Der Traum

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From the series: Die Rougon-Macquart #16
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Kapitel II

Beaumont besteht aus zwei völlig getrennten und unterschiedlichen Städten: Beaumontl˜Eglise auf der Höhe mit seiner alten Kathedrale aus dem zwölften Jahrhundert, seinem Bischofspalast, der erst aus dem siebzehnten Jahrhundert stammt, seinen kaum tausend Seelen, die zusammengedrängt, erstickt in der Tiefe seiner engen Straßen leben; und BeaumontlaVille unten am Hügel, am Ufer des Ligneul, eine ehemalige Vorstadt, welche die gedeihliche Entwicklung ihrer Spitzen und Batistfabriken reich gemacht und ausgedehnt hat, so daß sie fast zehntausend Einwohner zählt, weitläufige Plätze und eine hübsche Unterpräfektur nach neuzeitlichem Geschmack aufweist. Die beiden Stadtteile, der nördliche und der südliche, haben so fast nur auf dem Gebiete der Verwaltung Beziehungen zueinander. Obgleich Beaumontl˜Eglise nur etwa dreißig Meilen von Paris entfernt liegt, wohin man in zwei Stunden gelangen kann, scheint es noch in seine alten Festungswälle eingemauert zu sein, von denen jedoch nur noch drei Tore übrig sind. Eine seßhafte, besondere Bevölkerung lebt hier das Leben, das die Vorfahren seit fünfhundert Jahren von Generation zu Generation geführt haben.

Die Kathedrale ist die Erklärung für alles, hat alles hervorgebracht und erhält alles. Sie ist die Mutter, die Königin, riesig inmitten des Häufleins niedriger Häuser, die gleich Kücken unter ihren steinernen Flügeln fröstelnd Schutz gesucht haben. Man lebt hier nur für die Kathedrale und durch die Kathedrale; die Handwerksbetriebe arbeiten nur, die Läden verkaufen nur, um sie zu ernähren, sie zu kleiden, sie zu unterhalten, sie und ihren Klerus; und wenn man einigen Bürgersleuten begegnet, so sind es die letzten Getreuen von längst entschwundenen Massen. Die Kathedrale schlägt wie ein Herz im Mittelpunkt, jede Straße ist eine ihrer Adern, die Stadt hat keinen anderen Atem als den ihren. Daher dieser Geist eines anderen Zeitalters, dieses fromme Erstarren in der Vergangenheit, diese klösterlich abgeschlossene Altstadt, die sie umgibt und nach einem alten Wohlgeruch von Frieden und Glauben duftet.

Und von der ganzen geheimnisumwitterten Altstadt stand das Haus der Huberts, in dem Angélique von nun an leben sollte, der Kathedrale am nächsten, war mit ihr verwachsen. Die Genehmigung, dort zwischen zwei Strebepfeilern zu bauen, mußte einst von irgendeinem Pfarrer erteilt worden sein, dem daran lag, den Ahnen dieses Geschlechts von Stickern als Meßgewandmachermeister und Lieferanten für die Sakristei an sich zu binden. Auf der Südseite sperrte die riesenhafte Masse der Kirche den schmalen Garten ab: unten der Umgang der Seitenkapellen, deren Fenster auf die Beete hinausgingen, dann der schlanke Leib des von den Strebebögen gestützten Schiffes, dann das weitläufige, mit Bleiplatten gedeckte Dach. Niemals drang die Sonne in die Tiefe dieses Gartens, nur Efeu und Buchsbaum wuchsen hier kräftig; und dennoch war der ewige Schatten, der von der riesigen Chorhaube der Apsis fiel, hier sehr lieblich, ein andächtiger, grabesstiller und reiner Schatten, der gut roch. In das grünliche, von ruhiger Kühle erfüllte Zwielicht ließen die beiden Türme nur das Geläut ihrer Glocken herabhallen. Von ihrem Klang zitterte das ganze Haus, das in diese alten Steine eingegossen, mit ihnen verschmolzen war und von ihrem Blute lebte, noch lange erschauernd nach. Es erbebte bei den geringsten kirchlichen Feiern; die Hochämter, das Grollen der Orgel, die Stimme der Vorsänger, sogar das beklommene Seufzen der Gläubigen summten in jedem seiner Räume, wiegten es mit geheiligtem Atem, der aus dem Unsichtbaren kam; und durch die erwärmte Mauer schienen manchmal sogar Weihrauchdämpfe zu dringen.

