater sein Kind zu entreißen gedenkt«, stürzte die Treppe herab, schwang sich aufs Pferd ohne das Kind zu lassen, und sprengte in vollem Galopp davon. – Die Hausfrau voll Herzensangst, wie es nun um Cölestinen stehen, und was nun mit ihr anzufangen sein würde, überwand ihr Grauen vor der entsetzlichen Totenmaske, und eilte herauf ihr beizustehen. Wie erstaunte sie, als sie Cölestinen mitten im Zimmer gleich einer Statue mit herabhängenden Armen lautlos stehend fand. Sie redete sie an, keine Antwort. Nicht vermögend den Anblick der Maske zu tragen, hing sie ihr die Schleier um, die auf dem Boden lagen, kein Regen und Bewegen. Cölestine war in einen automatähnlichen Zustand gesunken, der die Hausfrau mit neuer Angst und Pein erfüllte, so daß sie ganz inbrünstig zu Gott flehte, sie nur von dieser unheimlichen Fremden zu befreien. Ihre Bitte wurde zur Stelle erhört, denn eben hielt derselbe Wagen, der Cölestinen gebracht, vor der Türe. Die Äbtissin kam, mit ihr Fürst Z. des alten Bürgermeisters hoher Gönner. Als der erfahren, was sich soeben zugetragen, sprach er sehr mild und ruhig: »So kamen wir zu spät, und müssen uns wohl in Gottes Fügung schicken.« Man brachte Cölestinen herab, die sich starr und lautlos, ohne Zeichen eignen Willens und eigner Willkür, fortführen und in den Wagen setzen ließ, der schnell fortrollte. Dem Alten, der ganzen Familie war so zumute, als erwachten sie nun erst aus einem bösen spukhaften Traum, der sie sehr geängstet.