Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe

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Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe
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Erich Auerbach

Gesammelte Aufsätze

zur romanischen Philologie - Studienausgabe

Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon

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In memoriam

Süheyla Artemel (1930–2018)

Umschlagabbildung: Erich Auerbach (1930): Bildarchiv Foto Marburg, Philipps-Universität Marburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

www.narr.de · eMail: info@narr.de

ISBN 978-3-7720-8756-1 (Print)

ISBN 978-3-7720-0154-3 (ePub)

Inhalt

  Einleitung

  AUFSÄTZE

  Sacrae scripturae sermo humilis (1941)

  Über das altfranzösische Leodegarlied (1957)

  Über das Persönliche in der Wirkung des heiligen Franz von Assisi (1927)

  Franz von Assisi in der Komödie (1944)

  Figura (1938)

  Figurative texts illustrating certain passages of Dante’s Commedia (1946)

  Typological symbolism in medieval literature (1952)

  Dante und Vergil (1931)

  Dante’s prayer to the Virgin and earlier eulogies (1949/50)

  Dante’s addresses to the reader (1953/54)

  Nathan und Johannes Chrysostomus (1951)

  Passio als Leidenschaft (1941)

  Entdeckung Dantes in der Romantik (1929)

  Der Schriftsteller Montaigne (1932)

  Racine und die Leidenschaften (1926)

  Über Pascals politische Theorie (1941)

  Vico und Herder (1932)

  Giambattista Vico und die Idee der Philologie (1936)

  Vico und der Volksgeist (1955)

  Sprachliche Beiträge zur Erklärung der Scienza nuova von G. B. Vico (1937)

  Vico’s contribution to literary criticism (1958)

  Vico and aesthetic historism (1949)

  Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene (1951)

  Über den historischen Ort Rousseaus (1932)

  Marcel Proust: Der Roman von der verlorenen Zeit (1927)

  Philologie der Weltliteratur (1952)

  BESPRECHUNGEN

  Charles S. Singleton: An Essay on the Vita Nuova (1950)

  Luigi Valli: Il linguaggio segreto di Dante e dei «Fedeli d’amore» (1928)

  Francis Ferguson: Dante’s Drama of the Mind (1954/5)

  Hans Rabow: Die «Asolanischen Gespräche» des Pietro Bembo (1934)

  Giambattista Vico: La Scienza Nuova (1931)

  Gustave Cohen: Le théâtre en France au moyen âge (1932)

  Hugo Friedrich: Montaigne (1951)

  Fritz Schalk: Einleitung in die Enzyklopädie der französischen Aufklärung (1938)

  Paul Binswanger: Die ästhetische Problematik Flauberts (1937)

  Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1950)

  Leonardo Olschki: Die romanischen Literaturen des Mittelalters (1933)

  Leo Spitzer: Romanische Stil- und Literarstudien (1932)

  Leo Spitzer: Essays in Historical Semantics (1948)

  René Wellek: A History of Modern Criticism: 1750–1950 (1955)

  ERGÄNZUNGEN DER NEUAUFLAGE

  Vicos Auseinandersetzung mit Descartes (1921)

  Giambattista Vico (1922)

  Vico (1929)

  Romantik und Realismus (1933)

 Erich Auerbach – Primärbibliographie: Werke (1913–1958) und Briefe (1923–1957)Vorwort: Zur Geschichte von Erich Auerbachs Primärbibliographie1. Monographien2. Aufsatzbände3. Einleitungen, Vorreden, Vor- und Nachworte4. Aufsätze und bisher unbekannte Typoskripte5. Rezensionen6. Übersetzungen7. Ältere und neuere Aufsatzbände und Einzelessays8. Briefsammlungen und Einzelbriefe

