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Drittes Kapitel

Am folgenden Tage, einem Sonntage, um fünf Uhr Morgens –es läuteten gerade alle Glocken von Havre –betrat Roubaud die Abfahrtshalle, um seinen Dienst anzutreten. Es war noch vollständig Nacht, aber der vom Meere herausstreichende Wind hatte zugenommen und vertrieb die Nebel von den Abhängen der Höhen, die sich von Saint-Adresse bis zum Fort von Tourneville erstrecken. Im Westen hellte sich der Himmel ein wenig auf, an einem Stückchen blauen Himmel blitzten die letzten Sterne. In der Halle brannten noch immer die Gaslampen, doch ihr Licht schien der frostige Morgenhauch zu bleichen. Arbeiter formirten unter der Aufsicht des Unter-Inspectors vom Nachtdienst den ersten Frühzug nach Montvilliers. Die Thüren der Wartesäle waren noch geschlossen, verödet ruhten noch die Perrons beim starren Erwachen des Bahnhofs.

Als Roubaud seine über den Wartesälen gelegene Wohnung verließ, hatte er die Frau des Kassirers Lebleu wie eine Bildsäule im Hauptkorridor bemerkt, auf welchen die Wohnungen der Beamten sämmtlich führten. Seit Wochen schon erhob sich diese Dame mitten in der Nacht, um Fräulein Guichon, der Billetverkäuferin aufzulauern, welche nach ihrer Meinung mit dem Bahnhofsvorsteher, Herrn Dabadie, verbotenen Umgang pflegte. Uebrigens hatte sie nie etwas entdecken können, nicht einen Schatten, nicht einen Athemzug. An diesem Morgen aber kehrte sie schnurstracks zu ihrem Gatten zurück, denn sie hatte mit Erstaunen bemerkt, als Roubaud eine Sekunde nur die Thür öffnete, um fortzugehen, daß die schöne Séverine schon fertig angezogen, frisirt und gestiefelt im Eßzimmer stand, sie, die sonst gewöhnlich bis neun Uhr im Bett lag. Frau Lebleu hatte sofort ihren Mann geweckt, um dieses außerordentliche Ereigniß zu melden. Am Abend vorher hatten sie sich erst nach Ankunft des Pariser Schnellzuges um elf Uhr fünf Minuten zur Ruhe begeben, weil sie vor Verlangen brannten, zu erfahren, was aus der Geschichte mit dem Unterpräfekten geworden war. Aus der Haltung der Roubauds halten sie indessen nichts zu entnehmen vermocht, die hatten eben ausgesehen wie alle Tage. Und bis nach Mitternacht hielten sie die Ohren gespitzt: aber kein Geräusch drang aus der Wohnung ihrer Nachbarn, die waren jedenfalls sofort entschlummert. Ihre Reise hatte trotzdem wohl kein gutes Resultat gebracht, sonst wäre Séverine nicht so frühzeitig aufgestanden. Als der Kassirer fragte, was für ein Gesicht jene gemacht hätte, gab sich seine Frau alle Mühe, es zu schildern: sie hätte sehr starr und bleich geblickt mit ihren großen, blauen, unter den schwarzen Haaren hervorblitzenden Augen; auch hätte sie sich nicht gerührt, kurz wie eine Nachtwandlerin wäre sie ihr erschienen. Im Laufe des Tages würde man ja erfahren, was eigentlich los wäre.

Unten traf Roubaud seinen Kollegen Moulin, der Nachtdienst gehabt. Er übernahm von diesem den Dienst, während dieser einige Schritte mit ihm ging und ihm erzählte, was alles während der Nacht passirt war; man hatte Diebe abgefaßt, gerade als sie sich in den Gepäckraum schleichen wollten. Drei Mann hätten wegen Ungehorsams fortgeschickt werden müssen, ein Kuppelgewinde sei während des Rangirens des Zuges nach Montvilliers gebrochen. Roubaud hörte schweigend mit ruhiger Miene zu. Er war ein wenig bleich, wahrscheinlich in Folge noch nicht überwundener Müdigkeit, worauf auch die gesenkten Augenlider schließen liehen. Er sah so aus, als hätte er seinen Kollegen noch fragen wollen, ob sonst etwas passirt wäre, als Jener schwieg. Doch unterließ er es. Es war das wohl alles. Er senkte den Kopf und blickte einen Augenblick zu Boden.