Fünf Jahre hindurch wuchs Angélique dort wie in einem Kloster, fern der Welt, heran. Sie kam nur sonntags aus dem Haus, um die Siebenuhrmesse zu hören, denn Hubertine hatte es durchgesetzt, sie nicht zur Schule schicken zu müssen, weil sie dort schlechten Umgang haben könnte. Diese alte und so beengte Behausung mit dem totenstillen Garten war ihre ganze Welt. Sie bewohnte unter dem Dach eine mit Kalk geweißte Kammer; morgens ging sie zum Frühstück in die Küche hinunter; zum Arbeiten stieg sie wieder in die Werkstatt im ersten Stock hinauf; und das waren nebst der steinernen Wendeltreppe in ihrem Türmchen die einzigen Winkel, in denen sie lebte, just die ehrwürdigen, von Geschlecht zu Geschlecht erhaltenen Winkel, denn niemals betrat sie das Schlafzimmer der Huberts und ging kaum einmal durch die gute Stube im Erdgeschoß, die beiden nach dem Geschmack der Zeit renovierten Räume. In der guten Stube hatte man die Deckenbalken weiß getüncht; ein Kranzgesims aus Palmenblättern mit einer Rosette in der Mitte schmückte die Decke; die Tapete mit großen gelben Blumen stammte aus der Zeit des ersten Kaiserreiches ebenso wie der Kamin aus weißem Marmor und die Mahagonimöbel, ein Tischchen, ein Ruhebett, vier mit Utrechter Samt bezogene Sessel. Wenn sie bei den seltenen Malen, die sie hierherkam, um die Auslage, einige in das Fenster gehängte Stickereien, auszuwechseln, einen Blick nach draußen warf, hatte sie immer denselben unveränderlichen Ausblick auf die auf das SanktAgnesTor zulaufende Straße: eine Kirchgängerin stieß den Türflügel auf, der sich geräuschlos wieder schloß, die Läden des Goldschmieds und des Wachshändlers gegenüber, in denen die heiligen Ziborien und die dicken Wachskerzen aufgereiht standen, wirkten immer leer. Und der klösterliche Friede, der in ganz Beaumontl˜Eglise herrschte, in der Rue Magloire hinter dem Bischofspalast, in der Grand˜Rue, in welche die Rue des Orfèvres mündete, auf dem Place du Cloître, wo die zwei Türme sich emporrecken, war in der schläfrigen Luft zu spüren, sank langsam mit dem bleichen Tageslicht auf die menschenleere Straße nieder.

Hubertine hatte es übernommen, Angéliques Bildung zu vervollständigen. Im übrigen vertrat sie die alte Meinung, daß eine Frau genug wisse, wenn sie richtig schreiben könne und die vier Grundrechnungsarten beherrsche. Doch sie hatte gegen den Widerwillen des Kindes zu kämpfen, das unaufmerksam war und aus dem Fenster guckte, obgleich das ein mittelmäßiges Vergnügen war, da dieses Fenster auf den Garten hinausging. Angélique begeisterte sich fast nur fürs Lesen; trotz der Diktate, die einer klassischen Textauswahl entnommen wurden, gelang es ihr nie, auch nur eine Seite einwandfrei zu schreiben; und doch hatte sie eine hübsche Schrift, eine schlanke und sichere Schrift, eine jener eigenwilligen Handschriften der großen Damen von einst. In den übrigen Fächern, Geographie, Geschichte, Rechnen, blieb sie völlig unwissend. Was sollte schon das Wissen? Es war ganz überflüssig. Später, als sie vor der Erstkommunion stand, lernte sie Wort für Wort ihren Katechismus in einem solchen Glaubenseifer auswendig, daß sie die Leute ob der Sicherheit ihres Gedächtnisses in Verwunderung setzte.

