K E S S

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Erhard Schümmelfeder

K E S S

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

K E S S

DIE ZWÖLF GESCHORENEN

MISTER MILLER IN AMERIKA

DIE BELAGERUNG

VORLESEN

DER FREUND MEINER TOCHTER

DÜNNE WÄNDE

AUF ZIMMERSUCHE

Impressum neobooks

K E S S

In unserer Nachbarschaft gab es früher einen Jungen namens Frantek, der vor anderen Kindern gegen Zahlung von zwei Groschen einer toten Maus den Kopf abbiss. Ein Jugendlicher, den alle Gonzo riefen, hatte sich bei einer Mutprobe zwischen den Gleisen auf dem nahegelegenen Bahndamm von einem herandonnernden Zug überrollen lassen. Als ich - kaum sieben Jahre alt - meinen Eltern hiervon erzählte, sah meine kopfschüttelnde Mutter sich bestätigt in der Absicht, bald schon die als Arme-Leute-Gegend bekannte Redingstraße für immer zu verlassen.

Wir zogen noch vor dem Winter in eine neue Wohnung am Galgenberg. Auch in dieser „besseren“ Gegend gab es Nachbarn, über die Mutter sich insgeheim erhaben dünkte. Mein Vater hingegen, von Natur aus gutmütig gestimmt, teilte selten ihre von tiefverwurzeltem Misstrauen geprägten Ansichten.

Bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr verlief mein Leben in „geordneten Bahnen“. Wie aber kam es, dass ich plötzlich, von einem Tag zum anderen, ins Straucheln geriet?

Ich erinnere mich:

Mein Vater, der Sylvia David anfangs nur zwischen Tür und Angel zu Gesicht bekam, wenn sie mich nachmittags besuchte, um mit mir Biologie, Englisch und Mathematik für die Schule zu üben, nannte sie ironisch Schneewittchen. Es war eine Anspielung auf ihr langes schwarzes Haar, das in Locken bis zur Mitte ihres Rückens hinunterwallte. Indessen zeigte Mutter sich meiner Schulkameradin gegenüber mit kühler Reserviertheit, weil sie eine Sitzenbleiberin war, die sich öfter mit alkoholisierten Jugendlichen bei den Spielhallen traf. Außerdem wohnte sie in der Redingstraße.

Nur einmal aß Sylvia mit mir und meinen Eltern zu Abend. Eine flackernde Kerze brannte auf dem gedeckten Tisch, als wir uns setzten. Es duftete nach frischem Krustenbrot und Kirschwein. Artig warteten wir auf meinen Vater, der noch rücklings unter der Spüle auf dem Fliesenboden lag und versuchte, im Schein seiner Taschenlampe die widerspenstige Schraube von einem alten Rohr zu lösen, um eine Gummidichtung zu wechseln.

„Du kannst doch später weiterarbeiten“, wandte sich Mutter ungeduldig an ihn.

Mein Vater, in handwerklichen Dingen ungeschickt, wollte zuvor den Zweikampf mit der Schraube gewinnen. Er setzte das gezackte Maul der Zange erneut an den Schraubenring und versuchte ihn zerrend loszudrehen. Der Versuch misslang. Wir hörten ihn verzweifelt schnaufen. Dann sammelte er alle Kräfte, packte fest zu und würgte an dem Ring, während sein Gesicht sich rot ver­färbte. Die Adern an seinem Hals traten hervor. Er zitterte vor Kraftanstrengung. Er gab nicht auf. Etwas in seinem Blick schien zu sagen: Einer von uns beiden - die Schraube oder ich.

„Darf ich helfen?“, richtete sich Sylvia an meinen Vater. „Ich kenne mich aus.“

Die erhobenen Arme meines Vaters bildeten ein Tor, durch das er keuchend zu uns herüberschaute. „Das hier ist harte Männerarbeit“, ließ er sich aus der Nische vernehmen. „Nichts für feine Damenhände. Ich rufe gleich den Klempner an.“

Sylvia stützte ihre Ellenbogen auf dem Tisch ab, faltete beide Hände vor dem Gesicht und legte ihr Kinn darauf. Es wirkte sehr vornehm. Dann sagte sie: „Ein Linksgewinde öffnet man, indem man es rechts herum dreht.“ Erklärend fügte sie hinzu: „Weiß ich von meinem Vater. Er war Klempner.“

Für gedehnte Sekunden herrschte peinliche Stille in unserer Küche. Dann vernahmen wir das befreiende Knirschen der festgerosteten Schraube am Rohr.

