BRAIN

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Erhard Schümmelfeder

BRAIN

Zwei außergewöhnliche Geschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

BRAIN

DIE PROPHEZEIUNG

Impressum neobooks

BRAIN

Abk. für Lithium? - Ich lasse den Stift sinken und blicke von meinem Kreuzworträtsel auf.

Werde ich vergesslich?

Nein.

Aber warum weiß ich nicht mehr, wie ich heiße? - Wen könnte ich fragen? Den Postboten? Den Gärtner? - Nein, so weit soll es nicht kommen. Eine Antwort auf die Frage nach meinem Namen finde ich auf dem Messingschild an der weißen Hauswand neben dem Eingangsportal.

Oft gehe ich nach draußen, um das Schild mit der schwarzen Kursivschrift zu polieren, während ich gleichzeitig versuche, mir den Namen Luise Henke fest einzuprägen. Für eine Weile erlebe ich ein Gefühl von Klarheit in meinem Denken, denn nun weiß ich: Mein Name ist Luise Henke. Dies ist mein Haus. Auch der Garten mit den hoch aufragenden drei Kiefern gehört mir. Ich lebe allein. Einmal im Jahr, zumeist im Winter, besucht mich meine Tochter Erika, die mit ihrem Mann in Zürich lebt. Erika ist Lehrerin in einer Grundschule. - Was fällt mir noch ein? - Früher habe ich Geschichten geschrieben. Heftromane für Frauen. Warum schreibe ich heute nicht mehr?- Ich weiß es nicht, belüge ich mich selbst und gehe zurück ins Haus.

Die Langeweile bedrückt mich. Was soll ich tun? Lesen? Musik hören? Kreuzworträtsel lösen? -

Dt. Luftschiffbauer? - ??

- Zu nichts kann ich mich entschließen, weil mich alles ermüdet.

Gibt es ein Mittel gegen die Langeweile eines brütend heißen Sommertages? Ja, aber ich habe es vergessen. Ich grüble nach einem Wort, das vielleicht eine Erlösung bedeuten könnte.

Am offenen Küchenfenster blicke ich in den durchsonnten Garten und lausche dem Gesang der Vögel, die am grünlich schimmernden Teich in den Büschen hocken. Plötzlich setzt meine Erinnerung wieder ein. Schmerzen helfen gegen die Langeweile. Ich lächle bei diesem sonderbaren Gedanken, denn ich habe keine Beschwerden. Mein Körper ist intakt. Nur mein Geist schwächelt. Es fällt mir schwer, mit anderen Menschen darüber zu reden. Warum eigentlich? Ist es mir peinlich? Ich verdränge die Antwort auf meine Frage und suche im Telefonbuch die Nummer von Dr. Holstein. Es vergeht eine lange Zeit, bis ich begreife, dass die Nummer unter dem Buchstaben A nicht zu finden ist. Ich schüttle den Kopf und wähle bald darauf die Nummer der Praxis.

Doktor Holstein praktiziere seit zwei Jahren nicht mehr, verrät mir die junge Dame am Telefon geduldig zum wiederholten Male und fügt hinzu, Doktor Eisenach behandele mich seither. Ja, nun fällt es mir wieder ein. Ich entschuldige mich für meinen Irrtum und bitte um einen Hausbesuch von Dr. Holstein.

Dr. Eisenach, korrigiert mich die freundliche Dame und sagt, ich könne am Nachmittag mit einem Besuch des Doktors rechnen.

*

Um 15 Uhr klingelt es zweimal an meiner Tür. Unterwegs durch die hohe Eingangshalle verliere ich meinen linken Pantoffel. Als ich mich bücke, um ihn von den Marmorfliesen aufzuheben, fällt meine Brille herunter. Die Gläser bleiben heil. Während ich mir auf dem Polsterstuhl neben der Spiegelgarderobe den Pantoffel anziehe, klingelt es erneut. Ich bilde mir ein, eine Spur von Ungeduld aus dem energischen Ton der Klingel herauszuhören. Wer mag mich um diese Zeit besuchen wollen?, denke ich.