  Nachwort: Erich Auerbach – Kulturphilosoph im Exil

  Editorische Anmerkung und Dank

  Nachwort zur Studienausgabe

  Personenregister

  Sachregister

Einleitung

Überblickt man die Laufbahn von Erich Auerbach (1892–1957), die 1921 mit der Schrift Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich begann, um 1957 mit dem Buch Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter zu endigen, so merkt man, wie früh ein stetiger Plan, ein fester Wille sich gebildet hatten, und wird in der stets erkennbaren Verkettung seiner Hauptmotive die ganze Richtung jener so faszinierenden philologischen und schriftstellerischen Kraft, die ihm mitgegeben war, vorausbestimmt sehen. «Das Fach, das ich vertrete, die romanische Philologie», sagt er in einem seiner Aufsätze, «ist einer der kleineren Äste vom Baum des romantischen Historismus, der gleichsam im Vorübergehen die Romania als Sinnganzes erlebte.» Und er selbst bildete eins der echten Lebenszentren der Romanistik, als deren Gegenstand ihm mehrere trotz der gemeinsamen Romanität verschiedene und durch das gemeinsame Substrat der antikisch-christlichen Gesinnung auch mit dem deutschen verbundene Völker galten. In sich selbst und an seinem persönlichen Beispiel stellte er das «perspektivische und historische Bewußtsein vom Europäertum» klar vor uns hin, mit gleicher Intensität die antike und mittelalterliche wie die letzten Formen moderner Literaturen umfassend. Daß in dem Maß, in dem die Erde zusammenwächst, die synthetische und perspektivische Tätigkeit sich erweitern müsse, und daß der «rasch fortschreitende Ausgleichsprozeß», «der Zerfall der inneren Grundlagen nationalen Daseins» den Begriff der Weltliteratur zugleich verwirklichen und zerstören müsse, war ihm selbst in seinen letzten Jahren bewußt. In dem späten Aufsatz Philologie der Weltliteratur merkt man, wie eine Reihenfolge neuer Eindrücke ihn aus dem europäischen Kreis, in dem er sich bisher bewegt hatte, in neue und unbekannte Weiten zu locken schien. Auf dem Höhepunkt seiner Produktion, am Abend seines Lebens sah er eine neue Strömung ihren Ursprung nehmen, und zurückblickend auf sein in sich abgeschlossenes, in der Größe des Entwurfs, in der einheitlichen Grundrichtung, die er von Anfang an festgehalten hat, vollendetes Werk wandte er sich noch neuen Fragen und neuen Aufgaben zu, die eine veränderte Lage stellen. Die Erde, nicht mehr die Nation, schien ihm die «philologische Heimat» zu werden.

 

Aber die bekanntesten Werke DanteDante als Dichter der irdischen Welt (erste Aufl. Berlin, 1929) – Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (erste Aufl. Bern, 1946) – Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts (erste Aufl. München, 1933), das schon genannte posthume Buch und die Sammlung der Aufsätze, die wir dem Leser vorlegen, bestimmt jener «historische Perspektivismus», der dank einer seltenen Heiterkeit der Betrachtung und Kunst der Darstellung sich den verschiedensten Stoffen und Stimmungen der europäischen Literatur unterworfen hat. Niemals wollte er solchen Perspektivismus, von dem er oft und oft in seinen Schriften spricht, eklektisch verstanden wissen. Denn über die dargestellten Gestalten, über die behandelten Themen erhebt das Auge sich zu dem Darstellenden, der Raum, in dem er sich bewegt, «ist nicht nur das Außen, sondern die Welt der Menschen, zu der er selbst gehört». Dieses Vicosche Motiv – daß alle Formen des Menschlichen sich dentro le modificazioni della medesima nostra mente umana wiederfinden lassen – hat sich so tief in Auerbach eingeprägt, daß er seit seiner Ausgabe der Scienza nuova (Die Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, erste Aufl. München, 1924) immer wieder zu VicoVico, G. geführt wurde, dem er durch den innersten Zug seiner Natur verwandter war als irgendeinem andern Philosophen. Vicosche Motive umgaben ihn überall, so daß die Bahn einer Forschung vorgezeichnet war, die aus den Erscheinungen selbst die immer nur provisorischen «elastischen» Ordnungskategorien schöpfte, deren sie bedurfte. Der Idee der Vicoschen Philologie, die alle geschichtlich-humanistischen Fächer in sich schließt und deren klassifikatorischer Geist den Zusammenhang des Gesamtverlaufs der Menschengeschichte ergründen möchte, blieb Auerbach stets verpflichtet, ohne doch VicosVico, G. Vorurteil – VicosVico, G. fruchtbares Vorurteil – von der poetischen Überlegenheit der «Urzeiten» zu teilen. Erst hier endet die Verwandtschaft zwischen ihm und VicoVico, G., endet jenes tiefe Verständnis, jene stete Wechselwirkung zweier verwandter Naturen.