Die beiden Männer waren auf dem Bahnsteig bis zum Ende der bedeckten Halle gelangt und standen jetzt da, wo rechter Hand sich eine Remise befand, in welcher die Waggons untergebracht waren, die am gestrigen Abend angekommen. Er erhob den Kopf und seine Augen hefteten sich auf einen Waggon erster Klasse, welcher nur ein Coupé hatte und die Nummer 293 zeigte, wie im flackernden Lichte einer Gaslaterne zu lesen war. In diesem Augenblick sagte der Andere:

»Ah, ich vergaß ...«

Roubaud's bleiches Gesicht färbte sich, er konnte eine leise Bewegung nicht unterdrücken.

»Ich vergaß,« wiederholte Moulin, »dieser Wagen soll hier bleiben, lassen Sie ihn also nicht in den Schnellzug um sechs Uhr vierzig rangiren.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann fragte Roubaud in höchst natürlichem Tone:

»Warum das?«

»Weil ein reservirtes Coupé für den Abendschnellzug bestellt ist. Man weiß nicht, ob wahrend des Tages eins eintrifft, daher soll dieses hierbehalten werden.«

Er blickte den Waggon noch immer an und sagte:

»Wohl möglich.«

Doch ein anderer Gedanke beschäftigte ihn bereits und diesem gab er sofort Worte:

»Das ist doch abscheulich! Sehen Sie nur, wie diese Hallunken waschen! Der Waggon sieht aus, als ob der Schmutz von acht Tagen noch nicht weggebracht ist.«

»Das will ich schon glauben,« erwiderte Moulin, »um die Züge, die nach elf Uhr Abends ankommen, kümmert sich keine Seele ... Man muß zufrieden sein, wenn sich die Kerle noch zu einer Visitation verstehen. Haben sie doch eines Abends einen Reisenden in seiner Ecke bis zum nächsten Morgen weiterschlafen lassen!«

Er unterdrückte ein Gähnen und meinte, er wollte sich noch ein wenig hinlegen. Er wollte schon gehen, als ihn die Neugier nochmals bleiben hieß.

»Nun, und Ihre Angelegenheiten mit dem Unterpräfecten, Alles gut abgelaufen?«

»Ja, wir hatten eine glückliche Reise, ich bin zufrieden.«

»Desto besser ... Denken Sie daran, daß 293 hier bleibt.«

Als Roubaud sich allein befand, ging er langsam zum Zuge nach Montvilliers, der fertig wartete. Die Saalthüren waren schon geöffnet und Reisende erschienen, einige Jäger mit ihren Hunden, zwei oder drei Kleinbürgerfamilien, die den Sonntag benutzen wollten, im Ganzen nur wenige Menschen. War dieser Zug erst fort, dann war keine Zeit zu verlieren, denn er mußte gleich darauf den Bummelzug um fünf Uhr fünfundvierzig Minuten nach Rouen und Paris rangiren lassen. Um diese Tageszeit war das Betriebspersonal noch nicht in genügender Anzahl zur Stelle, der diensthabende Unter-Inspector hatte dann alle möglichen Obliegenheiten. Kaum war er mit der Überwachung des Rangirens fertig –jeder Waggon mußte einzeln aus der Remise geholt und von den Arbeitern auf den in der Halle rangirten Zug geschoben werden –hatte er nach dem Vestibül zu eilen, um bei der Billetausgabe und der Gepäckexpedition selbst nachzuschauen. Eine Streitigkeit war zwischen einem Beamten und einigen Soldaten entstanden, die er beilegen mußte. Eine halbe Stunde hindurch hatte er inmitten des eisigen Zugwindes und der frierenden, noch halb schlafenden und in Folge des Gedränges im Dunkeln in schlechter Laune befindlichen Fahrgäste keine Sekunde Zeit, an sich zu denken. Kaum war der Bummelzug aus dem Bahnhof, mußte er den Weichensteller aufsuchen und sich selbst überzeugen, daß hier Alles glatt ging, denn ein directer Zug von Paris kam gleich mit Verspätung an. Er ging sofort zurück und überwachte das Aussteigen der Reisenden, wartete bis der Strom der Reisenden die Billets abgegeben hatte, und sah sich durch die Hotelwagen hart bedrängt, die in so früher Morgenstunde in der Halle warten durften und von den Schienen nur durch eine einfache Barriere getrennt waren. Dann erst, als der Bahnhof wieder einsam und verlassen dalag, konnte er etwas aufathmen.