Dr. Eisenach ist in Eile. Ich führe ihn in meinen Salon und bitte ihn, auf einem der Stühle am Tisch Platz zu nehmen. Für das verspätete Öffnen der Haustür entschuldige ich mich höflich bei ihm. Er aber lächelt nur und sagt scherzend:

„Eine alte Frau ist kein Schnellzug.“ Hintersinnig fährt er fort: „In Ihrem Alter kann man sich natürlicherweise nur noch mit Gichtgeschwindigkeit bewegen.“

Gichtgeschwindigkeit. Ich muss unwillkürlich hinter der vorgehaltenen Hand lachen. Es tut gut, nach tagelangem Schweigen wieder mit einem Menschen zu reden.

Dr. Eisenach kommt sofort zur Sache:

„Tja, liebe Frau Henke, wo zwickt es Sie heute?“

Ich erzähle ihm von meinen unerträglichen Zahnschmerzen und frage ihn, ob er ein Mittel dagegen habe.

„Ich habe ein Mittel gegen jedes Wehwehchen, Frau Henke. Das wissen Sie doch. - Zeigen sie mir doch mal, welcher Zahn Ihnen Kummer bereitet.“

Ich öffne meinen Mund, nehme die obere Prothese heraus und reiche sie ihm. Nur zögerlich nimmt er das fleischfarbene U entgegen und fragt:

„Welcher Zahn schmerzt denn nun?“

Ich zeige auf den rechten vorderen Schneidezahn.

„Machen sie sich keine Sorgen, Frau Henke. Das Problem lösen wir sofort. Ich gebe Ihnen eine schnellwirkende Spezialsalbe gegen akute Phantomschmerzen. Allerdings müsste ich diese Sonderbehandlung berechnen. Die Krankenkasse übernimmt hierfür leider nicht die Kosten.“

Ich bin mit allem einverstanden und sehe, wie er aus seinem Koffer neben dem Tisch eine Tube hervorholt. Zwischen Daumen und Zeigefinger drückt er aus der Tube eine fadendünne Spur auf den kranken Zahn und reicht mir die Prothese zurück. Jetzt geht es mir besser.

Nachdem er die hundert Euro eingesteckt hat, frage ich ihn, ob ich seine Hilfe auch nachts und am Wochenende beanspruchen dürfe.

„Wenn der Schmerz noch einmal auftreten sollte, rufen sie mich an, Frau Henke. Ich habe für Sie immer Zeit. - Für die Anfahrt und die Sonderbehandlung müssten Sie die Kosten allerdings selbst zahlen. Sie wissen doch, dass seit der Gesundheitsreform gerade bei alten und hilfsbedürftigen Patienten gern gespart wird. Richtig finde ich das nicht, glauben sie mir. Gegen diesen Missstand sollten unsere hochbezahlten Politiker einmal etwas unternehmen, nicht wahr?“

Ich nicke begreifend und begleite ihn zur Haustür. Als sein Wagen durch den schmiedeeisernen Torbogen in die Richtung der Stadt davonfährt, ist es erst fünf Minuten nach drei.

Wieder allein. Was nun?

Aus der Schublade meines Küchentisches ziehe ich den Spiralblock hervor und überfliege meine Notizen. Ohne Brille kann ich meine eigene Schrift nicht mehr lesen.

*

Erster amerik. Präsident? - ???

Auch das wusste ich einmal. Was ist mit meinem Gedächtnis geschehen? Ein Vergleich fällt mir ein: Wie ein löchriger Käse. Ich lächle über meinen Einfall.

Am Sonntag ist die Praxis geschlossen. Also rufe ich Dr. Eisenach unter seiner Privatnummer an. Er habe heute noch Wichtiges zu erledigen, verrät er mir, doch wolle er sich die Zeit nehmen, mich am Nachmittag zu besuchen.

Ich habe Bienenstich-Kuchen gebacken und Kaffee gekocht. Früher wusste ich das Rezept für den Kuchen auswendig. Heute muss ich jedes Detail wieder und wieder nachlesen.