Im ersten Jahr waren die Huberts trotz ihrer Sanftmut oft verzweifelt. Angélique, die eine sehr geschickte Stickerin zu werden versprach, brachte sie durch plötzliche Launen, durch unerklärliche Anwandlungen von Trägheit nach Tagen vorbildlichen Fleißes aus der Fassung. Sie wurde plötzlich gleichgültig, tückisch, stahl Zucker und hatte dunkel umränderte Augen in ihrem roten Gesicht; und wenn man sie schalt, gab sie patzige Antworten. An manchen Tagen bekam sie, sobald man sie bändigen wollte, gar Anfälle von hochfahrender Tollheit, sie wurde steif, schlug mit Händen und Füßen um sich und war drauf und dran, zu beißen und alles zu zerreißen. Angstvoll wichen sie dann vor diesem kleinen Ungeheuer zurück, sie erschraken vor dem Teufel, der in ihr tobte. Wer war sie denn? Woher kam sie? Diese Findelkinder entstammen fast immer dem Laster und dem Verbrechen. Zweimal schon hatten sie beschlossen, das Kind der Jugendfürsorge zurückzugeben, so untröstlich waren sie und so sehr bedauerten sie, es überhaupt aufgenommen zu haben. Doch jedesmal endeten diese schrecklichen Auftritte, von denen das Haus noch hinterher zitterte, mit der gleichen Tränenflut, dem gleichen überspannten Reueausbruch, der das Kind in einer solchen Gier nach Züchtigung auf den Fußboden niederwarf, daß man ihm wohl verzeihen mußte.

Nach und nach gewann Hubertine Einfluß auf sie. Sie war mit der Einfalt ihrer Seele, ihrem starken und zugleich sanften, großherzigen Wesen, ihrer gesunden Vernunft, in ihrer vollkommenen Ausgewogenheit für diese Erziehung wie geschaffen. Sie lehrte sie den Verzicht und den Gehorsam, die beide sie der Leidenschaft und dem Stolz gegenüberstellte. Gehorchen, darauf kam es an im Leben. Man mußte Gott, den Eltern, den Vorgesetzten gehorchen, eine ganze Hierarchie der Ehrerbietung, außerhalb davon geriet das Leben aus der Bahn und nahm ein schlimmes Ende. Daher auch erlegte sie ihr, um sie Demut zu lehren, bei jeder Auflehnung als Buße irgendeine niedere Arbeit auf, das Geschirr abzuwaschen, die Küche zu wischen; und sie blieb bis zum Schluß dabei stehen, ließ Angélique über die Fliesen gebeugt arbeiten, die zuerst wütend war, sich aber schließlich besiegt gab. An diesem Kind beunruhigte sie vor allem die Leidenschaft, das Feuer und die Heftigkeit seiner Liebkosungen. Mehrmals hatte sie sie dabei überrascht, wie Angélique sich selbst die Hände küßte. Sie sah, wie Bilder sie geradezu in Fieber versetzten, kleine Kupferstiche von Heiligen, Jesusbildchen, die sie sammelte; dann fand sie sie eines Abends in Tränen aufgelöst, ohnmächtig, mit auf den Tisch gesunkenem Kopf, auf die Bilder gepreßtem Mund. Als sie ihr diese Bilder wegnahm, gab es wieder einen fürchterlichen Auftritt, Schreie, Tränen, als risse man ihr die Haut vom Leibe. Und von da an hielt Hubertine sie streng, duldete nicht mehr, daß sie sich gehenließ, überhäufte sie mit Arbeit, schuf Schweigen und Kälte um sie her, sowie sie fühlte, daß Angélique erregt wurde, irre Augen und glühende Wangen bekam.

 

Im übrigen hatte Hubertine eine Hilfe in dem Büchlein der Fürsorgebehörde entdeckt. Alle Vierteljahre, wenn der Steuereinnehmer seine Unterschrift hineinschrieb, war Angélique deswegen bis zum Abend düster gestimmt. Stechender Schmerz krampfte ihr Herz zusammen, wenn sie eine Goldspule aus der Truhe nahm und sie dabei das Buch zufällig erblickte. Und an einem Tage, an dem sie besonders wütend und ungezogen, ihr mit nichts beizukommen war und sie in der Schublade alles durcheinanderwühlte, war sie angesichts des kleinen Buches jäh wie vernichtet zusammengesunken. Schluchzen erstickte sie, sie hatte sich den Huberts zu Füßen geworfen, sich gedemütigt und gestammelt, sie hätten unrecht daran getan, sie von der Straße aufzulesen, und sie verdiene es nicht, ihr Brot zu essen. Seit diesem Tag hielt sie der Gedanke an das Büchlein oft von ihren Zornesausbrüchen zurück.