Es schlug sechs Uhr. Roubaud verließ die bedeckte Halle wie ein müßiger Spaziergänger. Draußen, vor sich die freie Fernsicht, erhob er den Kopf und athmete auf. Endlich sah er den Morgen anbrechen, einen schönen, klaren Morgen, denn der Seewind hatte die Nebel ganz verjagt. Er sah im Norden sich die Küste von Ingouville bis zu den Bäumen des Kirchhofes als ein violetter Streifen vom erbleichenden Himmel abheben; sich nach Süden und Westen wendend, bemerkte er das letzte weißliche Gewölk davonschweben, als segle ein Geschwader in der Ferne. Der ganze Osten aber über dem mächtigen Plateau der Seinemündung flammte auf in Erwartung des baldigen Aufgehens der Sonne. Fast unbewußt nahm Roubaud die Dienstmütze mit dem Goldstreifen vom Kopfe, um seine Stirn in der frischen, reinen Luft zu kühlen. Dieser wohlbekannte Horizont, das mächtige Gebiet der Bahnhofsanlagen, links die Ankunftsseite, dann der Lokomotivenschuppen, rechts die Güterexpedition, eine ganze Stadt, schien ihm die Ruhe zurückzugeben und ihn zur Aufnahme seiner täglichen, stets gleichen Beschäftigung fähig zu machen. Jenseits der Mauer der Rue Charles Laffitte qualmten die Fabrikschornsteine, riesige Haufen von Kohlen sah man längs des Bassins Vauban lagern. Aus den anderen Bassins schallte schon Leben herauf. Das Pfeifen der Güterzüge, das Brausen und der Geruch der Wogen, das ihm der Wind zutrug, lenkten seine Gedanken auf das heutige Fest und das Schiff, zu dessen Stapellauf die Menge drängen würde.

Als Roubaud die bedeckte Halle wieder betrat, fand er das Personal mit der Zusammenstellung des sechs Uhr vierzig Schnellzuges beschäftigt; er glaubte, daß man auch den Waggon 293 nähme, und ein jäher Zornesausbruch hob die Wirkung seiner Abkühlung in der frischen Morgenluft wieder auf.

»In des Teufels Namen, nicht den Waggon dort! Laßt ihn stehen! Er geht erst am Abend mit.«

Der Rangirmeister setzte ihm auseinander, daß man den Waggon nur fortschiebe, um zu einem hinter ihm stehenden zu gelangen. Aber er hörte nicht auf ihn in seiner außer Verhältnis zu dem Gegenstand stehenden Wuth.

»Ungeschickte Kerle, ich habe Euch doch soeben gesagt. Ihr sollt ihn stehen lassen.«

Als er endlich begriff, um was es sich handle, verrauchte seine Wuth auch noch nicht, er schimpfte auf die schlechte Anlage des Bahnhofs, die nicht einmal das Beiseiteschieben eines Waggons ermögliche. In der That war der Bahnhof, einer der ersten dieser Linie, vollständig unzureichend mit seiner alten Holzremise, seinem Dach aus Holz und Zink und schmalen Scheiben, seinen nackten und traurigen Gebäuden, an denen Risse an allen Enden klafften, und einer Stadt wie Havre unwürdig.

»Es ist eine Schande, es ist nur unklar, warum die Gesellschaft das hier noch nicht der Erde gleich gemacht hat.«

Die Arbeiter sahen ihn an, sie waren erstaunt, ihn so frei heraus reden zu hören, der sonst das Muster von Disciplin war. Er fühlte das und schwieg plötzlich. Innerlich sich boßend, überwachte er das Rangiren. Eine Falte der Unzufriedenheit zeigte sich auf seiner niedrigen Stirn, während sein geröthetes, rundes, von einem rothen Barte umrahmtes Gesicht den Ausdruck fester Entschlossenheit annahm.

Von nun an hatte Roubaud sein kaltes Blut wieder. Er beschäftigte sich lebhaft mit dem Schnellzuge und prüfte jedes Detail. Die Koppelungen schienen ihm schlecht gemacht zu sein, er verlangte, daß sie nochmals vor seinen Augen gemacht würden. Eine Frau und deren beide Töchter, die häufig zu seiner Frau kamen, verlangten ein Damencoupé für sich. Ehe er mit der Pfeife das Signal zur Abfahrt gab, überzeugte er sich nochmals, daß am Zuge alles in Ordnung. Lange blickte er ihm nach mit dem klaren Blick des Mannes, dessen nur eine Minute lang gezeigte Unaufmerksamkeit vielen Menschen das Leben kosten kann. Gleich darauf mußte er die Geleise überschreiten, um einen soeben einfahrenden Zug von Rouen zu empfangen. Er stieß hier auf einen Postbeamten, mit dem er täglich Neuigkeiten austauschte. Jetzt trat an dem arbeitsreichen Morgen eine kurze Ruhepause von einer Viertelstunde ein, während der er aufathmen konnte, weil kein unmittelbarer Dienst ihn abrief. Er drehte sich wie gewöhnlich eine Cigarette und plauderte sehr vergnügt. Der Tag nahm zu, man konnte die Gaslaternen auslöschen. Die Halle war so spärlich mit Fenstern versehen, daß ein grauer Schatten in ihr ruhte. Draußen aber hatten die Sonnenstrahlen das weite Himmelsgewölbe, auf welches sie eine Aussicht eröffneten, schon in Flammen getaucht. Der Horizont schwamm in Rosa und in der reinen Luft dieses Wintermorgens zeichneten sich alle Einzelheiten scharf und präcise ab.

