DIE SCHULE DER ALLESKÖNNER

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Erhard Schümmelfeder

DIE SCHULE DER ALLESKÖNNER

Eine experimentelle Kopfkino-Geschichte mit ungewissem Ende

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Inhaltsverzeichnis

Titel

DIE SCHULE DER ALLESKÖNNER

1

2

Impressum neobooks

DIE SCHULE DER ALLESKÖNNER

1

(...)

Hier beginnt das Manuskript:

Mit gemischten Gefühlen betrat Peter Pencil an ei­nem sonnigen Augustmorgen jene siebenstu­fige Marmortreppe, die ihn fortan zum Schulgebäude führen sollte. Als leseerfahrener Schüler erinnerte er sich an Bücher, in denen Jungen an ihrem ersten Tag in ei­ner neuen Schule Anfeindungen und un­vermeidlichen Schwierigkeiten ausge­setzt wa­ren, von denen er insgeheim hoffte, dass sie ihm erspart blieben. In seiner Tasche befand sich ein Umschlag mit einem bedeutsa­men Dokument, welches ihm - wie er meinte - die nötige Schonung garantierte.

Unbehagen, Interesse, Neugier - er hätte kaum zu sa­gen vermocht, welche seiner schwankenden Empfindungen die stärkste war, als er im Strom einer Mädchenschar auf den weiten Vorplatz kam. Ein Flugzeug hinterließ am Himmel über dem Hauptgebäude zwei Kondensstreifen, die sich allmählich verflüchtigten. Hunderte von Jungen und Mädchen bevölkerten in vielen kleinen Gruppen den Platz: erwartungsvoll, ge­langweilt, zuversichtlich oder gleichgültig. Game-Boy-Spie-ler und Walkman-Hörer hatten die Bänke unter den schattigen Buchen besetzt. Einige Jungen der unteren Jahrgänge spielten zwischen leeren Abfallkörben, die als Torpfosten dienten, Fußball mit einer zerbeulten Coladose. Über dem Stimmengewirr und dem Poltern der Dose vernahm Peter vom Parkplatz her das Aufheulen eines Mofamotors, der dann abrupt verstummte. Er nahm sich vor, am nächsten Tag mit dem Rad zur Schule zu fahren, um auf diese Weise den zehnminütigen Hin- und Rückweg zu verkürzen. Vergeblich suchte er unter all den Schülern ein bekanntes Gesicht. An dieser Schule, die sein Vater zwei Jahrzehnte zuvor ebenfalls be­sucht hatte, war es möglicherweise kaum anders als in den Lernfabriken, von denen er berichten konn­te. Während seine Augen ohne eigentliches Ziel umherwanderten, dachte er daran, dass es auch an die­ser Bildungsanstalt zuging wie überall: Es gab die Cliquen, die Lauten, die Leisen, die Lacher, die Mitlacher, die Schweigsamen, die Lästerer, die Schwätzer, die Gaffer, die Unbeteiligten, die Eckensteher, die Raucher, die Knutscher, die Ausgeschlafenen, die Unausgeschlafenen, es gab die Distanzierten, die Frechen, die Pausenclowns, die Pausenflitzer, die Vernünftigen, die Diskutierer ...

In Gedanken versunken spürte Peter, wie seine Brille ein Stück den Nasenrücken herunterrutschte. Er schob sie mit dem rechten Zeigefinger zurück, während ein Mädchen mit kurzen dunklen Haaren und Madonnengesicht an ihm vorbeiging. Als er den Kopf her­umwandte, blickten sie sich an. Eine Sekunde lang nur. Diese Sekunde vermittelte ihm die Gewissheit, dass sie ihn deutlich wahrgenommen hatte. Für Peter war es ein namen­loses Mädchen, obwohl sie ihm seit dem Umzug nach Beverungen bereits einige Male wäh­rend der zurückliegenden Sommerferien in den Straßen der Stadt begegnet war. Sie war das Mädchen, das an Haustüren klingelte und den Leuten etwas brachte. Auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades hatte sie zumeist einen Metallkorb festge­klemmt. Was der Korb enthielt, wusste er nicht. Warum ging er nun dem namenlosen Mädchen nach? Er war bereit, sich zu verlieben. Grund genug, seine Verfolgung fortzusetzen. Mal sehen, was noch passiert, dacht er. Er war sich be­wusst, dass das flüchtige Blickerlebnis eine Empfindung bewirkt hatte: Ein Gefühl von Wärme, die sich sehr rasch in Kühle verwan­delte, als das Mädchen im Schülergetümmel untertauchte. Die Augen, deren Farbe er nicht ein­mal zu benennen vermochte, be­saßen sanftmütige Wärme. Ein weiterer Grund also, diesem weiblichen Wesen auf den Fersen zu bleiben. Vielleicht war sie - wie er - zum ersten Mal an dieser Schule. -Nein, das konnte nicht sein. Sie ging ziel­strebig. Sie kannte sich aus.