Die andauernde Beschäftigung mit VicoVico, G., mit DanteDante mußte Auerbach auf einen universalhistorischen, auf einen systematischen Weg weisen; die umfassende Anschauung verschiedener Epochen, die er besaß, mußte ihn da bestärken. Sein Blick ruhte nicht nur auf Werken der Kunst, haftete nicht am Einzelwerk als solchem, sondern drang zu Kräften und Energien, die hinter den Erscheinungen lagen, und tendierte dazu, von einem Phänomen aus den Umkreis verwandter Anschauungen und Gefühle und ihre Entwicklung zu beschreiben. Allein sein Ausgangspunkt war nicht das Allgemeine, sondern das Einzelphänomen, ein «überschaubarer Kreis von Phänomenen», deren Interpretation solche Strahlkraft besitzt, daß sie allmählich einen größeren Bezirk erschließt. Doch zunächst richtet sich der Blick, befriedigt in der künstlerischen Anschauung, abstrahierend von der ursächlichen Verkettung der Erscheinungen, von ihrem Entstehen, auf den ungeteilten Eindruck des Ganzen, und die Methode – es kann auch die der Stilforschung oder der Wortforschung sein – erlaubt in der Ausarbeitung den Gesichtskreis zu erweitern, um «bedeutende Vorgänge der inneren Geschichte auf weitem Hintergrunde synthetisch und suggestiv vorzustellen».

Tatsächlich liegt das Schwergewicht seiner Forschung in dem Ausgangspunkt vom Einzelnen – aber es ist ein Ausgangspunkt, der stets zum Allgemeinen trägt. So geht die Schrift über das französische Publikum des 17. Jahrhunderts von den Ausdrücken le public, la cour et la ville, le peuple et la cour aus. La cour et la ville wird schließlich der charakteristische Terminus, in dem ein bestimmtes Publikum gesetzt ist, das aus dem ständisch nicht sicher gebundenen, funktionslos gewordenen AdelAdel und dem BürgertumBürgertum gebildet ist. Das Bürgertum geht im Beruf so wenig auf, daß es mit der politisch machtlosen Aristokratie im Glauben an das neue Bildungsideal der honnêtetéhonnêteté sich zur Gemeinschaft, eben zum gebildeten Publikum zusammenschließen konnte. Ob man nun angesichts der neuen Funktion im Ganzen, die den Ständen zufiel, von einem Funktionswechsel oder von einem Funktionsloswerden von Adel und Bürgertum spricht1 – in dem neu gebildeten Publikum sammelt sich das Normbewußtsein der französischen KlassikKlassik (französische), und darum wirkt es selbst als sichtbare lebendige Norm. Denn in der Ablehnung bestimmter Formen der Preziosität, der religiösen Heuchelei, in der Bindung an die bienséancebienséance und an die neue Philosophie gehorcht das Publikum einem Gesetz des Maßes, das im Zusammenstimmen von Normen und Formen besteht, die respektvoll zu beachten auch die bourgeois im Parterre sich stets verpflichtet fühlen. Darum ist das Parterre nicht das Volk, wohl aber eine Schicht, die hervorragend geeignet war, mit der höheren höfischen Gesellschaft innerlich zu verschmelzen. Weil in beiden kein ständisch bestimmbarer Geist herrschend war, ergab sich aus dem Zusammenklang der in der Vereinzelung nicht wirksamen Kräfte eine neue Organisation des Lebens. Hier wird die geistige Situation einer Epoche zur Entfaltung gebracht, man sieht sich, Aug in Auge, der großen dichterisch-kritischen Bewegung der Zeit gegenüber und sieht durch das Medium der Wörter alle ihre Züge gesammelt konzentriert.