Ich sitze auf der überdachten Terrasse meines Hauses und warte auf meinen Gast. Dr. Eisenach ist der einzige Mensch, den ich seit Wochen zu Gesicht bekommen habe. - Das stimmt nicht ganz. Der Gärtner war kürzlich hier, um mit seinen Leuten die Blumenbeete und den Rasen in Ordnung zu bringen. Die Rechnung für die Arbeiten schickt er immer mit der Post. Und der blonde Junge aus dem Supermarkt hat mir den Karton mit Lebensmitteln - wie jede Woche - gebracht. Guten Tag. - Auf Wiedersehen. Ein Gespräch kann man das nicht nennen.

Ich freue mich, wenn ich das Motorengeräusch von Dr. Eisenachs Wagen vor dem Haus vernehme. Ich kenne inzwischen den Klang seiner Fahrertür, wenn sie hart ins Schloss fällt. Ich kenne das Gummischuhsohlengeräusch seiner Schritte auf den Steinstufen der Außentreppe. Selbst die Art und Weise, in der er auf den weißen Klingelknopf unter meinem Namensschild drückt - zweimal kurz hintereinander - ist mir vertraut.

In Gedanken schweife ich ab. Wie heiße ich? – Ich weiß es noch. Oder wieder. Ich muss mir nichts beweisen.

Wenn Dr. Eisenach sich nähert, beginnt mein Herz vor Aufregung heftig zu klopfen. Wie jetzt! Der Wagen biegt mit heiserem Dieselbrummen in meine Einfahrt ein. Der Motor verstummt neben dem Rosenbeet, in welchem ich vor einem Jahr meine Katze begrub. Ich denke oft an … Wie hieß meine Katze? Gleich fällt es mir wieder ein.

Die Handbremse wird knarrend angezogen. Tür auf. Tür zu. Schritte. Klingeln.

Ich eile zum Eingang. Mit Gichtgeschwindigkeit. Ich lächle vor mich hin. Dann öffne ich die Tür und lasse den Doktor ins Haus eintreten. Wie immer ist er in Eile. Als er im Salon den mit Kaffee und Kuchen gedeckten Tisch sieht, seufzt er und setzt sich zu mir. Er sagt etwas Nettes über mein kostbares Fürstenberger Porzellan, was mich sehr erfreut. Er hat es also bemerkt.

Nach einer hastig geschlürften Tasse Kaffee schiebt er den linken Ärmel seiner Jacke zurück und blickt auf seine silberne Armbanduhr. Er fragt:

„Wieder Schmerzen?“

Ich berichte ihm von meinen Halsschmerzen. Auch vergesse ich nicht zu erwähnen, dass Herbert, mein verstorbener Mann, einst die gleichen Beschwerden hatte.

„Wo tut es weh?“, fragt er. „Links oder rechts?“

Ich zeige auf mein linkes Knie.

Dr. Eisenach öffnet seinen Koffer, holt das Stethoskop hervor, setzt es sich auf und horcht damit mein Knie ab. Schnell kommt er zu einer Einsicht. Er reicht mir eine halbleere Tube mit Salbe.

 

„Drei- bis fünfmal täglich auf die schmerzende Stelle auftragen. Ich rate vorsorglich, auch das andere Knie zu behandeln.“

Ich bin so froh über seinen Besuch. Für die rasche Hilfe bedanke ich mich. Während ich das Geld aus dem Schrank hole, isst Dr. Eisenach ein Stück Bienenstich-Kuchen. Mit prüfenden Augen verfolgt er meinen Weg über den Teppich zum Tisch. Hält er mich für sturzgefährdet? Insgeheim hoffe ich darauf, diese Begegnung noch ein wenig in die Länge ziehen zu können. Aber ich spüre: Dr. Eisenach hat wenig Zeit.

Plötzlich fasse ich mir ein Herz und frage ihn, ob es auch ein Mittel gegen die quälende Langeweile gebe.

„Selbstverständlich gibt es auch gegen Langeweile medizinische Hilfe“, antwortet er gutgelaunt, als er das Geld in seine Brieftasche schiebt. „Ich rate Ihnen, liebe Frau Henke, den von der Ärztekammer empfohlenen Radiosender mit therapeutischem Unterhaltungsprogramm zu hören.“

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