So erreichte Angélique ihr zwölftes Lebensjahr, das Alter für die Erstkommunion. Die so ruhige Umgebung, dieses im Schatten der Kathedrale schlummernde, von Weihrauch durchduftete, von Lobgesängen erschauernde kleine Haus begünstigte die langsame Veredelung dieses wilden Schößlings, der, man wußte nicht wo, herausgerissen und in den mystischen Boden des schmalen Gartens wieder eingepflanzt worden war; und dazu kam auch das geregelte Leben, das man dort führte, die tägliche Arbeit, die Weltfremdheit, in der man dort lebte, ohne daß auch nur ein Widerhall aus dem verschlafenen Stadtviertel hier hereindrang. Aber vor allem die Sanftmut erwuchs aus der großen Liebe der Huberts, die ein unheilbarer Selbstvorwurf gleichsam hatte an Umfang zunehmen lassen. Hubert verbrachte Tag um Tag mit dem Versuch, aus Hubertines Gedächtnis den Schimpf zu löschen, den er ihr angetan, als er sie gegen den Willen ihrer Mutter heiratete. Er hatte beim Tode ihres Kindes deutlich gefühlt, daß sie ihm die Schuld an dieser Strafe gab, und er bemühte sich, Verzeihung zu erlangen. Seit langem hatte sie ihm verziehen, betete sie ihn an. Er zweifelte zuweilen daran, dieser Zweifel verhärmte sein Leben. Um sicher zu sein, daß sich die Tote, die starrsinnige Mutter, unter der Erde hatte umstimmen lassen, hätte er gern noch ein Kind gehabt. Beider einziger Wunsch war dieses Kind der Vergebung, er lebte zu den Füßen seiner Frau in abgöttischer Liebe in einer jener ehelichen Leidenschaften, die glühend und keusch wie ein immerwährender Brautstand sind. So küßte er sie in Gegenwart des Lehrmädchens nicht einmal aufs Haar, nach zwanzig Ehejahren betrat er das gemeinsame Schlafzimmer nur verwirrt und erregt wie ein Jungvermählter am Hochzeitsabend. Verschwiegen war dieses Schlafzimmer mit seiner weißen und grauen Malerei, seiner blaugeblümten Tapete, seinen mit Kretonne bezogenen Nußbaummöbeln. Niemals drang ein Geräusch nach draußen, doch es roch so gut nach zärtlicher Liebe, es erfüllte das ganze Haus mit lauer Wärme. Und von liebevoller Zuneigung gleichsam umspült, wuchs Angélique in großer Leidenschaftlichkeit und großer Reinheit auf.

Ein Buch vollendete das Werk. Als sie eines Morgens herumstöberte und auf einem staubbedeckten Regal der Werkstatt wühlte, entdeckte sie zwischen nicht mehr gebrauchten Stickerei Werkzeugen ein sehr altes Exemplar der »Legenda aurea«15 von Jacobus a Varagine. Diese aus dem Jahre 1549 stammende französische Übersetzung war sicherlich einst von irgendeinem Meßgewandmachermeister wegen der Bilder gekauft worden, die voller nützlicher Hinweise über die Heiligen waren. Lange Zeit interessierte sie selbst sich fast nur für diese Bilder, diese kindlich gläubigen alten Holzschnitte, die sie entzückten. Sowie man ihr erlaubte zu spielen, nahm sie den in gelbes Kalbsleder gebundenen Quartband und durchblätterte ihn langsam: zuerst kam der Schmutztitel, in Rot und Schwarz, mit der Anschrift des Buchhändlers, »Zu Paris, in der Rue Neufve NostreDame, im Hause ›Zum Heiligen Johannes dem Täufer‹«, dann der Titel mit den Rundbildern der vier Evangelisten zu beiden Seiten, unten durch die Anbetung der Heiligen Drei Könige, oben durch den Triumph Jesu Christi, der seinen Fuß auf Totengebeine setzt, umrahmt. Und darauf folgte Bild auf Bild, verzierte Buchstaben, große oder mittlere Kupferstiche, wie sie im Text auf die einzelnen Seiten gehörten: Maria Verkündigung, ein riesiger Engel, der eine ganz zerbrechliche Maria mit Strahlen überflutet; der Mord an den unschuldigen Kindlein, der grausame Herodes16 inmitten eines Haufens kleiner Leichname; die Krippe, Jesus zwischen der Muttergottes und dem heiligen Joseph, der eine Kerze hält; der heilige Johannes der Almosner17, der den Armen gibt; der heilige Matthias18, der ein Götzenbild zerschlägt; der heilige Nikolaus19 als Bischof, der zu seiner Rechten Kinder in einem Kübel hat; und alle die heiligen Frauen, Agnes, der man den Hals mit einem Schwert durchbohrt, Agatha, der man die Brustwarzen mit Zangen ausgerissen, Genoveva, der ihre Lämmlein folgen, Juliana20, die gegeißelt, Anastasia21, die verbrannt wurde, Maria Aegyptiaca22, die in der Wüste Buße tut, Maria Magdalena23, die das Gefäß mit wohlriechender Salbe trägt. Andere und immer wieder andere zogen vorüber, Schrecken und Gottesfurcht wurden mit jeder dieser Heiligen größer, es war wie eine jener schrecklichen und zugleich süßen Geschichten, die einem das Herz zusammenpressen und die Augen mit Tränen feuchten.