Um acht Uhr pflegte der Bahnhofsvorsteher, Herr Dabadie in's Bureau zu kommen; der Unter-Inspector trat dann zum Rapport an. Jener war ein schöner, sehr gebräunter, gut conservirter Mann, der das Benehmen eines ganz seinen Geschäften sich widmenden Großkaufmanns hatte. Er interessirte sich auch herzlich wenig für den Personenverkehr; er widmete seine Aufmerksamkeit mit Vorliebe dem Treiben in den Hafenbassins, dem enormen Transitverkehr und stand in ständiger Verbindung mit dem Großhandel Havres und der ganzen Welt. An diesem Morgen hatte er sich verspätet. Roubaud hatte schon zweimal die Thür zum Bureau geöffnet, ihn aber noch nicht anwesend gefunden. Die Post lag noch uneröffnet auf dem Tische. Die Augen des Unter-Inspectors hatten ein Telegramm unter den Briefen entdeckt. Ein Zauber schien ihn an den Ort zu bannen, denn er wich nicht mehr von der Thür des Bureaus, er kam immer wieder gegen seinen Willen dorthin zurück und seine Blicke schweiften verstohlen zum Tische hinüber.

Endlich, um acht und einviertel Uhr, erschien Herr Dabadie. Roubaud, der sich gesetzt hatte, schwieg, um Jenem Zeit zur Entfaltung der Depesche zu lassen. Doch der Chef hatte es nicht eilig, er wollte sich herablassend zeigen, denn er achtete seinen Untergebenen.

»Nun, ist in Paris alles gut gegangen?«

»Ja, Herr Vorsteher, ich danke für gütige Nachfrage.«

Er hatte endlich die Depesche geöffnet, las aber nicht, sondern lächelte immer noch den Andern an, dessen Stimme durch die Anstrengung, ein nervöses Zucken am Kinn zu unterdrücken, einen rauhen Ton angenommen hatte.

»Wir sind also in der glücklichen Lage, Sie hier zu behalten?« »Ich bin zufrieden, bei Ihnen bleiben zu können.« Endlich entschloß sich Herr Dabadie zur Lectüre der Depesche, Roubaud beobachtete ihn, er fühlte, daß ihm der Schweiß in's Gesicht trat. Aber das erwartete Erstaunen zeigte sich nicht. Der Chef las das Telegramm gelassen zu Ende und warf es dann auf seinen Schreibtisch: wahrscheinlich enthielt es eine dienstliche Nachricht. Während er mit der Sichtung der Post fortfuhr, stattete Roubaud, wie üblich, seinen mündlichen Bericht über die Vorgänge in der Nacht und am frühen Morgen ab. An diesem Morgen jedoch floß ihm nicht der Bericht so glatt von den Lippen, er mußte sich erst auf die Diebe besinnen, die im Gepäckraum abgefaßt worden waren. Man wechselte noch einige Worte, dann verabschiedete er ihn mit einer Handbewegung, als seine beiden Assistenten, der eine von den Hafenbassins und der andere vom Güterverkehr, zum Rapport erschienen. Sie überbrachten eine zweite Depesche, die ihnen soeben ein Beamter draußen eingehändigt hatte.

»Sie können gehen,« sagte Herr Dabadie laut, als er Roubaud an der Thür zögern sah. Doch dieser blieb und seine runden Augen spähten scharf hinüber. Er ging erst, als auch dieses Papier mit derselben gleichgiltigen Bewegung auf den Tisch geworfen worden war. Einen Augenblick stand er verwirrt und betroffen in der Halle. Der Zeiger wies auf acht Uhr fünfunddreißig Minuten, vor neun Uhr fünfzig Minuten ging kein Zug ab. Gewöhnlich benutzte er die freie Stunde zu einem Rundgang durch den Bahnhof. Er wanderte einige Minuten, ohne zu wissen, wohin ihn seine Füße trugen. Als er den Kopf erhob und den Waggon 293 erblickte, wandte er sich ab und ging zum Maschinenschuppen, obgleich es dort nichts zu besichtigen gab. Die Sonne stieg jetzt am Horizont empor und ein goldiger Staub erfüllte die Luft. Er hatte keine Freude mehr an dem schönen Morgen, er beschleunigte seinen Schritt und seine geschäftig aussehende Miene suchte vergeblich die Ungeduld der Erwartung zu verbergen.