Ein ähnliches Beispiel bietet der Aufsatz Über PascalsPascal, B. politische Theorie, der von dem Fragment der Pensées ausgeht, das von der Schwäche des Rechts handelt. Das Fragment fesselt den Leser durch das Gleichgewicht von Anschauung und Form, durch eine Diktion, die so sehr PascalPascal, B. ist, daß sie Anzeichen einer ganz neuen Art inneren Aneignens zu sein scheint, einer «einzigartigen Verbindung von Logik, Rhetorik und Leidenschaft». In den Pascalschen Gedanken treffen verschiedene Entwicklungslinien zusammen, und zwar MontaigneMontaigne, M. des die Gesetze auf die Gewohnheit reduzierende Ansicht mit der Lehre von Port-RoyalPort-Royal über die ursprüngliche Verderbnis der menschlichen Natur. Die Verbindung beider ist das Medium, in dem PascalsPascal, B. Gedanke sich entwickelt. Sein Haß gegen die menschliche Natur, seine Entlarvung des menschlichen Rechts als gesetztem und bösem und seine Anerkennung dieses bösen Rechts als des einzigen zu Recht bestehenden, zeigen die für das behandelte Fragment charakteristische Motivverflechtung, ja die Durchdringung seines Denkens mit Montaigneschen und kirchlich-theologischen Vorstellungen. Die Pascalsche Theorie ist der Ausdruck dafür, daß die Passivität des Christen gegenüber der bösen Welt die notwendige Begleiterscheinung seines Sündenbewußtseins ist, und zugleich tritt in der schrittweisen Enthüllung der Begriffe von Macht und Recht der für das 17. Jahrhundert in Frankreich so charakteristische AugustinismusAugustinismus2 in Erscheinung, der das Bild des Menschen, das die Philosophie entworfen hat, verwandelnd umdeutet, indem er es unter die allgemeine Wirklichkeit christlicher Heilsordnung stellt. In der Analyse der Motive nimmt Auerbach nicht nur auf den im Wesen von PascalsPascal, B. Person und in der politischen Welt des 17. Jahrhunderts angelegten Weg der Erkenntnis Bezug, er zeigt gleichzeitig die Nachwirkung philosophischer und theologischer Begriffe als eine innere Bestimmung des christlichen Lebens. Erscheint so die böse Welt, in deren blinde Zufälle das Dasein gebannt ist, als die Schranke, die den Menschen von jeder Aktivität trennen müßte, so steht – doch nur scheinbar – einer solchen Erkenntnis der positive Kampf der Lettres provinciales gegenüber. Der Pamphletist ist nämlich das Werkzeug Gottes, dessen Wille im Sieg oder in der Niederlage der Wahrheit zum Vorschein kommt. Der Aufsatz bietet ein vorzügliches Beispiel der Interpretationskunst: in allen Formulierungen verlieren wir das Fragment nicht aus den Augen, es wird nur seinem Gehalt nach immer wieder neu gefaßt und in anderer Beleuchtung gesehen – es diente als Ausgangspunkt für eine umfassende Deutung, die wesentliche Bezirke Pascalschen Denkens berührt.