Nachdem mein Vater sich die Hände gewaschen hatte, setzte er sich zu uns. „Linksgewinde. Rechts herum. Sowas -“, murmelte er immer wieder und kratzte sich an seinem Haarkranz, während Mutter ihre Lippen uneinsichtig aufeinanderpresste.

Während des Essens beteiligte Sylvia sich flinkzüngig und witzig an unseren Gesprächen. Bei meinem Vater hatte sie einen Stein im Brett. Für ihn war sie seit dieser Begegnung Lady Madonna. Mutter hingegen hüllte sich zumeist in Schweigen. Nur einmal hörte ich später, wie sie Sylvia als kess bezeichnete.

An meinem Schreibtisch blätterte ich bald darauf im Wörterlexikon, um die Bedeutung dieses Begriffes zu ergründen. Aus der umfangreichen Liste der Erklärungen merkte ich mir: kess: vergnügt, vorlaut, frech, frivol.

Sylvias Erscheinung änderte sich mit ihrer modischen Kurzfrisur, als sie mit siebzehn im Sommer unsere Schule verließ und eine Lehre im Friseursalon Peters begann. Nur wenige sich kringelnde Haare in ihrem zarten Nacken erinnerten noch an die einstige Lockenpracht. Nun konnte man auch ihre silbernen Perlohrstecker sehen.

Während ich meinen Freundeskreis vernachlässigte, wurde Sylvia der Mittelpunkt meines Lebens. Bis in den Winter hinein gab es zwischen uns eine Vereinbarung: Fast jeden Abend, wenn der Salon in der Grubestraße geschlossen war, trafen wir uns in meinem Zimmer, um weiterhin Hausaufgaben zu machen. Zurückblickend sehe ich, in Gedanken versunken, wie sie den Schlüssel in der Tür mit einer schüchternen Bewegung ihrer linken Hand herumdrehte, über den weißen Teppich durch das Zimmer schritt und die orangenen Vorhänge am Fenster zuzog. In dem gedämpften Licht erkannte ich vom Bett aus nur noch ihre Silhouette.

„Mach die Augen zu.“

Aus einem Grund, über den sie sich nie äußerte, wollte sie nicht, dass ich ihr beim Ausziehen der Kleidung zusah.

Ich verschränkte meine Hände hinter dem Kopf, schloss die Augen und lauschte gespannt. Zuerst hörte ich - ritsch, ratsch - wie sie ihre Schuhe öffnete. Nach dem stumpfen Rauschen beim Abstreifen des Wollpullovers das leise Reißverschlussgeräusch an ihrer Jeans. Dann vernahm ich ein elektrisierendes Knistern und konnte es sogleich einordnen: Nylonstumpfhose.

„Blinzelst du?“

„Nein.“

BH und Höschen behielt sie an, als sie an der Musikanlage neben dem Kleiderschrank hantierte, eine Schallplatte auf den Drehteller legte und die Nadel des Tonarms vorsichtig aufsetzte. Sie wartete, bis aus den Lautsprechern an der Wand die neblig verschwommenen Synthesizer-Töne ihrer Lieblingsmusik erklangen: Visionary Mountains von Manfred Mann’s Earth Band. Erst als ich ihre nackten Beine unter der Bettdecke spürte, durfte ich meine Augen wieder öffnen.

Später fragte sie mich über meine Mitschüler aus und wollte Neuigkeiten über ihre alten Lehrer hören. Im Gegenzug erfuhr ich von dem gespannten Verhältnis zu ihrer Chefin. Über ihre Mutter, die in einer Möbelfabrik im Schichtdienst arbeitete, erzählte sie fast nichts. Ihr Stiefvater war oft wochenlang als Fernfahrer im Ausland unterwegs.