Doch mit der Zeit wurde Angélique neugierig und wollte ganz genau erfahren, was diese Kupferstiche darstellten. Die beiden enggedruckten Textspalten, deren Lettern auf dem vergilbten Papier tiefschwarz geblieben waren, erschreckten sie durch den barbarischen Anblick der gotischen Schriftzeichen. Sie gewöhnte sich jedoch daran, entzifferte die Schriftzeichen, begriff die Abkürzungen und die Zusammenziehungen, wußte die Wendungen und die veralteten Worte zu erraten; und schließlich las sie fließend, war entzückt, als dringe sie in ein Geheimnis ein, und jubelte bei jeder neuen Schwierigkeit, die sie überwand. In diesem beschwerlichen Dunkel offenbarte sich eine ganze strahlende Welt. Sie trat ein in himmlischen Glanz. Ihre paar klassischen Bücher, die so nüchtern und so kalt waren, existierten überhaupt nicht mehr. Allein die »Legenda aurea« begeisterte sie, ließ sie nicht mehr los, hielt sie fest, vornübergebeugt, die Stirn in die Hände gestützt, ganz und gar gefangen, so daß sie nicht mehr aus dem täglichen Leben heraus lebte, sondern ohne Zeitbewußtsein das große Erblühen des Traumes aus der Tiefe des Unbekannten heraufsteigen sah.

Gott ist sanftmütig, und nächst ihm sind es die heiligen Männer und die heiligen Frauen. Sie werden als Auserwählte geboren, Stimmen kündigen sie an, ihre Mütter haben strahlende Träume. Alle sind schön, stark, sieghaft. Heller Schein umgibt sie, ihr Antlitz leuchtet. Dominicus24 hat einen Stern an der Stirn. Sie lesen im Geiste der Menschen, wiederholen mit lauter Stimme, was man denkt. Sie haben die Gabe der Weissagung, und ihre Prophezeiungen treffen stets ein. Ihre Zahl ist unendlich, es gibt Bischöfe und Mönche, Jungfrauen und Huren, Bettler und vornehme Herren von königlichem Geschlecht, nackte Einsiedler, die Wurzeln essen, Greise, die mit Hindinnen in Höhlen leben. Ihrer aller Geschichte ist die gleiche, sie wachsen für Christus heran, glauben an ihn, weigern sich, den falschen Göttern zu opfern, werden gefoltert und sterben voller Herrlichkeit. Die Verfolgungen werden den Herrschern lästig. Andreas25, der gekreuzigt wurde, predigt zwei Tage lang zwanzigtausend Menschen. Bekehrungen in Massen finden statt, vierzigtausend Menschen werden auf einmal getauft. Wenn die Menschenmengen sich angesichts der Wunder nicht bekehren, fliehen sie entsetzt. Man beschuldigt die Heiligen der Zauberei, man gibt ihnen Rätsel auf, die sie lösen, man läßt sie Streitgespräche mit den Gelehrten führen, die ihnen nichts zu erwidern vermögen. Sowie man sie in die Tempel führt, damit sie Opfer darbringen, werden die Götzenbilder von einem Windhauch umgestürzt und zerbrechen. Eine Jungfrau knüpft ihren Gürtel um den Hals der Venus, die daraufhin in Staub zerfällt. Die Erde erzittert, der Tempel der Diana26 stürzt ein, vom Blitz getroffen; und die Völker begehren auf, Bürgerkriege brechen aus. Jetzt verlangen oft die Henker nach der Taufe, die Könige knien zu Füßen der in Lumpen gehüllten Heiligen nieder, die sich der Armut vermählt haben. Savina27 flieht aus dem elterlichen Hause. Paula28 verläßt ihre fünf Kinder und versagt sich das Baden. Kasteiungen, Fasten läutern sie. Weder Weizenbrot noch Öl. Germanus29 streut Asche über seine Nahrung. Bernhard30 kann die Speisen nicht mehr unterscheiden und läßt nichts anderes gelten als den Geschmack des reinen Wassers. Agathon31 behält drei Jahre lang einen Stein im Mund. Augustinus32 ist verzweifelt darüber, gesündigt zu haben, weil er Gefallen daran gefunden, einen Hund laufen zu sehen. Wohlstand, Gesundheit werden verachtet, die Freude beginnt bei den Entbehrungen, die den Leib abtöten. Und so leben sie triumphierend in Gärten, wo die Blumen Sterne sind, wo die Blätter der Bäume singen. Sie vernichten Drachen, sie rühren Stürme auf und beruhigen sie, sie werden in der Ekstase um zwei Ellen vom Erdboden entrückt. Edle Witwen sorgen für ihre Bedürfnisse, solange sie leben, empfangen im Traum die Weisung, sie zu begraben, wenn sie gestorben sind. Außergewöhnliche Dinge widerfahren ihnen, wunderbare Abenteuer, schön wie Romane. Und wenn man nach Hunderten von Jahren ihre Gräber öffnet, entweichen liebliche Düfte.