Jemand rempelte ihn an.

- Wo war sie nun? Die Kleidung des Mädchens hatte in seiner Erinnerung kaum eine Spur hinterlassen. Dann sah er wieder die dunkle Kurzhaarfrisur unter dem Vordach des Schulgebäudes. Diesmal prägte er sich ein: Schlanke, grazil wirkende Gestalt, ruhige Ausstrahlung, schöne Augen mit langen Wimpern ... Die Kleidung: Rote Bluse, gelbes Seidentuch, blaue Jeans mit silberfarbenem Gürtel, nackte Füße in Sandalen ... Das Mäd­chen erreichte das Schwarze Brett und stellte die Bücherta­sche zwi­schen den Beinen auf den gepflasterten Boden. Aus dem Seitenfach zog sie einen Zettel her­vor, den sie mit zwei Reißzwecken an einer freien Stelle des Brettes befe­stigte. Wieder sah er ihre Augen, ihr Ge­sicht, doch schien sie ihn diesmal nicht zu beachten. Kühle. Sie hob die Tasche auf, drehte sich herum und ging durch den Eingang ins Gebäude.

Peter räusperte sich und versuchte, etwas wie sach­li­che Klarheit in seine Empfindungen zu bringen: Einmal hatte er in den letzten Augenblicken Wärme, zweimal aber Kühle empfunden. Als Kopfmensch misstraute er zuweilen seinen Gefühlen, doch war er stets neugierig, ob sich nicht irgendwo eine Tür öffnete, hinter der sich für ihn etwas bis­lang noch nie Erlebtes, Überraschendes verbarg.

Er blickte zum oberen Rand des Schwarzen Bret­tes, auf dem siebzehn regenbogenfarbene Buchstaben auf Papptafeln den Namen des Ortes verkündeten, der die Schülergemeinde wie ein Magnet in seinen Bann zog:

DAS GEDANKENMUSEUM

Endlich gelang es ihm, sich an den Lesern vorbeizudrängeln. Vergeblich suchte er den Zettel, den das Mädchen erst vor einer Minute an­geheftet hatte. Es gab an der langen Schautafel in­teressante, langwei­lige, wichtige, unwichtige, banale und nichtssagende Meldungen, die er rasch über­flog. Welche Botschaft stammte von dem Mädchen? Aus der Entfernung hatte er die Farbe der verwen­deten Reißzwecken nicht er­kennen können. Grün, gelb, rot? Er las:

Für das Theaterstück Momo wurden noch Darsteller gesucht. Aus Russland kam der Brief einer Austauschklasse, die einen Monat dem deutschen Unterricht beigewohnt hatte. Jemand bot alte Lesebücher zum Verkauf an. Nachhilfeunterricht in Deutsch, Englisch und Französisch versprach eine Telefonnummer ...

Das Läuten der Schulglocke weckte ihn aus seinen Gedanken. Zusammen mit an­de­ren Schülern gelang­te er in den Eingangsflur des Gebäudes, fand seinen Namen auf einem Schild, das ihn und andere Kandidaten aufforderte, den Raum 24 im Obergeschoss aufzusu­chen, wo der Beratungslehrer, Herr Muller, nach der Begrüßung einen ausgedehnten Vortrag über den zu erwartenden Unterricht hielt. In seiner rechten Hand umschloss Herr Muller einen weißen Kugelschreiber mit einer blauen Druckknopfperle, die er unentwegt während seiner Rede mit einem irri­tierenden Knick-knack ein- und ausra­sten ließ.

»Mit Beginn dieses Schuljahres gibt es für Sie alle kei­nen Klassenverband mehr«, erklärte er. »Von nun an werden sie in sogenannten Kursen unter­richtet. Ich werde jetzt die Bücherliste für jeden Schüler und den ab heute gültigen Stundenplan ausgeben. Nach Ablauf meiner Einführung beginnt für Sie in der dritten Stunde der planmäßige Unterricht -«

Ein Junge, den die anderen zuvor mit Axel ange­redet hatten, hob eine Hand.