Ich zeigte ihr meine Landschaftsfotos. Sie liebte plakative Naturerscheinungen: Wildbewegte Wolkenszenarien, blutrote Abendhimmel und goldglühende Sonnen. Mein Lehrer, Herr Reichelt, bezeichnete Motive dieser Art als Caspar-David-Friedrich-Stimmungen. Für mich waren sie Sylvia-David-Himmel.

Bei jedem Besuch meiner Freundin signalisierten die Blicke meiner Mutter, wie sehr sie diese Beziehung missbilligte. Um Konflikten aus dem Wege zu gehen, traf ich mich schließlich mit Sylvia nur noch in der Wohnung ihrer Eltern. Von ihrem Zimmerfenster aus hatte man einen Blick über rote Häuserdächer und Kleingärten, hinter denen der Kirchturm unserer Stadt aufragte.

War sie schön? Ja. - Jungen verstummten plötzlich, wenn sie den Raum betrat. Mädchen blickten ihr auf der Straße nach. - Ich wollte sie nicht verlieren. Immer wieder fotografierte ich sie: Vor einem goldenen Kornfeld, im herbstbunten Wald, am Ufer der Weser, während im Hintergrund Eisschollen auf dem Wasser in die Richtung der Brücke trieben …

In ihrem mit Starpostern tapezierten Zimmern gab es keine Bücher. Aus meinem Lieblingsbuch, Cold River, las ich ihr die ersten Kapitel vor, während sie im Bett neben mir, mit dem Kopf an meiner Schulter, schweigend lauschte. Es war die Geschichte zweier Kinder, die nach dem Tod des Vaters in der amerikanischen Wildnis zu überleben versuchten. Auf Seite 134 legte ich ein Foto von mir als Lesezeichen ein.

„Ich könnte dir stundenlang zuhören.“

Immer öfter forderte meine Mutter mich auf, ihr bei der Betreuung ihres Vaters behilflich zu sein. Mein Großvater wohnte allein in seinem Haus neben dem städtischen Freibad. Er befand sich im Anfangsstadium einer Demenz. Hartnäckig weigerte er sich, zu uns zu ziehen, um seine Unabhängigkeit zu bewahren.

Ein Jahr zuvor, als seine Erkrankung von Ärzten diagnostiziert worden war, hatte er seine Wahrnehmungsstörungen noch spielerisch ins Lächerliche gezogen. Als ich ihm von Daniela, meiner damaligen Freundin, erzählte, wollte er die Farbe ihrer Haare wissen: Schwarz, rot, blond? Wahrheitsgemäß antwortete ich: Blond. Er verstand stattdessen: Blind. Auf seine Frage, ob man mit ihr Pferde stehlen könne, sagte ich, sie sei nett. Er empörte sich theatralisch darüber, weil sie zu fett sei. Aus der spaßhaften Bagatellisierung seiner Demenz wurde bald schon bitterer Ernst: Immer öfter saß er, in konfuse Selbstgespräche vertieft, auf der Holzbank neben den Sonnenblumen im Garten, hörte nicht, wenn man ihn ansprach, nässte sich ein und irrte verstört durch die Kellerräume seines Hauses.

 

Meine Mutter pflegte Großvater, kochte für ihn, sorgte für Sauberkeit und Ordnung und erledigte alle Schriftsachen. Nur widerwillig half ich ihr bei den anfallenden Arbeiten. Beim Aufräumen des Vorratskellers wurde mir bewusst, wie nachhaltig Großvater durch die Hungerjahre der Kriegszeit geprägt war: Die ewige Angst vor Notlagen war der Grund für die schwer beladenen Regale an den weißgetünchten Wänden. Erbsen Möhren, Bohnen, Kürbisstücke, Stachelbeeren und Kirschen in verstaubten Gläsern, Leberwurst, Blutwurst und Sülze in Dosen, Kartoffeln in einer Kiste, Schinken und Würste an Eisenhaken unter der Decke - alles hortete er im Überfluss. Sein Vorratsdenken war darauf ausgerichtet, vollständige Sicherheit zu erlangen. Die Furcht vor Verarmung hatte ihn bereits in den zurückliegenden Jahren veranlasst, überall im Haus Sparbücher und Bargeld zu deponieren.