Ein Zuruf nöthigte ihn zum Stillstehen.

»Guten Tag, Herr Roubaud ... Haben Sie meine Frau gesehen?«

Pecqueux war es, der Heizer, ein großer, magerer Bursche von dreiundvierzig Jahren mit kräftigen Knochen und von Feuer und Rauch geschwärztem Gesicht. Seine grauen Augen unter der niederen Stirn und sein breiter Mund mit stark hervorstehenden Backenknochen zeigten das ewige Grinsen des Trunkenboldes.

»Wie, Ihr seid es?« sagte Roubaud erstaunt. »Ach so, ich erinnere mich. Ihr habt ja Pech mit der Lokomotive gehabt. –Ihr fahrt erst heute Abend? Eine angenehme Sache, so ein Urlaub von vierundzwanzig Stunden, was?

»Sehr angenehme Sache,« echote der Andre, dessen Trunkenheit vom Abend vorher noch nicht gewichen war.

Aus einem Dorfe bei Rouen gebürtig, war er schon in jugendlichem Alter als Monteur in die Dienste der Gesellschaft getreten. Als er dreißig Jahre alt geworden, fing es an ihm in der Werkstatt langweilig zu werden; er wollte erst als Heizer fahren, um später Lokomotivführer zu werden. Damals hatte er Victoire, die aus demselben Dorfe stammte, geheirathet. Die Jahre vergingen, er blieb Heizer, ohne gute Führung und gutes Benehmen, als Trunkenbold und Frauenjäger hatte er jetzt keine Aussicht mehr auf Carriere. An zwanzig Male schon hätte er seinen Abschied erhalten, wenn er nicht unter dem Schutze des Präsidenten Grandmorin gestanden wäre und man sich an seine Sünden gewöhnt hätte, die er durch seine gute Laune und seine Erfahrungen als gewiegter Arbeiter stets wieder wett zu machen wußte. Er war nur zu fürchten, wenn er betrunken war, denn dann kam seine wahre Brutalität zum Vorschein, die ihn jeder schlechten That fähig machte.

»Haben Sie meine Frau wirklich gesehen?« fragte er nochmals mit der Hartnäckigkeit des Gewohnheitstrinkers, während sich sein Mund zum Grinsen öffnete.

»Ja gewiß haben wir sie gesehen,« antwortete der Unter-Inspector. »Wir haben sogar in Eurem Zimmer gespeist ... Ihr habt eine brave Frau, Pecqueux. Es ist sehr unrecht von Euch, ihr untreu zu sein.«

»O wie kann man so etwas sagen,« sagte er unter noch lauterem Lachen. »Im Uebrigen will sie ja, daß ich mich amüsiren soll.«

Pecqueux sagte die Wahrheit. Victoire, die um zwei Jahre älter als er, in Folge ihres stattlichen Umfanges sehr bequem und schwerfällig geworden war, steckte ihm Fünffrancsstücke in die Taschen, damit er außerhalb des Hauses seinen Vergnügungen nachgehen konnte. Sie hatte nie unter seiner Untreue zu leiden gehabt; seine Natur zwang ihn, den Frauenzimmern nachzulaufen. Jetzt führte er übrigens ein regelmäßiges Leben mit zwei Frauen auf beiden Endstationen der Linie. In Paris hatte er seine eigene und in Havre eine zweite für die Zeit seines kurzen Aufenthaltes daselbst. Für ihre Person war Victoire genau, ja knauserig. Sie wußte alles, behandelte ihn wie eine Mutter und erzählte gern, sie leide es nicht, daß er sich mit der Andern überwerfe. Sie sorgte sogar für seine Wäsche, wenn er abfuhr; sie hätte es sich nie verzeihen können, wenn die Andere sie beschuldigt haben würde, für ihren Mann schlecht zu sorgen.