»Herr Muller! Frage: Ist der Stundenplan definitiv bis zum Ende dieses Halbjahres verbindlich?«

»Ich hoffe es.«

Während aus der Zuhörergruppe weitere Fragen gestellt und korrekt von Herrn Muller beantwortet wurden, registrierte Peter zweierlei: Fast alle Jungen und Mädchen in dem Raum benutzten einen wei­ßen Kugelschreiber mit blauem Perldruckknopf, um die notwendigen Informationen eilig mitzuschreiben. Das Mädchen mit den dunklen Haaren saß in der letzten Bankreihe. Sie blätterte in einem Schreibheft. Erst jetzt bemerkte er den winzigen goldenen Ring in ihrem linken Ohr.

»Peter Pencil?«

»Hier«, machte er sich bemerkbar und nahm den Stundenplan aus der Hand des Beratungslehrers ent­gegen. Nackte Füße in braunen Sandalen, ging es ihm durch den Sinn. Ob sie ihre Fußnägel lackiert hatte?

Ein blonder Junge in der Bank neben ihm sprach ihn von der Seite an.

»Peter Pencil?« Der Junge war schmächtig und hatte ein aufgewecktes Brillengesicht. »Dein Vater arbeitet bei der Zeitung.«

»Haargenau«, bestätigte Peter. »Kennst du ihn?«

»Nur flüchtig«, sagte der Junge und schob ihm ei­nen weißen Kugelschreiber herüber. »Kleines Werbegeschenk der Firma.«

Peter nahm den Kugelschreiber, drückte - knick-knack - die blaue Kugel und las die rote Beschriftung: Elektrogroßhandlung Jau.

»Deine Firma?«

»Noch gehört sie meinem Vater. - Dein Vater hat in der letzten Woche einen Artikel geschrieben über unsere Neueröffnung nach dem Umbau.«

»Wie erfreulich«, sagte Peter. »Wenn ich einen Werbe-Bleistift von der Redaktion meines Vaters besäße, könnte ich mich revanchieren.«

»Nicht nötig«, wehrte der Junge seufzend ab. »Ich bin froh, wenn ich meinen Ballast endlich über Bord ge­worfen habe.«

 

Er öffnete eine Papiertüte, die noch bis zur Hälfte mit Kugelschreibern gefüllt war.

»Verstehe«, sagte Peter. Dann fragte er: »Heißt du mit Vornamen auch Elektrogroßhandlung

»Zum Glück nicht. Meine Mutter konnte sich bei der Taufe mit Jonas durchsetzen.«

Es war gewiss nützlich, ei­nem schmächtigen Jungen mit einem vertrauenerweckenden Brillengesicht zu begegnen.

»Wir kennen uns übrigens«, bemerkte Peter mit Bestimmtheit. Auf Jonas' fragenden Blick fügte er hinzu: »Aus einem anderen Leben.«

»Wie meinst du das?«

»Wir waren zusammen im Kindergarten.«

Erstaunen zeigte sich in Jonas' Gesicht. »In der Grünen Gruppe?«

»Schön, wenn du dich daran erinnerst«, freute Peter sich.

»Ich habe keine Erinnerung an dich«, sagte Jonas. Er wies auf Peters Stundenplan und erkundigte sich: »Haben wir einige Kurse gemeinsam?«

Sie verglichen ihre Stundenpläne.

»Deutsch, Geschichte, Chemie und so weiter«, stellte Peter fest. Er fuhr fort: »Schade übrigens, dass man Mathematik nicht abwählen kann.«

»Weshalb?«

»Ich stamme aus einer alten Schriftgelehrtenfamilie. Mit Ausnahme von Edwin können wir Pencils mit Zahlen nur wenig anfan­gen.«

»Wer ist Edwin?«

»Mein älterer Bruder. Er ist Berufssoldat.«

»Ich komme aus einer alten Kaufmannsfamilie«, be­kannte Jonas. »Zahlen - oder besser: Umsatzzahlen - sind unser Leben. Leider.«

»Sonst noch Fragen?«, wollte Herr Muller wissen.

Ein Mädchen mit Pickelgesicht erkundigte sich nach irgendetwas, das Peter nicht verstand, denn Jonas re­dete ihn mit grübelnder Miene erneut von der Seite an: »Merkwürdig. Ich kann mich überhaupt nicht an dich erinnern.«

»Das ist gut möglich«, sagte Peter. »Ich war als Kind immer sehr zurückhaltend.«

»Wie war ich im Kindergarten?«

Es war eine Testfrage. Duchschaut er mich?, dachte Peter. Dann antwortete er:

»Du warst immer sehr schmächtig und unscheinbar.«

»Stimmt.«.

»Probleme hattest du auch.«

»Ach, Probleme?«

»Was weiß ich«, sagte Peter. »Ich glaube, deine Probleme lagen darin begründet, dass du so schmächtig und unscheinbar warst.«

»Das kann sein«, meinte Jonas mit leisem Vorbehalt in der Stimme. »Ich habe oft Prügel von den anderen bezogen.«

»Einigemale habe ich dir geholfen gegen die Großen, Starken, Frechen«, warf Peter ein.