Der Pascalanalyse methodisch verwandt ist der Aufsatz über Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene. Im Licht der Anschauung zeigen sich die Dinge am besten, und deswegen geht die Interpretation – wie die Kunsthistorie von einem Bild – von dem vierten der Spleengedichte BaudelairesBaudelaire, Ch. aus, dessen charakteristisches Merkmal ist, daß es ein frühes Beispiel tragischer Darstellung des Niederen und Würdelosen bietet.3 In dieser Richtung lag ein scharfer Gegensatz gegen alle RomantikRomantik, aber auch gegen jede Beschreibung des Körperlich-Geschlechtlichen im leichten Stil. Indem die weitausgreifenden Beziehungen der Fleurs du Mal zum Realistisch-Gräßlichen und zum Sinnlichen mit einem aus erhabenen Quellen der Phantasie geschöpften Inhalt erfüllt werden, entsteht ein ganz neuer Stil, der mit dem Anfang einer Universalität verflochten war. Einer Universalität, die, antik-christlichem, klassischemKlassik (französische) wie romantischem Denken unbekannt, einen Resonanzboden ergeben mußte, dessen Bereich unendlich war. Als ein Künstler erscheint BaudelaireBaudelaire, Ch., dessen Visionen einer künstlichen Sinnlichkeit christlichem Geist entgegenwirkten und die Literatur des Jahrhunderts in andere Bahnen gelenkt haben. Es ist, als ob ein Vorhang sich gehoben hätte und wir nun in eine Welt sehen würden, in der sich ein ganz neues Verhältnis anbahnt zwischen dem Niederen, dem Elend und dem Erhabenen, den letzten Dingen – eine complexio oppositorum, doch nicht mehr gebunden an die Vorherrschaft der Transzendenz … Formale Analyse der individuellen Form und Erscheinung und systematische Perspektive ergänzen einander in dem Aufsatz, der die Trennungslinien zwischen der Kunst Baudelaires und der früherer Zeiten zieht und erkennen läßt, warum man in den Fleurs du Mal den Anstoß zu neuer künstlerischer Orientierung suchen muß.

Hier, aber auch in den wortgeschichtlichen Studien über figura, humilishumilis, passiopassio oder gloria passionisgloria passionis,4 und in jedem Kapitel der Mimesis hat die Methode der Anschauung das Höchste erreicht, um, vom Einzelnen ausgehend, Gliederung, Verteilung und Struktur aufzufassen, geschichtlich bestimmte Individualitäten zu erkennen, die allen Richtungen etwas aufprägten, um oft in der Fülle verwandter oder entgegengesetzter Beziehungen die Deutung zu gewinnen. Die Beschreibung der Phänomene enthält noch nicht die Interpretation, bringt aber ihren anschaulichen Gehalt zur Geltung, in einer Art von Vorverständnis, die eine explizite Erklärung vorbereitet.

In jene die Linien der Forschung weit ausdehnende Verfahren – sie sind zusammengezogen in der Introduction aux études de philologie romane (erste Aufl. Frankfurt, 1949) – fügt sich früh ein soziologischer Zug. Seit seiner Erstlingsarbeit interessierte Auerbach die Herkunft der Schriftsteller und die Zusammensetzung ihres Publikums. So wurde er Meister auf einem Gebiet, das an der Peripherie der Philologie zu liegen schien Soziologie mit Philologie und Stilkritik verbindend, dachte er stets an die Wirkung eines Autors auf die Leser, die oft erst unter dem Eindruck eines bedeutenden Textes sich zu einem «Publikum» zusammenschlossen. Verschiedene Leserkreise treten in den Schriften Auerbachs mit scharfer Bestimmtheit heraus: das mittelalterliche Publikum, das gebildete des französischen 17. Jahrhunderts, das moderne, das so oft der einigenden Formung durch den Autor zu widerstreben scheint, das «abendländische und seine Sprache». Dadurch entsteht der geschichtliche Konnex eines Schriftstellers mit einer bestimmten Gedanken- und Gefühlswelt, und in isolierte Texte strömen die gesellschaftlichen Quellen, als ob die jeweilige «Öffentlichkeit» Sprache und Literatur nie aus ihrem Bann entlassen könnte.