Und wider die Heiligen stehen die Teufel, die zahllosen Teufel. »Sie fliegen oft um uns wie Fliegen und erfüllen die Luft ohne Zahl. Die Luft ist ebenso voll von Teufeln und bösen Geistern wie der Sonnenstrahl voll von Atomen. Es sind ihrer wie Staubkörner so viele.« Und der Kampf, der ewige Kampf entbrennt. Stets sind die Heiligen siegreich, und stets müssen sie den Sieg von neuem erringen. Je mehr Teufel verjagt werden, um so mehr kommen wieder. Man zählt sechstausendsechshundertsechsundsechzig im Leibe einer einzigen Frau, die Fortunatus33 von ihnen befreit. Sie toben, sie sprechen und schreien mit der Stimme der Besessenen, deren Flanken sie mit einem Sturm durchrasen. Sie gehen durch die Nase, durch die Ohren, durch den Mund in sie ein, und sie fahren nach Tagen entsetzlicher Kämpfe mit Gebrüll wieder aus ihnen heraus. An jeder Wegbiegung wälzt sich ein Besessener, liefert ein Heiliger, der vorübergeht, eine Schlacht. Basilius34 kämpft Leib an Leib mit dem Teufel, um einen jungen Mann zu retten. Macarius35, der sich zwischen Gräbern schlafen gelegt hat, setzen die Teufel eine ganze Nacht hindurch zu, und er erwehrt sich ihrer. Die Engel selber sind am Bette der Toten gezwungen, die Dämonen krumm und lahm zu schlagen, um der Seelen habhaft zu werden. Ein andermal wird nur gegen den Verstand und den Geist Sturm gelaufen. Man scherzt, man wendet alle Schlauheit auf, der Apostel Petrus und Simon der Magier führen ihren Streit mit Wundern. Der herumlungernde Satan nimmt alle Gestalten an, verkleidet sich als Frau, geht sogar so weit, das Aussehen von Heiligen anzunehmen. Doch sowie er besiegt ist, erscheint er in seiner Häßlichkeit: »Eine schwarze Katze, größer als ein Hund, mit großen glühenden Augen, mit langer Zunge, die breit und bluttriefend bis zum Nabel heraushängt, den gewundenen Schwanz hoch erhoben, seinen Hintern zeigend, aus welchem ein erschrecklicher Gestank hervorgehet.« Dem Satan gilt die einzige Sorge, der große Haß. Man hat Angst vor ihm und verspottet ihn. Man geht nicht einmal ehrlich mit ihm um. Trotz der grausamen Apparatur seiner Siedekessel bleibt er im Grunde genommen der ewig Betrogene. Alle Pakte, die er eingeht, werden ihm durch Gewalt oder List entrissen. Schwache Frauen schlagen ihn zu Boden, Margareta36 zertritt ihm mit ihrem Fuß das Haupt, Juliana schlägt ihn mit der Kette und reißt ihm die Flanken auf. Heitere Ruhe geht von alledem aus, Verachtung des Bösen, weil es ohnmächtig, Gewißheit des Guten, weil die Tugend allem überlegen ist. Man braucht sich nur zu bekreuzigen, und der Teufel vermag nichts mehr, heult auf und verschwindet. Wenn eine Jungfrau das Zeichen des Kreuzes macht, stürzt die ganze Hölle zusammen.