»Sieh an. Interessante Legenden berichtest du da. Ich weiß nur: Fräulein Andrea hat mich oft vor dem Verprügeltwerden bewahrt.«

»Nachdem ich sie zu Hilfe gerufen hatte.«

»Du warst das?«, fragte Jonas mit übertriebener Ahnungslosigkeit.

»Wenn sonst keine Fragen mehr bestehen«, hörte Peter Herrn Muller sagen, »dann können wir unsere Informationsveranstaltung hiermit beenden und -«

Das Mädchen mit den dunklen Haaren verließ den Raum.

Peter meldete sich zu Wort.

»Eine bescheidene Frage hätte ich auf dem Herzen, Herr Muller.«

»Bitte! Ich höre!«

Peter zog den braunen Umschlag aus seiner Schultasche und erklärte:

»Ich habe hier eine ärztli­che Bescheinigung, die mich für alle Zeiten vom Sport be­freit. Dürfte ich Sie bitten, die Bescheinigung an die zuständige Stelle dieser Schule wieterzuleiten?«

Freundlich sagte Herr Muller:

»Sie dürfen. Selbstver­ständlich. Ich werde sie dem Schulleiter überge­ben.«

Peter erhob sich mit Mühe von seiner Bank und ging gemessenen Schrittes zum Lehrerpult. Herr Muller bemerkte Peters Hinken und hob die Augenbrauen. Er erkundigte sich: »Eine schlimme Sache?«

»Ziemlich. Aber inzwischen habe ich mein Schicksal akzeptiert.«

»Warum bist du denn vom Sport befreit?«, fragte in­diskret ein Mädchen mit Hornbrille.

»Noch dazu für alle Zeiten«, fügte ein Junge, der ein Boss-T-Shirt trug, hinzu.

Hämisch klang die Schelmstimme aus dem hinte­ren Teil des Raumes: »Vielleicht hat er ja ein Holzbein.«

Lachen, Kichern, Grölen, Wiehern gingen über in ein gemäßigtes Murmeln. Dann sprach ein Mädchen mit ernstem Gesicht und einer zur Vernünftigkeit neigenden Stimme: »Hast du viel­leicht ein Holzbein?«

Peter schob den gefalteten Stundenplan in seine Tasche, blickte zuerst in das betroffene Gesicht des Mädchens, ließ seine Augen zu Herrn Muller wan­dern und wandte sich dann an die abrupt verstum­mende Gemeinschaft. In die Stille hinein sagte er nur ein Wort:

»Ja.«

(...)

Erleichtert vernahm Peter am frühen Nachmittag den Glockenton, der seinen ersten Tag in der neuen Schule beendete. Er war zufrieden mit seinem kurzen Auftritt vor den Schülern. Ähnlich hatte er sich dies auch in Gedanken vorgestellt. Die auflodernde Neugier an seiner Person war noch während des Vormittags erloschen, denn wohl jeder seiner Mitschüler war damit beschäf­tigt gewesen, sich im Gedrängel des neu geordneten Schulalltags zurechtzu­finden.

Ein Stück Sicherheit erfuhr Peter durch Jonas, mit dem er in den gemeinsamen Kursen die Bank teilen durfte. Der Preis, einen alten Bekannten aus ver­gangener Zeit zu haben, war hoch bemessen, aber dennoch recht lohnenswert. Es war anstrengend all die Fragen zu beantworten, die Jonas interessierten (Wo wohnst du jetzt? Wo hast du vorher ge­wohnt? In welchem Jahr seid ihr fortgezogen? Was hat euch in die Stadt zurück­gelockt? Bist du auch Pazifist? Und so weiter ...) Endlich gelang es Peter, ebenfalls ei­ne Frage zu formulieren, als sie in der Mittagshitze über den Schulhof zum Ausgang schrit­ten:

»In welcher Buchhandlung bestelle ich heute meine Bücher?«

»Am besten bei Steiner«, klärte Jonas ihn auf. »In der Langen Straße.« Er blickte auf Peters rechtes Bein. »Soll ich deine Tasche tragen?«

War seine Frage taktvoll, rührend, komisch oder mitleidig? Peter räusperte sich.