Einmal, als ich die frisch gebügelten Hemden in seinem Schlafzimmer in den Eichenschrank packte, entdeckte ich hinter einem Stapel mit Bettwäsche ein Ledermäppchen mit Geldscheinen. Im untersten Fach, zwischen gefalteten Wolldecken, fand ich eine schwarze Metallkassette mit einem silbernen Griffbügel.

Obwohl ich über genügend Taschengeld verfügte, zog ich aus dem Ledermäppchen vier 50-Markscheine heraus und steckte sie, wobei ich verstohlen über die Schulter zur offenen Tür spähte, in die Brusttasche meiner Jacke. Ich rechtfertigte mein Handeln, indem ich mir einredete, Großvater würde den Verlust des Geldes niemals bemerken.

Einen Tag später kaufte ich Sylvia eine platinfarbene Armbanduhr und ein teures Parfum in einer opalroten Kugelflasche, die beim Öffnen des goldenen Deckels einen dezenten blumigen Duft verströmte.

„Du bist so lieb zu mir.“

Als Großvater nach einem Sturz im Treppenhaus ins Krankenhaus eingeliefert wurde, gehörte es zu meinen täglichen Aufgaben, im Haus nach dem Rechten zu sehen, den Kanarienvogel in der Küche zu füttern und alle Zimmer zu lüften. Innerhalb weniger Tage schrumpfte das Geldbündel im Kleiderschrank auf die Hälfte. Als das Ledermäppchen vollständig geleert war, warf ich es in den Müll.

Ich hortete die Scheine in einem Karton, den ich in meinem Zimmer unter dem Bett versteckte. Die tieferen Beweggründe meiner Diebstähle waren mir nur undeutlich bewusst. Ich wollte das Geld besitzen, um – wann immer es mir beliebte – darüber zu verfügen. Ich dachte auch an Sylvia, die nicht ahnte, aus welcher Quelle die Geschenke für sie bezahlt wurden.

Einige Male fuhren wir - anfangs mit dem Bus, dann mit dem Taxi - in die Kreisstadt, um uns bis zum Abend im Kino, im Eiscafé und in den Geschäften zu vergnügen. Sylvias arglose Frage, woher das Geld stamme, beantwortete ich mit einer schlüssigen Erklärung: Es sei mein gespartes Kommunionsgeld. Über die Höhe der Summe ließ ich sie Vermutungen anstellen, ohne das Geheimnis jemals preiszugeben.

„Du bist mir einer!.“

Nach der Schule hatte ich oft drei Stunden Zeit, bis ich Sylvia von ihrer Arbeitsstelle abholte. Ohne sie begann ich mich zu langweilen. Manchmal, wenn gigantische Wolkengebirge am Himmel entstanden, fuhr ich mit meinem Rad durch die Stadt ins Grüne, um meine Fotosammlung mit Landschaften unserer Umgebung zu vervollständigen. Auf einem Schrottplatz sah ich Frantek, den Kopfabbeißer, in seinem blauen Monteursanzug, wie er die Räder eines zerbeulten Unfallwagens mit einem Kreuzschlüssel abschraubte.

Am Springbach gelang es mir, mit dem Teleobjektiv meiner Kamera eine Wasseramsel auf einem Haselnusszweig zu fotografieren.

Zwei Tage später, als ich Sylvia nach Feierabend vor dem Salon erwartete, zeigte ich ihr die Farbbilder, die ich zuvor aus dem Fotoladen abgeholt hatte. Ich berührte den Stapel mit Hochglanzbildern nur am Rand, um keine Fingerabdrücke auf den Oberflächen zu hinterlassen. Sie aber durchblätterte die Fotos ohne Interesse wie ein Kartenspiel. Etwas schien sie zu bedrücken. Sie hatte geweint, denn die Schminke unter ihren Augen war ein wenig verwischt.