 

So vergleicht er PetroniusPetronius mit Gregor von ToursGregor v. Tours:5 jener ein «gebildeter und großer Herr, der seinesgleichen mit allem Raffinement eine Posse vorführt», dieser hat nichts anderes zur Verfügung als «sein … schülerhaft gewordenes Latein; er hat keine Register, die er ziehen, kein Publikum, auf das er mit einer ungewohnten Würze, einer neuen Stilvariante wirken könnte». Oder es wird aus der Tatsache, daß keine grundsätzlichen Verschiedenheiten im Bildungsstand der Laienbevölkerung bestanden, auf den «volkstümlichen» Charakter der Chansons de gesteChanson de geste geschlossen: «Diese Dichtung handelt zwar ausschließlich von den Taten der feudalen Oberschicht, aber sie wendet sich ohne Zweifel an das Volk.» Umgekehrt konnte das Ideal des höfischen RomansRoman (höfischer), in dem «das Funktionelle, geschichtlich Wirkliche des Standes verschwiegen wird», sich ganz verschiedenen Lagen, ganz verschiedenen Zeiten anpassen. Und im Decamerone gestaltet sich die wahre Geselligkeit dank einer Fülle von Beziehungen, die an das entsprechende antike Genus, an den antiken Liebesroman, die fabula milesiacaFabula milesiaca erinnert. In allen Anregungen liegt eine Wechselwirkung vor, das bel parlare zieht den Hörenden in Mitleidenschaft und wirkt zurück auf den Erzähler. «Das ist nicht verwunderlich», bemerkt Auerbach, «da die Einstellung des Schriftstellers zu seinem Gegenstand, und die Publikumsschicht, für die das Werk bestimmt ist, sich in beiden Epochen ziemlich genau entsprechen». Wiederum ist RabelaisRabelais, F. zwar «volkstümlich», «da man jederzeit einem ungebildeten Publikum, sofern es seine Sprache versteht, mit seinen Geschichten große Freude machen kann, aber die eigentlichen Adressaten seines Werkes sind die Angehörigen einer geistigen Elite, nicht das Volk». Nicht jenes Volk, an das sich die reformatorische Publizistik gewandt hat, die sich stets – so in Theodore de BèzeBèze, Th. de – von den façons esloignées du commun der Humanisten distanziert hat. MontaigneMontaigne, M. de ist schließlich der erste Schriftsteller, der für eine Schicht von Gebildeten schrieb, die die fachliche Spezialisierung perhorreszierten und sich auch beruflich nicht festlegen wollten – «an dem Erfolg der Essais erwies das gebildete Publikum zum ersten Mal seine Existenz. Montaigne schreibt nicht für einen bestimmten Stand, nicht für ein bestimmtes Fachgebiet, nicht für ,das Volk‘, nicht für die Christen; er schreibt für keine Partei; er fühlt sich nicht als Dichter: er schreibt das erste Buch der laienhaften Selbstbesinnung, und siehe da, es gab Menschen, Männer und Frauen, die sich als Adressaten empfanden.» Wir erkennen schon an diesen Beispielen die Fruchtbarkeit des Prinzips, das die Wechselwirkung von Autor und Leser ins Auge faßt und zugleich den möglichen dialektischen Charakter des Publikumsbegriffes: wir können auf ein volkstümliches, ein ständisch bestimmtes Publikum treffen, aber auch auf ein Publikum, das erst entsteht dank der persönlichen und schriftstellerischen Wirkung eines Autors, der ein neues Lebensideal ausspricht. Doch auch im elisabethanischen Theater des 16. Jahrhunderts enthüllt sich, daß Stoffe aus allen Ländern den Stimmungsreiz des Fremden für das englische Publikum um 1600 enthielten. Die Poesie zog dank dem schon dem 6. Jahrhundert eigentümlichen «hohen Maß von perspektivisch-historischem Bewußtsein» die verschiedensten Kräfte und Regionen an sich, die entgegengesetzten Welten von Ideen drängten sich in die Phantasie der Dichter. Unter solchen Bedingungen stand das antike Theater nicht. «Der Kreis seiner Gegenstände war zu beschränkt, weil das antike Publikum andere Kultur- und Lebenskreise als den eigenen nicht als gleichwertig und nicht als beachtenswerten künstlerischen Gegenstand ansah.» Die poetische Phantasie kann in ihren Strom aufnehmen, was dem Geschmack einer Zeit, einer Gesellschaft entspricht oder Töne eines elementaren Empfindungslebens, Formen des Ausdrucks finden, die, unzeitgemäß zunächst, erst in einer späteren Generation auf ein aufnahmefähiges Publikum treffen. Wenn sich Autor und Publikum nur in der Peripherie ihres Wesens anziehen, eine neue Kunst des Anschauens und Gestaltens erst im Zug einer späteren Entwicklung verwirklicht wird, dann mischt sich in den Flug der Phantasie vieler Schriftsteller des 19. Jahrhunderts der unbezwingliche Haß gegen die Verständnislosigkeit des Publikums – bei StendhalStendhal, H., Baudelaire, den GoncourtsGoncourt, E. u. J..6 Ihre kritische Stimmung haben spätere Generationen in sich aufgenommen und in Einsichten, in unzeitgemäßen Betrachtungen, in kritischen Analysen ihrer Gegenwart verdeutlicht. Stendhal dachte nur an die happy few, KierkegaardKierkegaard nur an jenen Einzelnen, den er «mit Freude und Dankbarkeit seinen Leser nannte». Diese Seite eines systematischen Widerspruchs gegen die Zeit wurde bis heute auf die mannigfachste Weise beleuchtet und fortgeführt, aber seine Grundlinien an keinem Punkte ausgelöscht.