»Ich bin zwar eine Sport-Flasche, aber meine Tasche kann ich durch­aus allein tragen. Danke, trotzdem.«

»Unfall?«

»Ja. Aber ich denke nicht gern daran.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Mit nur einem Bein muss ich versuchen, mich in allen geistigen Dimensio­nen mit doppelter Intensität zu profilieren.«

»Wo liegt deine Stärke? Wenn ich fragen darf.«

»Ich bin ein Multitalent - wie mein Vater.«

»Dein Vater ist Redakteur«, fiel Jonas ein. Er blickte zwei Mädchen nach, die lachend an ihnen vorbeiliefen. Er blieb am Fahrradständer stehen und klemmte die Ledertasche auf dem Gepäckträger seines roten Rades fest.

»Wahrscheinlich werde ich auch als Schreiberling enden«, klärte Peter ihn auf.

Ein voll besetzter Schulbus fuhr von der Haltestelle blinkend auf die Fahrbahn. Starker Dieselgeruch erfüll­te einen Moment die Luft.

»Schreibst du mit dem PC oder der Schreibmaschine?«

»Tagebuch führe ich nach wie vor mit dem Kugelschreiber.«

Jonas blickte auf die braune Papiertüte in seiner linken Hand.

»Könntest du mir noch n paar von den Werbekulis abnehmen?«

»Meinetwegen kannst du sie mir alle geben.«

»Bist du Vielschreiber?«

»Nein. Ich würde die Tüte an meine Mutter weiterreichen. Sie könnte die Kulis an ihre Kinder verschenken.«

»Ist deine Mutter Kinderärztin oder so?«

»Nein. Sie arbeitet als Ergotherapeutin in der Bahnhofstraße.«

Jonas reichte Peter die Tüte.

»Mach damit, was du willst. Hauptsache, ich bin den Schrott los.«

Er setzte sich auf den Sattel seines Rades und rollte langsam zum Straßenrand.

Peter sagte: »Früher habe ich dir oft geholfen. Vielleicht könntest du mich nach dem Bücherkauf ein wenig in der Stadt herumführen. Seit meiner Kindheit hat sich hier so vieles verändert.«

»Mache ich«, sagte Jonas. Wann soll ich dich abholen?«

»Wie wärs mit vier Uhr?«

(...)

An warmen Sommertagen wie diesem empfand Peter die Stille des großen Hauses als beruhi­gend, während sie an Regentagen eher bedrohlich und un­heilverkün­dend auf ihn wirkte. Nachdem er die Haustür ge­schlossen hatte, hielt er, wie es seine Gewohnheit war, einen Moment im Flur den Atem an und lauschte in die friedliche Ruhe des Hauses hinein: Im Wohnzimmer tickte die Schwarzwalduhr von der Wand, irgendwo summte eine Fliege um­her, gelegentlich rauschte eine Gardine im Wind. Durch die geöffne­ten Fenster ver­nahm er die Geräusche der um­liegenden Häuser: Punk-Musik röhrte aus einer Garage herüber, irgend­wo wurde ein Teppich geklopft, ein Rasenmäher rat­terte ... Weinte im Nachbargarten ein Kind?

Nackte Füße in braunen Sandalen, dachte er, ging in die Küche, öffnete die Gitterklappe des Vogelbauers und füllte das Plastikschälchen mit fri­schem Wasser. Sogleich flatterte der Vogel, den seine Mutter Coco nannte, hinaus in die begrenzte Freiheit des Raumes, drehte zwei Runden über dem Tisch, se­gelte am Herd vorbei und setzte sich schließlich auf die hölzerne Gardinenstange. Um eine mögliche Flucht zu verhindern, schloss Peter den gekippten Fensterflügel.

In Gedanken beschäftigte er sich mit den Eindrücken des Morgens: die Schule, neue Namen, neue Gesichter, die Verabredung mit Jonas ... Das Blickerlebnis auf dem Schulhof ... Die Augen des namenlosen Mädchens, Augen, die er wiedererkannt hätte, obwohl er nicht einmal ihre Farbe wusste ...

(...)

Zur verabredeten Zeit klingelte es an der Haustür. Peter ließ Jonas in die Wohnung, zeigte ihm sein mit wenigen Handgriffen geordnetes Reich und führte ihn am Zimmer seines Bruders vorbei zur Tür, die in den Garten führte.

»Ihr habt Birnen«, bemerkte Jonas, als sie über den Rasen zum Brunnen gingen. »Eine darf ich pro­bieren?«

»Greif zu.«

Jonas pflückte eine rotgelbe Birne von einem herunterhängenden Zweig und biss hinein.

»Mein Vater mag Birnen nur, wenn sie in der Fassung einer Lampe erglühen. - Fahren wir zur Buchhandlung?«

Als Peter das Garagentor hochzog, erhellte das Sonnenlicht den trüben Raum, an dessen hinterer Wand das silberne Fahrrad Jonas' Blicke auf sich zog.