Tags darauf wiederholte sich die Szene in ähnlicher Weise. Abends betrat ich den Laden, um Sylvia abzuholen. Hinter dem schaukelnden blauen Vorhang neben der Verkaufstheke wurde heftig miteinander gestritten.

„Ich bin aber im Recht“, hörte ich Sylvia sagen.

„Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen“, sagte Frau Peters. „Der Kunde ist bei uns König. Vergiss das nicht. Du wirst jetzt zu der Dame gehen und dich in aller Form bei ihr entschuldigen!“

„Am besten noch mit einem Kniefall, wie? - Nee, das kann ich nicht einsehen.“

»Ich fürchte, mein liebes Kind, dann werden wir uns wohl trennen müssen«, vernahm ich wieder die Stimme von Frau Peters, die nach einem Mo­ment der Stille mit versteinertem Gesicht den Vorhang beiseite schob, zur Laden­theke schritt und mich anfreundlichte. „Guten Tag. Womit kann ich dienen?“

Vor ihren Eltern versuchte Sylvia, den Verlust der Lehrstelle zu verheimlichen. Ich gab ihr vierhundert Mark aus meinem Karton, denn ich wollte sie bei ihrem Vorhaben unterstützen. In Gedanken rechnete ich mit naivem Eifer bereits aus, wie lange mein Geldvorrat reichen würde, um ihr Geheimnis zu bewahren.

Im Krankenhaus wurde meinem Großvater eine künstliche Hüfte einzementiert. Zweimal in der Woche besuchte ich ihn. Meistens schlief er, wenn ich auf leisen Sohlen an sein Bett trat. Immer war er allein im Zimmer. Wenn er erwachte, versuchte ich, ein Gespräch mit ihm zu führen. Er hatte gleichgültige Tränensackaugen und schlaff hängende Wangen.

„Oppa, erkennst du mich? Ich bins, Till.“

Er blickte durch das Fenster in den sonnigen Park und schien über meine Worte nachzusinnen.

„Zu Hause ist alles in Ordnung. Ich habe heute deine Blumen gegossen.“

Langsam wandte er seinen Kopf zur Seite. Ich sah, wie sich seine trockenen Lippen öffneten.

„Du?“, hauchte er im Tonfall äußerster Verwunderung.

„Ja. Ich habe alle Zimmer gelüftet und deinen Vogel gefüttert.“

Er riss seine Augen weit auf. Mit ungläubigem Blick rief er:

„Du?“

„Deine Tageszeitung habe ich dir auch mitgebracht.“

„Du?“

Ein Gespräch, wie ich es mir gewünscht hätte, war nicht möglich. Meine Mutter hatte mir aufgetragen, ihm ein Glas Wasser zu reichen, „damit er nicht austrocknet“. Auf dem Nachtschrank neben dem Bett sah ich eine weiße Tablettenschachtel mit vier Fächern unter einer durchsichtigen Plastikabdeckung: morgens - mittags - abends - nachts. Ein Glas, mit Mineralwasser gefüllt, beschwerte ein weißes Blatt, auf dem die Trinkmenge für Großvater notiert wurde. Ich nahm das Glas, hielt es an seine Lippen, aber er trank nicht.

Vor dem Unterricht fuhr ich am nächsten Morgen wieder zu seinem Haus. Ich sah nach dem Rechten, fütterte den Vogel und lüftete die Zimmer. Die schwarze Geldkassette aus seinem Kleiderschrank steckte ich in meinen Leinenbeutel mit den Turnschuhen. Es war eine spontane Entscheidung. Dann radelte ich im Nebel zur Schule.

Ein Zipfel des Beutels, den ich vorn an die Lenkstange gehängt hatte, geriet ständig zwischen die Speichen des Vorderrades und gab ein flatterndes, schnurrendes Geräusch von sich.