Alsdann werden in diesem Kampf der heiligen Männer und Frauen gegen Satanas die fürchterlichen Martern der Verfolgung dargestellt. Die Henker setzen die mit Honig bestrichenen Märtyrer den Fliegen aus; lassen sie barfuß über Glasscherben und glühende Kohlen gehen; stoßen sie in Schlangengruben; geißeln sie mit Peitschen, die mit Bleikugeln versehen sind; nageln sie bei lebendigem Leibe in Särge ein, die sie ins Meer werfen; hängen sie an den Haaren auf und zünden sie dann an; gießen ungelöschten Kalk, kochendes Pech, geschmolzenes Blei in ihre Wunden; setzen sie auf erzene Sessel, die bis zum Weißglühen erhitzt werden; drücken ihnen rotglühende Helme auf den Schädel; verbrennen ihre Lenden mit Fackeln, zerbrechen die Schenkel auf Ambossen, reißen ihnen die Augen aus, schneiden die Zunge ab, zerbrechen die Finger einen nach dem anderen. Doch das Leiden zählt nicht, die Heiligen bleiben voller Verachtung, trachten voller Eile und Freude danach, noch mehr zu leiden. Im übrigen werden sie durch ein fortwährendes Wunder geschützt, sie ermüden die Henker. Johannes trinkt Gift, und es kann ihm nichts anhaben. Sebastian37 lächelt, von Pfeilen durchbohrt. In anderen Fällen bleiben die Pfeile zur Rechten und zur Linken des Märtyrers in der Luft stehen; oder, vom Bogenschützen abgeschossen, kehren sie wieder zurück und stechen diesem die Augen aus. Die Märtyrer trinken geschmolzenes Blei wie eisgekühltes Wasser. Löwen werfen sich vor ihnen nieder und lecken ihnen die Hände wie Lämmer. Der glühende Rost ist für den heiligen Laurentius38 von angenehmer Kühle. Er schreit: »Siehe, Elender, die eine Seite hast du gebraten, brate auch die andere, und iß, denn sie ist genug gebraten.« Cäcilia, die in ein siedendes Bad gesteckt wurde, »blieb darin als an einem kühlen Ort und empfand keinen Tropfen Schweißes«. Christina können die Martern nichts anhaben: ihr Vater läßt sie von zwölf Männern schlagen, bis diese vor Erschöpfung zusammenbrechen; ein anderer Henker tritt an ihre Stelle, bindet sie auf ein Rad, zündet darunter Feuer an, aber die Flamme fährt zur Seite und tötet bei fünfzehnhundert Mann; er wirft sie ins Meer, mit einem großen Stein am Hals, aber die Engel halten sie alsbald über dem Wasser; Jesus selbst kommt, sie zu taufen, danach übergibt er sie dem Erzengel Michael, der führt sie wieder an das Land zurück; ein weiterer Henker schließlich sperrt sie mit Schlangen zusammen, die sich ihr liebkosend um den Hals ringeln, läßt sie fünf Tage lang in einen feurigen Ofen sperren, darin sie singt und keinen Schaden leidet. Vincentius39, der noch mehr erduldet, leidet dennoch keinen Schmerz: man zerbricht ihm die Glieder; man reißt ihm mit eisernen Kämmen die Rippen auf, daß ihm die Eingeweide aus dem Leibe hängen; man spickt ihn mit Nadeln; man wirft ihn auf die Kohlenglut, in die das Blut aus seinen Wunden fließt; man schließt ihn wieder in den finstersten Kerker, die Füße an einen Pfahl genagelt; und zerstückelt, geröstet, mit offenem Leibe lebt er immer noch; und seine Martern werden verwandelt in die Lieblichkeit der Blumen; unermeßliches Licht vertreibt die Finsternis des Kerkers. »Da er also mit den Engeln über die Blumen schritt und Gott lobte, erscholl der süße Gesang weithin, und der liebliche Duft der Blumen breitete sich umher. Darob erschraken die Wächter und schauten durch die Spalten des Kerkers: da wurden sie gläubig von dem, was sie sahen. Als Dacianus40 das hörte, geriet er außer sich und rief: ›Was mögen wir ferner tun? Weh, wir sind überwunden.‹« Solches ist der Schrei der Folterknechte, es kann nur mit ihrer Bekehrung oder mit ihrem Tode enden. Ihre Hände werden von Lähmung befallen. Sie nehmen ein gewaltsames Ende, Fischgräten erwürgen sie, der Blitz erschlägt sie, ihre Wagen zerschellen. Und die finsteren Kerker der Heiligen werden alle licht, Maria und die Apostel dringen durch die Mauern mit Leichtigkeit hinein. Immerwährender Beistand, Erscheinungen steigen vom offenen Himmel hernieder, wo Gott sich zeigt, eine Krone aus Edelsteinen in den Händen haltend. Daher auch ist der Tod freudenreich. Sie fordern ihn heraus, die Verwandten frohlocken, wenn einer der Ihren umkommt. Auf dem Berge Ararat hauchen zehntausend Gekreuzigte ihr Leben aus. Nahe bei Köln lassen sich elftausend Jungfrauen von den Hunnen niedermetzeln. In den Arenen krachen die Knochen unter den Zähnen der wilden Tiere. Im Alter von drei Jahren erleidet Quiricus41, den der Heilige Geist wie einen Mann sprechen läßt, den Märtyrertod. Kinder an der Mutterbrust beschimpfen die Henker, Verachtung, Verabscheuung des Fleisches, des menschlichen Gelumpes, würzt den Schmerz mit himmlischer Wonne. Soll man das Fleisch nur zerreißen, soll man es zerbrechen, es verbrennen, das tut gut; mehr und immer mehr, niemals wird es genug Todesqualen leiden; und sie rufen alle, man solle ihnen das Eisen, das Schwert in die Brust stoßen, das allein sie tötet. Eulalia42 auf ihrem Scheiterhaufen inmitten eines verblendeten Pöbels, der sie verhöhnt, atmet die Flamme ein, um schneller zu sterben. Gott erhört sie, eine weiße Taube fliegt aus ihrem Munde und steigt zum Himmel auf.