»Ganz egal,« sagte Roubaud, »schön ist es nicht von Euch. Meine Frau, die ihre Amme verehrt, wird Euch einmal ordentlich den Kopf waschen.«

Er schwieg, denn er sah aus dem Schuppen, vor welchem sie standen, eine große, dürre Frau treten, Philomène Sauvagnat, die Schwester des Depotchefs. Sie war Pecqueux's Ersatzgattin seit einem Jahre. Beide plauderten wahrscheinlich gerade in dem Schuppen, als Pecqueux den Unter-Inspector anrief. Sie sah trotz ihrer zweiunddreißig Jahre noch jugendlich aus. Schlank und knochig gewachsen, mit platter Brust und abgezehrt vor Leidenschaft, besaß sie den länglichen Kopf einer Stute mit wollüstigen, stechenden Augen. Man hatte sie im Verdacht, daß sie trinke. Es gab keinen Beamten auf dem Bahnhof, der sie nicht schon einmal in dem kleinen Hause neben dem Maschinenschuppen, das sie mit ihrem Bruder bewohnte und sehr unsauber hielt, besucht hätte. Dieser, ein starrköpfiger Beichtbruder, aber als Beamter streng auf Disciplin haltend und von seinen Vorgesetzten sehr geschätzt, hatte schon die größten Unannehmlichkeiten dieserhalb gehabt, mehrfach war ihm schon mit Versetzung gedroht worden. Und wenn man sie auch jetzt seinetwegen duldete, so behielt er sie nur noch aus Familienrücksichten bei sich, was ihn nicht hinderte, wenn er sie einmal mit einem Manne abfaßte, so brutal zu schlagen, daß sie für todt auf der Erde liegen blieb. Zwischen ihr und Pecqueux war ein festes Verhältniß entstanden, mit welchem beide Theile zufrieden waren; sie hatte endlich Jemand gefunden, in dessen Armen sie volle Befriedigung fand, er dagegen war seiner dicken Frau überdrüssig und glücklich, diese magere entdeckt zu haben. Er brauche sich jetzt nicht weiter umzusehen, pflegte er im Scherz zu sagen. Séverine hatte für ihre Person mit Philomène gebrochen, sie glaubte das Victoire schuldig zu sein. Ihr natürlicher Stolz hatte sie schon früher von jener etwas fern gehalten, jetzt aber grüßte sie sie gar nicht mehr.

»Meinethalben gleich, Pecqueux,« meinte Philomène frech. »Ich gehe, weil Herr Roubaud Dir im Namen seiner Frau Moral predigen will.«

»Bleibe doch, er neckt mich nur,« antwortete der Heizer mit gutmüthigem Lachen.

»Nein, ich danke. Ich muß Frau Lebleu die zwei frischen Eier bringen, die ich ihr versprochen habe.«

Sie sprach diesen Namen absichtlich aus, denn sie kannte die hartnäckige Rivalität zwischen der Frau des Kassirers und der des Unter-Inspectors. Sie hielt es für richtiger, sich mit der Ersteren gut zu stehen, um so die Andere noch mehr ärgern zu können. Aber sie blieb trotzdem, mit einem Male interessirt, als sie den Heizer nach dem Verlauf der Geschichte mit dem Unterpräfecten fragen hörte.

»Alles beigelegt? Sie sind also zufrieden, Herr Roubaud?«

»Sehr zufrieden.«

Pecqueux kniff seine Spitzbubenaugen zusammen.

»Sie brauchen doch nicht besorgt zu sein? Sie gewinnen Ihr Spiel ja doch immer ... Nicht? Sie verstehen mich? Auch meine Frau schuldet ihm vielen Dank.«

Der Unter-Inspector unterbrach diese Erinnerung an den Präsidenten Grandmorin kurz mit der nochmaligen Frage:

»Ihr fahrt also heute Abend?«

»Ja, die Lison ist wieder hergestellt, man setzt ihr soeben die Triebstange an ... Ich erwarte meinen Lokomotivführer, der seinen freien Tag ebenfalls ausgenutzt hat. Sie kennen doch Jacques Lantier? Er ist ja Ihr Landsmann.«

Einen Augenblick schien es so, als wäre Roubaud mit seinen Gedanken Gott weiß wo gewesen. Dann aber sagte er, als besänne er sich jetzt plötzlich:

»Wie, Jacques Lantier, den Lokomotivführer? ... Gewiß kenne ich ihn. So auf guten Tag, guten Weg. Wir haben uns erst hier kennen gelernt, in Plasans habe ich ihn nie gesehen, er ist ja auch jünger als ich ... Im letzten Herbst hat er meiner Frau einen kleinen Dienst erwiesen, er hat für sie eine Bestellung bei ihren Cousinen in Dieppe ausgerichtet ... Ein befähigter Mensch, wie man sich erzählt.«

Er sprach mehr als nöthig in's Blaue hinein. Plötzlich ging er weiter.