»Whau«, sagte er bewundernd. »Dein Drahtesel?«

»Gefällt er dir?«

Nähertretend gestand Jonas:

»Ich würde meinen sofort gegen deinen tauschen.«

Aufmerksam betrachtete er das vollständig verchromte Fahrrad, an dessen Gepäckträger links und rechts zwei blank polierte schmale Aluminium-Boxen montiert waren.

Jonas fasste zusammen:

»Vierundzwanzig Gänge. Fahrrad-Computer mit Geschwindigkeitsanzeige, Kilometerzähler und wasserdichter Quarzuhr. Halogenlichtanlage. Dreiklanghupe. Verschließbare Werkzeugröhre. Flaschenhalter. Luftpumpe ... Was ist denn hier unter dem Lenker an­gebracht? Sieht aus wie eine Zigarettenschachtel aus Metall.«

Peter zog mit Daumen und Zeigefinger die Spitze einer Radioantenne ein Stück heraus.

»Genial«, erkannte Jonas an.

»Es ist mein drittes Fahrrad«, sagte Peter, gab dem Ständer mit dem rechten Fuß einen Stoß, wobei er zurückschnappte. »An der oberen Stange stand bis zu meinem fünfzehnten Geburtstag der Name, den ich dem Fahrrad gegeben habe. Als ich Kind war, wünschte ich mir immer ein Pferd.«

»Wie heißt dieses Ross

Peter räusperte sich. »Rossinante.«

»Haha.«

»Weißt du übrigens, wie man ein Pferd dazu bringt, rückwärts zu reiten?«

»Hab noch nicht darüber nachgedacht. Verrätst du es mir?«

»Ich habe selbst keinen blassen Schimmer. Aber ich wüsste es zu gern.«

»Was beförderst du denn in den beiden Satteltaschen?«

»Das ist mein kleines Geheimnis.«

»Jetzt werde ich aber neugierig.«

»Jeder Mensch braucht seine Geheimnisse. - Hast du auch welche?«

»Nur eins«, sagte Jonas, hüllte sich einen Moment in Schweigen und fuhr fort: »Du bist ein sonderbarer Typ. Dich werde ich im Auge behalten. Erzähl mir noch ein Märchen von früher. Meine Erinnerung lässt mich im Stich.«

»Viele Einzelheiten weiß ich auch nicht mehr. Aber ich weiß noch, wie dir einer von den Gro­ßen, Starken, Frechen bei einer Weihnachtsfeier ein Lego-Haus auf dem Schädel zertrümmerte.«

»Wie grausam. Immerhin erklärt das Lego-Haus meinen Gedächtnisverlust.«

Ein ungutes Gefühl beschlich Peter, während sie durch die Straßen radelten. Etwas war falsch gelau­fen an die­sem Tag. Etwas Naheliegendes, das sich wie ein Stein auf seine Seele legte. Was nur? Dann fiel ihm ein:

 

»Sag mal, Jonas, habe ich die Küchentür vorhin geschlossen?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»War die Tür vom Flur in den Garten offen, als wir in die Garage gingen?«

»Glaub schon. Warum?«

»Weil unser Kanarienvogel jetzt vielleicht davongeflo­gen ist.«

(...)

Als Peter gegen Abend nach Hause zurück­kehrte, stand Edwins Auto bereits neben den bei­den Wagen seiner Eltern. Vorsichtig schob er sein Rad zwischen den Wagen hindurch zu seinem Platz vor der Rückwand der Garage. Im Hausflur hörte er das Brausegeräusch aus dem Bad. Wie jeden Tag nach dem Dienst duschte Edwin so lange, bis seiner Mutter der Geduldsfaden riss und sie ihn aufforderte, sich gefälligst zu beeilen.

In der Küche brannte noch Licht. Die Ruhe im Haus war beängstigend. Seine Eltern hatten den Verlust des Vogels vielleicht schon bemerkt und in ei­nem Streitgespräch mit gegenseitigen Schuldvorwürfen erörtert. Nach heftigen Gefühlsausbrüchen seiner Mutter und bagatellisie­ren­den Rechtfertigungen seines Vaters musste nun die Ruhe nach dem Sturm eingekehrt sein.

»Ich werde ein Fußbad nehmen«, hörte Peter seine Mutter sagen. »Wenn Edwin sich doch nur etwas spu­ten würde.«

»Hallo«, sagte Peter und bemerkte aufatmend den mit einem Leinentuch abgedeckten Vogelbauer auf der Fensterbank. Gott sei Dank, dachte er. Sie wissen es noch nicht. Seine Mutter malte sitzend vor ihrer Staffelei an einem Landschaftsbild, für das sie eine Fotovorlage benutzte.