Ich erinnere mich sehr deutlich: Ich war der Letzte, der an diesem Morgen in den Kursraum eilte. Heftig atmend sank ich in der hintersten Bankreihe auf meinen Stuhl und hängte den beigefarbenen Beutel an den seitlichen Tischhaken.

Herr Reichelt, unser Deutschlehrer, stellte seinen schwarzledernen Aktenkoffer auf das Pult, öffnete den Verschluss und zog mit einem Griff den Stapel kor­rigierter Aufsätze hervor.

„Guten Morgen, Herr­schaften“, sagte er gutgelaunt, bevor ihm ein müdes Echo den Gruß erwiderte. Er reichte Veroni­ca die Hefte zum Verteilen. Dann sagte er:

„Tja, im We­sentlichen bin ich mit allen Arbeiten recht zufrieden. Die Aufga­ben­stel­lung war lösbar: Beschreibe ei­ne Konfliktsituation zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer Prägung. Zeige Lösungsmöglichckeiten auf. - In nahezu allen Aufsätzen lautet die Grundbotschaft: Die Liebe zwischen Mann und Frau muss alle Gegensätze überbrücken. Das hat mir außerordentlich gut gefallen. Es sind einige sehr originelle Beiträge dabei, die wir uns gleich noch anhören werden. - Übrigens, Danny, zur Information: Sechs, die Zahl, schreibt man mit ch, nicht aber mit x. Das solltest du dir hinter die Ohren schreiben, sonst könnte es später im Leben zu peinlich-kuriosen Missverständnissen kommen.“

„Klar, Chef!“

Ich fand nur wenige Korrekturen in meinem dreiseitigen Text, in welchem ich ein Gespräch zwischen einem weißen Mädchen und einem Farbigen aus Sicht des Mannes geschildert hatte. In dem Satz Sie kam auf mich zu und strahlte, hatte Herr Reichelt das Wort strahlte mit einer roten Wellenlinie unterstrichen. Am Rand der Seite fand ich seine augenzwinkernde Bemerkung: War sie radioaktiv?

Deutsch, Deutsch, Chemie, Geographie, Sport, Sport sah unser Stundenplan an diesem Morgen vor. Nur langsam verging die Zeit. Ich dachte immerzu an das Geld. Ich dachte an Sylvia. Ich dachte an meine Mutter und fragte mich, ob sie von der Existenz der Kassette wusste.

Später, als es endlich zur Pause klingelte, lief Janosch durch den Mittelgang zu den Schränken an der hinteren Klassenwand. Dabei stieß er gegen die Kassette, die schwerfällig am Haken hin und her pendelte.

„Was hast du denn in deinem Turnbeutel?“, frag­te er mich und rieb dabei sei Knie.

„Ne Tellermine“, sagte ich. „Du könntest jetzt tot sein.“

Nachmittags spannte ich die Geldkassette im Werkzeugkeller meines Vaters in den Schraubstock. Zuerst wollte ich das Schloss mit der Bohrmaschine herausbohren, doch wegen des zu erwartenden Lärms wählte ich die Eisensäge, die neben dem Fenster an der Wand hing. Dicht am Rand der Kassette setzte ich das Sägeblatt an. Ratz, fatz, ratz, machte es. Einige Male rutschte ich von dem glatten Metall ab, doch dann fraßen sich die Zähne des Sägeblatts langsam durch das eiserne Fleisch. Erst jetzt, als ich das Gehäuse dicht vor meinen Augen sah, bemerkte ich, dass ihre Oberfläche nicht schwarz, sondern anthrazitfarben lackiert war - wie die Stahlrohrstühle, auf denen wir in der Schule saßen. Stück für Stück sägte ich eine Scheibe von der rechten Eisenwand ab, wobei feine Eisenkörner auf den sauberen Kellerboden rieselten. - Endlich war es geschafft. Ich zog die graue Plastikschatulle heraus. Ein paar Münzen kullerten über die Werkzeugbank. Im Innern des Gehäuses lagen die aufgeschichteten Geldscheine. Ich löste die Kassette aus dem Schraubstock und schob sie mitsamt Inhalt in eine Papiertasche.