»Auf Wiedersehen, Pecqueux ... Ich muß mal sehen, was hier los ist.«

Jetzt ging auch Philomène mit ihrem weit ausholenden Pferdetritt, während Pecqueux mit den Händen in den Hosentaschen und von dem schönen Morgen zu freundlichem Grinsen gereizt, erstaunt zurückblieb; denn schon kam der Unter-Inspector wieder zurück, nachdem er nur um den Schuppen gegangen war. »Sein Visitiren hat nicht lange gedauert,« meinte Pecqueux bei sich, »möchte wissen, was er da zu schnüffeln hatte.«

Als Roubaud die Halle wieder betrat, schlug es gerade neun Uhr. Er ging bis an's Ende derselben, blickte in die Gepäckexpedition, ohne, wie es schien, das Gesuchte gefunden zu haben. Ebenso ungeduldig kam er zurück. Nach einander suchten seine Blicke die verschiedenen Bureaus auf. Um diese Zeit lag der Bahnhof einsam und verlassen da. Außer ihm lief Niemand dort umher. Dieser Frieden aber wirkte auf ihn nervenstörend. Er fühlte die wachsende Unruhe eines Mannes, der eine Katastrophe kommen sieht und mit brennender Ungeduld ihren Ausbruch erwartet. Seine Kaltblütigkeit war dahin, er hatte sie nicht bewahren gekonnt. Seine Augen verließen das Zifferblatt der Uhr nicht mehr. Neun Uhr, neun Uhr 5 Minuten. Gewöhnlich suchte er seine Wohnung erst um zehn Uhr auf, um zu frühstücken, wenn der Zug um neun Uhr fünfzig Minuten fort war. Heute aber ging er jetzt schon nach oben, er dachte an Séverine, die dort oben ebenso ungeduldig wartete, wie er hier unten.

Im Corridor wurde genau um diese Zeit von Frau Lebleu Philomène, die als Nachbarin ohne Hut mit zwei Eiern in der Hand auf Besuch gekommen war, die Thür geöffnet. Sie gingen aber nicht hinein und so mußte Roubaud sich entschließen, unter ihren beobachtenden Blicken seine Wohnung zu betreten. Er hatte den Schlüssel bei sich und eilte sich. Trotzdem sahen Jene in der kurzen Zeit des Aufschließens und Zuwerfens der Thür Séverine auf einem Stuhl im Eßzimmer mit müßigen Händen und bleichem Antlitz unbeweglich sitzen. Frau Lebleu zog nun Philomène in ihr Zimmer und erzählte ihr, was sie am frühen Morgen gesehen hatte: jedenfalls war die Geschichte wegen des Unterpräfecten böse abgelaufen. Weit gefehlt, erklärte ihr Philomène, sie käme deshalb her, weil sie Neues wüßte, sie hätte es soeben aus dem Munde des Unter-Inspectors selbst gehört. Nun verloren sich beide Frauen in Vermuthungen. So war es immer, wenn sie zusammentrafen, ein Klatschen ohne Ende.

»Man hat ihnen den Kopf gewaschen, meine Liebe, dafür lege ich meine Hände in's Feuer ...«