»Sieh an«, machte sein Vater sich bemerkbar. »Unser Sprössling kehrt nach einem ereignisreichen Tag in den Schoß der Familie zurück. Wie war der erste Schultag?«

»Anstrengend, aber erfolgreich«, antwortete Peter. »Ich bin vom Pferdesport befreit.«

»Sehr löblich«, sagte sein Vater. »Was gibt es sonst noch?«

»Als Pazifist werde ich künftig mehr Volleyball spielen, weil es hierbei keine Feindberührung gibt. - Ich habe übrigens einen Freund aus Kindertagen ge­troffen. Jonas Jau. Wir waren zusammen im Kinder­garten. In der Grünen Gruppe.«

»Warst du nicht in der Roten Gruppe?«, erinnerte seine Mutter sich. Sie verglich das Landschaftsbild mit dem Foto. Dann mischte sie auf ihrer Palette Rot mit Gelb zu einem zarten Orange.

»Mama, welche Farbe erhält man eigentlich, wenn alle Farben miteinander vermischt werden?«, erkundigte Peter sich abschweifend bei ihr. In Wahrheit interessierte er sich mehr für die Frage, ob und mit welcher Farbe die Fußnägel des Mädchens in der Schule lackiert seien.

»Die Summe aller Farben ist Braun«, antwortete sie und tupfte den Pinsel auf eine Sonne über einem Kornfeld. In Gedanken vertieft, sagte sie: »Schön, wenn du gleich Anschluss findest.«

»Jonas und ich wollen vielleicht demnächst öfter gemeinsam Hausarbeiten machen. Wir sind in der Stadt rum­gekurvt. Er hat mich in das Stuhlmuseum an der Weserbrücke geführt.« An seinen Vater ge­wandt, sagte er: »Du müsstest Jonas' Vater auch kennen.«

»Allerdings. Der Mann ist mir bestens vertraut.«

»Ich habe ihn heute kennengelernt, als Jonas mir die Firma zeigte.«

»So?«

»Ja. Ist ganz nett.«

»Ist dir an seinen Augen etwas aufgefallen?«

»Nein. Was ist denn damit?«

»Er hat in jedem Auge ein Dollar$zeichen.«

»Davon habe ich nichts bemerkt.«

Peters Mutter schüttelte den Kopf. »Jochen, musst du dem Jungen immer solchen Unsinn erzählen?«

Sein Vater verteidigte sich: »Aber es stimmt, was ich sage. Man sieht die Dollar$$zeichen allerdings bei Dunkelheit deutlicher.«

Seine Mutter gab es auf, moralisie­rend auf seinen Vater einzuwirken. Sie schüttelte wortlos ihren Kopf. Vielleicht hatte sie den Vogelbauer mit dem Leinentuch abgedeckt, ohne zu prü­fen, ob Coco wirklich auf seiner Holzstange saß. Einmal im letzten Winter war das Tier abends hilflos auf der Gardinenstange sitzen ge­blie­ben, weil seine Mutter gedankenverloren das Tuch über den Käfig ausgebreitet hatte. Diesmal aber ver­hielt es sich anders, denn Coco hockte nicht auf der Gardinenstange über dem Fenster.

»Würdet ihr es als unhöflich empfinden, wenn ich mir jetzt im Wohnzimmer das Länderspiel ansehe, statt, wie es sich für einen treusorgenden Vater ge­hört, die Abendunterhaltung mit der Familie fortzu­setzen?«

»Wer spielt denn?«, fragte Peter.

»Deutschland gegen die USA. - Als biederer Mensch benötige ich zuweilen einen Ausgleich.«

»Wie aufregend«, sagte seine Mutter betont gelang­weilt.

»Ich gehe in mein Zimmer und erledige noch et­was für die Schule«, sagte Peter.

»Tu das«, meinte sein Vater. »Ohne Fleiß kein Preis.«

Erst am späten Abend, als seine Eltern schon schlafend in ihrem Bett lagen und leise Musik aus Edwins Zimmer zu ihm herüberdrang, schlich er auf Zehenspitzen in die dunkle Küche. Er schloss die Tür, drückte den Lichtschalter und ging klopfenden Herzens zum Vogelbauer. Er schluckte. Dann zog er mit einem Griff das Leinentuch beiseite.

Der Käfig war leer.

(...)

Das Mädchen mit den dunklen Haaren und dem goldenen Ring im linken Ohrläppchen ging langsam über den Schulhof, warf einen Blick auf das Schwarze Brett und tauchte ein in den Schatten der Eingangstür. Nackte Füße in braunen Sandalen. Unlackierte Fußnägel. Aha.