Ich nahm von der Wand Hand­feger und Kehrblech, fegte die Eisensplitter vom Boden und warf sie in die Abfalltonne unter der Werkzeugbank. Über die Kellertreppe lief ich hinauf bis zur obersten Stufe und prüfte mit raschem Blick noch einmal den Raum: Alle Spuren waren beseitigt. Nachdem ich den Ausschalter für das Deckenlicht gedrückt hatte, schlich ich durch den Flur in mein Zimmer, um das Geld zu zählen.

Meine zeitweilige Oberflächlichkeit, oft von Herrn Reichelt in der Schule bemängelt, offenbarte sich mir, als ich das Wörterlexikon auf dem Schreibtisch wieder einmal zur Hand nahm. Die rechte Ecke der Seite mit den Bedeutungserklärungen für das Wort kess war noch umgeknickt. Ich bog sie gerade, ließ meine Augen über die Zeilen wandern und las: hübsch, gescheit, unbekümmert, unverschämt, der aktuellen Mode entsprechend …

Am unteren Rand der Seite fand ich die Passage: … kess: aus dem Rotwelschen übernommen; ursprüngliche Bedeutung: „in Diebessachen erfahren“.

All dies traf nicht auf Sylvia zu. Auch ich war weit davon entfernt, mich im engeren Sinne als kess zu empfinden.

Ich nahm mir vor, mich öfter um Großvater zu kümmern und besuchte ihn fast täglich nach der Schule. Er lag noch immer allein im Krankenzimmer. Mit einem bangen Gefühl näherte ich mich jedesmal seinem Bett.

 

„Oppa, ich bins, Till.“

Langsam öffnete er seine müden Augen und drehte seinen Kopf auf dem Kissen in meine Richtung..

„Du?“

„Ich soll dich von Mama und Papa grüßen.“

Zwischen seinen buschigen Brauen bildete sich eine Sorgenfalte.

„Du?“

„Ich habe im Haus ein wenig aufgeräumt.“

Ich sah, wie seine Augen sich weiteten. Etwas wie Entsetzen sprach aus ihnen.

„Du?“

Erinnerte er sich dunkel an das versteckte Geld im Kleiderschrank? Er verfiel in Schweigen und blickte wieder aus dem Fenster in den verschneiten Park. Krähen flatterten auf einen Baum mit kahlen Ästen.

Es war nicht möglich, ein Gespräch mit ihm zu führen. Auf einem Stuhl neben dem Bett lagen noch immer die ungelesenen Zeitungen, die ich ihm in den letzten Tagen gebracht hatte. Ein gefülltes Mineralwasserglas beschwerte wieder ein weißes Blatt mit der Aufschrift Trinkliste auf dem Nachtschrank. Jedes Glas, das er getrunken hatte, war, mit der Uhrzeit und einem Namenszeichen versehen, schriftlich festgehalten worden. Nach der Liste hatte er zuletzt um 12 Uhr etwas getrunken. Nun war es 14 Uhr. Aber die Trinkmenge für 16 Uhr hatten die Stationsschwestern bereits eingetragen und abgezeichnet. Hier stimmte etwas nicht.

Ich nahm das Glas und setzte es vorsichtig an seine rissigen Lippen. Eine Weile geschah nichts. Dann begann er in kleinen Schlucken zu trinken.

Einem spontanen Einfall folgend, fuhr ich im Taxi mit Sylvia bald darauf nach Detmold. Drei Wünsche habe sie frei, sagte ich ihr.

„Wie im Märchen? - Du bist vollkommen verrückt.“

In einer Boutique kaufte ich ihr eine schwarze Lederhose, die ihre schlanken Hüften betonte.

Sie hatte Bedenken, einen kurzen roten Rock mit breiter Gürtelschnalle auszuwählen. Also traf ich die Entscheidung für sie.

In einem Café stützte sie die Ellenbogen auf den Tisch, faltete die Hände vor dem Gesicht und legte ihr Kinn darauf. Es wirkte so vornehm wie an jenem Tag, als sie zum ersten Mal bei uns zu Hause zu Abend gegessen hatte.