»Ach, liebe Dame, wenn wir sie doch los würden!«

Die mehr und mehr zugespitzte Feindseligkeit zwischen der Lebleu und den Roubaud war aus einer Wohnungsfrage entstanden. Die ganze erste Etage über den Wartesälen war zu Beamtenwohnungen hergerichtet. Der Hauptcorridor ein wahrer Hotelcorridor, mit gelbgetünchten Wänden, der sein Licht von oben erhielt, theilte die Etage in zwei Flügel, rechts und links mündeten auf ihn braune Thüren. Aber nur die auf der rechten Seite gelegenen Wohnungen hatten Fenster, welche auf den mit alten Ulmen bestandenen Bahnhofsplatz führten; über letzteren fort hatte man einen herrlichen Blick auf die Küste von Ingouville; die links gelegenen Wohnungen dagegen hatten schmale, gewölbte Fenster, die sich direct auf das Bahnhofsdach öffneten, so zwar, daß die hohe Wölbung, dieses Gerippe aus Zinn und schmutzigen Scheiben jeden Fernblick abschnitt. Die einen konnten sich keine bessere Unterhaltung wünschen als das fortwährende Treiben vor dem Bahnhof, das Grün der Bäume, die mächtige Landschaft sie gewährte. Die Anderen dagegen mußten in dem Halbdunkel ihrer Zimmer und angesichts der gefängnißartigen Vermauerung des Himmels von Langeweile umkommen. Nach vorn heraus wohnten der Bahnhofsvorsteher, der Unter-Inspector Moulin und die Lebleu; nach hinten die Roubaud und die Billetverkäuferin, Fräulein Guichon; dann waren noch drei Zimmer vorhanden, die für die kontrollirenden Inspectoren reservirt wurden. Nun war es notorisch, daß die beiden Unter-Inspectoren stets neben einander gewohnt hatten. Daß aber neben Moulin jetzt die Lebleu wohnten, kam daher, weil der Vorgänger von Roubaud, ein kinderloser Wittwer, Frau Lebleu zu Gefallen ihr seine Wohnung abgetreten hatte. War es in der Ordnung, daß sie nach seinem Abgange Roubaud nicht wieder zufiel, daß man sie nach hinten verwies, trotzdem sie ein Anrecht auf die vordere Wohnung hatten? So friedlich und einträchtig die beiden Familien vordem gelebt hatten, so umgekehrt war es jetzt. Séverine hatte sich von ihrer zwanzig Jahre älteren Nachbarin zurückgezogen, mit deren Gesundheit es übrigens schlecht stand. Sie war mächtig dick und litt an wassersüchtigen Fußanschwellungen. Der Krieg war aber erst offen erklärt worden, seit Philomène durch abscheuliche Klatschereien die beiden Frauen erst recht auf einander gehetzt hatte.

»Die sind im Stande,« begann sie jetzt von Neuem, »ihre Reise nach Paris benutzt zu haben, um Ihre Vertreibung durchzusetzen ... Man hat mir versichert, daß sie dem Director einen langen Brief geschrieben haben, worin sie auf ihr gutes Recht pochen.«

Frau Lebleu barst fast vor Wuth.

»Die Elende! ... Ich glaube bestimmt, sie wollen die Billetverkäuferin auf ihre Seite ziehen, denn seit vierzehn Tagen grüßt mich das Fräulein kaum ... Auch ein sauberes Früchtchen! Ich werde ihr schon aufpassen ...«

Sie senkte die Stimme, um der Anderen zu versichern, daß das Fräulein jede Nacht zum Bahnhofsvorsteher schleiche. Beide Thüren lagen sich gegenüber. Herr Dabadie, der Wittwer und Vater einer großen, stets in Pension befindlichen Tochter war, hatte Jener die Stellung verschafft, die eine schon verwelkte, schlanke, schweigsame und reizbare Blondine von dreißig Jahren war, eine ehemalige Erzieherin. Es war unmöglich, sie abzufassen, denn sie verstand es, ohne jegliches Geräusch durch die schmalsten Oeffnungen zu schlüpfen. Ihre Person als solche zahlte nichts. Aber da sie des Bahnhofsvorstehers Liebste war, war ihr Einfluß ein schwerwiegender; hatte man erst ihr Geheimniß entdeckt, dann hatte man sie auch in Händen.

»Und ich werde es schließlich herausbringen,« fuhr Frau Lebleu fort ... »Hier sind wir, hier bleiben wir, alle braven Leute stehen zu uns, nicht wahr, Liebe?«

In der That nahm der ganze Bahnhof einen leidenschaftlichen Antheil an diesem Kriege der beiden Familien.

Der Hauptcorridor namentlich war der Schauplatz heftigster Auftritte. Nur der Unter-Inspector Moulin nahm nicht Theil daran; er war zufrieden, nach vorn heraus wohnen zu können und an eine furchtsame, spröde Frau verheirathet, die man nie sah, die ihm aber in jedem Sommer ein Kind schenkte.

»Und wenn sie auch wackeln, der eine Schlag streckt sie doch nicht nieder ... Vertrauen Sie nicht zu sehr, denn die kennen die Leute mit dem weit reichenden Arm.«

Sie hatte noch immer die beiden Eier in der Hand und bot sie jetzt Frau Lebleu an, es seien frische Eier von heute früh, sie hätte sie soeben ihren Hühnern fortgenommen. Die alte Dame erschöpfte sich in Danksagungen.

»Wie liebenswürdig, Sie beschämen mich. Kommen Sie doch öfter. Mein Mann ist, wie Sie wissen, stets an der Kasse und ich langweile mich so sehr. Meine Beine lassen mich leider nicht aus dem Zimmer. Was sollte aus mir werden, wenn mir jene Elenden die Aussicht nähmen?« Als sie die andere an die Thür begleitete und öffnete, legte sie den Finger an die Lippen.

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530 p.
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9783754184264
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