»Die Dame deines Herzens?«, fragte Jonas neben dem Fahrradständer und setz­te erklärend hinzu: »Du starrst so hingerissen hinter ihr her.«

Peter schob seine Brille auf den Nasenrücken und räusperte sich.

»Sag mir sofort, wie dieses Mädchen heißt.«

»Ivon Duvall. Kommt sie dir nicht irgendwie be­kannt vor?«

»In meinem früheren Leben ist sie mir nie begeg­net. Ich vergesse kein Gesicht.«

»Sag mal«, führte Jonas das Gespräch fort. »Kann es sein, dass irgendwann einmal einer von den Gro­ßen, Starken, Frechen ein Lego-Haus auf dei­nem Schädel zertrümmerte?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Das Lego-Haus würde aber plausibel deine Gedächtnislücke erklären.«

Peter wiederholte flüsternd ihren Namen. »Ivon Duvall. Klingt französisch. Nee, nie gehört.«

»Sie war auch in der Grünen Gruppe«, sagte Jo­nas.

(...)

Das silberne Fahrrad im Ständer neben dem Schulgebäude erwies sich als Blickfang unter den ungeputzten Zweirädern seiner Mitschüler.

»Wie erklärst du das?«, fragte Jonas während der ersten Unterrichtsstunde.

»Das Publikumsinteresse ist bedingt durch das magische Gesetz der Anziehungskraft der Pferde«.

»Möglich«, sagte Jonas. »Es kann aber auch sein, dass der Blasebalg deiner Dreiklanghupe schlichtweg Aufforderungscharakter hat. Jeder will sofort auf die Hupe drücken, um zu hören, welcher Ton heraus­kommt.«

Wie auf sein Stichwort hin vernahmen sie durch das Klassenfenster den trötenden Dreiklang vom Hof.

Alle Lehrer, die Peter kennenlernte, hinterließen den Eindruck, als sei es möglich, kon­fliktfrei mit ihnen auszukommen. Herr Gessau, der Deutsch- und Französischlehrer, führte den Kurs mit Witz und Schlagfertigkeit »an der langen Leine«, während Frau Heubauer in Chemie streng, aber gerecht zu Werke ging. Herr Dübel, der Biolo­gie unterrichtete, wirkte einschläfernd mit seiner monotonen Stimme, in die nur dann ein wenig Le­bendigkeit geriet, wenn es einem Schüler gelang, ihn an seine »wilde Jugend« zu erin­nern: dann nämlich schweifte er vom Thema ab und berichtete über verwegene Jugendsünden, an die nie­mand von sei­nen schlaff in den Bänken hängenden Zuhörern glauben mochte.

Von Jonas erfuhr Peter, welche seiner Mitschüler als erträglich eingestuft wurden: »Eigentlich fast alle.« Axel Schöngart, den blonden Schönling mit sorgsam gepflegtem Mittelscheitel, bezeichnete Jonas als »mal so - mal SO«; dabei machte er eine Handbewegung, die an das Ein­schrauben einer Glühbirne in eine Lampenfassung gemahnte. Prompt wähl­te Peter, auf den Rat Jonas' vertrauend, Axel zum Kurssprecher. Hinterher erfuhr er von ihm, es gebe noch weitere Mitschüler, die ebenfalls eine ima­ginäre Glühbirne in eine unsichtbare Lampenfassung drehten, wenn die Sprache auf Axel kam.

»Wenn du willst, kannst du mich heute besu­chen«, schlug Jonas am Ende der Pause vor.

Auf dem Weg vom Fahrradständer über den Schulhof hörten sie den Signalton der Dreiklanghupe, der abgelöst wurde vom Glockengeläut aus dem Hauptgebäude. Peter hoffte, das Interesse der jüngeren Schüler an seinem Fahrrad würde bald nach­lassen. Dann fragte er:

»Hast du eine Schwester, in die ich mich verlieben könnte?«

»Sorry«, meinte Jonas. »Ich bin Einzelkind.«

Sie lenkten ihre Schritte zum Hauseingang und eilten über zwei Treppen in ihren Kursraum.

»Kann auch vorteilhaft sein, wenn man Einzelkind ist«, sagte Peter, als sie sich in die Bank setzten.

»So?«

»Du bist Alleinerbe eures Firmenimperiums.«

»Ein Firmenimperium könnte es nur werden, wenn die Werbekulis meines Vaters weltweit als gesetzli­ches Schreibwerkzeug eingeführt würden. Was hast du üb­rigens mit den Kulis gemacht?«