Auerbachs Gesichtspunkt, das heißt die Frage nach dem Verhältnis von Autor und Publikum, den wir, ihn etwas ergänzend, beschrieben haben, leitete aber zu einer Reihe von neuen Fragen, denen das Dantebuch schon präludierte, und die in zahlreichen Aufsätzen zur Divina Commedia sowie in seinem letzten Buch über Literatursprache und Publikum zu einer organischen Fortsetzung führten. Hier fand er den Leitfaden für die Erweiterung seiner Einsicht. Ob er DantesDante Anreden an den Leser analysiert und zeigt, wie sie als eine Form christlicher Beschwörung sich von der antiken ApostropheApostrophe unterscheiden, ob er in einem Vergleich der Camillaepisode aus VergilVergil mit dem entsprechenden Stück des hundertfünfzig Jahre späteren altfranzösischen Enéas zugleich Wandlungen des hohen Stils und die veränderte Gesellschaftsschicht im Auge hat, an die sich der mittelalterliche Dichter wendet, wenn er die OvidscheOvid Liebeskasuistik aufnimmt – überall ist der Ton angeschlagen, der vielfach weiterklingt in dem kühnen Entwurf über das abendländische Publikum und seine Sprache, in dem umfassende Gesichtspunkte hervortreten: Struktur des römischen Publikums, und – als die nationalen Sprachen ihre Selbständigkeit gegenüber dem Latein erlangt hatten – Entstehung einer neuen Gesellschaftsschicht, die auch durch eine bestimmte Summe literarischer Anschauungen und Gefühle bestimmt war. Die Analyse führt zu dem Punkt, an dem der mächtige Schatten der auseinandergleitenden antiken Welt schwindet und die lateinische Literatur aufhört «antikisch zu sein», dafür aber mit vielen Fasern in die werdenden Vulgärsprachen hineinragt, von denen sie erst seit der karolingischen Reform sich wieder zu lösen beginnt. Es ist eine Übergangszeit, in der die stilumbildende Kraft des spätantiken und frühmittelalterlichen Lateins und der Vulgärsprachen einen neuartigen Ausdruck geschaffen hat und in der das In-, Neben- und Durcheinander vieler Formen zu immer neuen Formulierungen führt. Doch erst als sich wieder eine Minorität von Gebildeten mit eigenem Pulsschlag und oft auch mit realer Organisation findet, ist nach einer Jahrhunderte währenden Pause, in der das Latein Sondersprache der Liturgie und der Kanzleien war, wieder eine Gesittung erreicht, die sich mit der antiken vergleichen läßt. Auerbachs soziologische Frage nach Zusammensetzung und Funktion des Publikums verschiedener Epochen trifft stets mit einer stilkritischen zusammen. Wieviel Verständnis er im Umkreis der Dichtung zeigt, ist bekannt: schon in dem Dantebuch hat er in einer sich stets auf gleicher Höhe haltenden Diktion entdeckt, wie das poetische und individuelle Moment der vita nuova das Konventionelle des dolce stil nuovoDolce stil nuovo überwiegt; sein feines Ohr, seine künstlerische Empfänglichkeit vernahmen den zauberhaften, verborgenen Ton von DantesDante Jugendgedicht.