„Gefalle ich dir noch?“

Bevor wir Stunden später zurückfuhren, kaufte ich ihr in einem Musikladen am Bahnhof eine Schallplatte: Morning Has Broken.

Vierzig Zwanzig-Mark-Scheine, einhundertsechsundzwanzig 10-Mark-Scheine und einige Münzen lagen in dem Karton unter meinem Bett. Als ich mit unserer Klasse für eine Woche nach Wien reiste, befiel mich ständig die Angst, meine Mutter würde in meinem Zimmer herumschnüffeln und das Geld finden. Die zerstörte Kassette hatte ich im Müllcontainer unserer Schule entsorgt. Ich hätte den Karton an einem sicheren Ort deponieren sollen, sagte ich mir immer wieder.

Nach meiner Rückkehr aus Österreich rief ich bei Sylvia zu Hause an, um mich mit ihr zu verabreden. Zum ersten Mal vernahm ich am Telefon die Stimme ihrer Mutter. Um Sylvias Geheimnis nicht preiszugeben, fragte ich sie, ob ihre Tochter schon von der Arbeit keimgekehrt sei. Nein, antwortete sie und fügte hinzu, Sylvia arbeite nicht mehr im Friseursalon Peters.

Es war bereits dunkel, als ich mit meinem Rad das Haus mit der Nummer 26 in der Redingstraße erreichte. In Sylvias Zimmer brannte Licht. Die Vorhänge waren zugezogen. Ich stieg ab, stellte das Rad in den Ständer neben der Haustür und drückte den Klingelknopf. Nachdem der Summton verklungen war, trat ich in den Flur und lief die zwei Treppen hinauf ins Obergeschoss.

Kaum hatte Sylvia die Tür geöffnet, fiel sie mir um den Hals. Ihre Lippen verschlossen meinen Mund. Aus ihrem Zimmer hörte ich schwebende Harfen­töne, die sie immer als „Unterwassermusik“ be­zeichnete. Die Tür zu Sylvias Zimmer öffnete sich plötzlich. Eine junge Frau mit langen blonden Haaren hängte sich ihre Tasche über die Schulter und lä­chelte mich freundlich an. Ihre Wimpern waren so lang wie die lilafarbenen Fingernägel.

»Hallo«, grüßte sie, wobei sie mich von Kopf bis Fuß musterte.

»Hallo.«.

»Das ist übrigens mein Till«, stellte Sylvia mich vor.

»Eulenspiegel«, ergänzte ich.

Aus dem vertraulichen Blick, den die beiden miteinander wechselten, entnahm ich, dass sie zuvor über mich geredet hatten.

»Ihr kennt euch noch nicht«, sagte Sylvia zu mir. »Das ist Eliane.«

»Jetzt kennen wir uns«, sagte ich und fragte kess: „Habt ihr den gleichen Schminkkurs besucht?“

»Nicht nur den gleichen, sondern denselben“, antwortete Eliane in einem überlegenen Tonfall. Mir war nicht klar, ob es witzig oder belehrend gemeint war. Aus dem Stegreif fiel mir keine passende Entgegnung ein.

»Ich finde den Weg schon«, sagte Eliane.

»Bis morgen dann.«

»Tschüs.«

»Tschüs«, sagte ich.

Sylvias Jeans hingen über ihrem Bett. Sie trug den kurzen cremefarbenen Rock mit dem Lackgürtel und betrachtete sich vor dem Schrank­spiegel. Als sie hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel, fragte sie mich: „Findest du sie nett?“ Kritisch betrachtete sie ihre Erscheinung und drehte sich wie die Figur auf einer Spieluhr.

„Wie soll ich wissen, ob sie nett ist?“, fragte ich. „Wir haben noch keine fünf Sätze miteinander ge­sprochen. Ich kenne sie nicht.“

Dich kennt sie schon“, sagte Sylvia und zog den Rock ein Stück in die Höhe, wobei der Saum fast das Ende ihrer langen Beine erreichte. „Sieht etwas gewagt aus. Findest du nicht?“

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