Von der Meisterschaft, einen Text zu analysieren, legen schon die Aufsätze beredtes Zeugnis ab. Aber man versteht sie besser, wenn man sie im Zusammenhang mit der Mimesis, mit der Geschichtskonstruktion und Selbstinterpretation des Autors liest und sich zu seinen theoretischen Voraussetzungen zurückführen läßt. Dann erkennt man, daß jede Einzelinterpretation als Teil des umfassenden Planes gedacht ist, die die «Anschauung von einem Geschichtsverlauf», eine paradigmatische Anschauung vom Menschengeschick, enthalten soll. In der Mimesis stehen die Textproben am Eingang jedes Kapitels, aber nicht, um zur Erfassung ihrer individuellen Form eine begründete Theorie für die immanente Stilforschung aufzustellen, sondern um durch eine Hermeneutik, in der literarische, stilistische, geschichtliche Probleme sich unlösbar verschlingen, ihre Farben zu erhalten. Leicht fügt eine Linie des Gedankens sich an die andere, bis wie spontan die Lösung sich heraushebt. In seltenem Grad wurde hier die Philologie dank einer verführerischen Gabe der Interpretation zur nachschaffenden Kunst des Verstehens, die ihre Wurzeln in die deutsche Tradition senkt. «Mimesis», so sagt Auerbach, «versucht Europa zu verstehen, aber es ist nicht nur wegen der Sprache ein deutsches Buch. Wer die Struktur der Geisteswissenschaften in den verschiedenen Ländern ein wenig kennt, sieht das sofort. Es ist aus den Motiven und Methoden der deutschen Geistesgeschichte und Philologie erwachsen, und wäre in keiner anderen Tradition denkbar als in der der deutschen RomantikRomantik und HegelsHegel, G. W. F., und es wäre nie geschrieben worden ohne die Einwirkungen, die ich in meiner Jugend in Deutschland erfahren habe.»7

Wir versuchen, die Linien von Auerbachs Geschichtskonstruktion zu umschreiben, das gestaltende Prinzip zu kennzeichnen, das sich in jedem seiner Aufsätze, in jedem Kapitel der Mimesis auswirkt. Denn die Idee des Ganzen wird gerade durch die Verkettung der einander bedingenden Phänomene sichtbar. Die Schlüsselbegriffe, deren Auerbach sich immer wieder bedient, sind die der StiltrennungStiltrennung und StilmischungStilmischung. Vergleicht man nämlich die verschiedenen Interpretationen, die die Wirklichkeit in der Geschichte gefunden hat, so treten immer schärfere Grundformen heraus, an welche die Literatur in allem Wechsel und in aller Vielgestaltigkeit unlöslich gebunden zu sein scheint. Die antike Theorie von den Höhenlagen des Stils, denen bestimmte Gattungen entsprechen müssen, eine Theorie, für die jeder Klassizismus, im besonderen der französische des 17. JahrhundertsKlassik (französische), eine neue Resonanz schafft, steht in scharfem Gegensatz zu dem mittelalterlichen «RealismusRealismus»,Realismusim MA und diese Antithetik dient dazu, die Eigentümlichkeit beider Wirklichkeitsdarstellungen durch den Kontrast um so deutlicher zu bezeichnen. Im mittelalterlichen Realismus, in den typologischen Anspielungen der Divina Commedia, von denen mehrere Artikel dieses Bandes handeln, werden zeitlich und kausal weit voneinander entfernte Ereignisse miteinander verknüpft. Die typologische Interpretation löst jedes von ihnen aus dem Zusammenhang, in dem es geschah, heraus, und verknüpft sie durch einen beiden gemeinsamen Sinn.