 

Als Angélique dies las, befiel sie höchste Verwunderung. So viele Greuel und diese sieghafte Freude brachten sie vor Entzücken außer sich, entrückten sie der Wirklichkeit. Aber andere, sanftere Stellen aus der »Legenda aurea« ergötzten sie überdies, die Tiere zum Beispiel, die ganze Arche Noah und alles, was darin kreucht und fleucht. Sie nahm Anteil an den Raben und Adlern, die damit beauftragt sind, die Einsiedler mit Nahrung zu versorgen. Und dann, wie viele schöne Geschichten über die Löwen! Der dienstfertige Löwe, der das Grab für Maria Aegyptiaca gräbt; der flammende Löwe, der die Tür der verrufenen Häuser bewacht, als die Prokonsuln die Jungfrauen dorthin bringen lassen; und dann noch der Löwe des Hieronymus43, dem man einen Esel anvertraut hat, der ihm gestohlen wird und den er wieder zurückbringt. Da war auch noch der Wolf, der, von Reue gepackt, ein gestohlenes Schwein zurückbringt. Bernhard tut die Fliegen in den Bann, und sie fallen tot hernieder. Remigius44 und Blasius45 speisen die Vögel an ihrem Tische, segnen sie und geben ihnen die Gesundheit wieder. Franciscus46 predigt ihnen »voll Taubeneinfalt«, ermahnt sie, Gott zu lieben. »Neben seiner Zelle saß ein Heimlein auf einem Feigenbaum und sang; da rief Sanct Franciscus ihm und reckte die Hand nach ihm aus und sprach: ›Komm zu mir, meine Schwester Cicada‹; da war sie ihm gehorsam und flog auf seine Hand. Da sprach er: ›Sing, meine Schwester Cicada, und lobe deinen Herrn.‹ Da sang sie alsbald und ging nicht eher von ihm, als bis er ihr Urlaub gab.« Diese Stelle war für Angélique eine ständige Quelle der Erbauung und gab ihr den Gedanken ein, die Schwalben herbeizurufen, und sie war neugierig, ob sie wohl kommen würden. Dann standen darin Geschichten, die sie nicht lesen konnte, ohne krank zu werden vor Lachen. Christophorus47, der gutmütige Riese, der das Jesuskind trug, erheiterte sie bis zu Tränen. Sie erstickte fast vor Lachen bei dem Mißgeschick, das dem Statthalter mit den drei Mägden der Anastasia widerfährt, als er sie in der Küche aufsucht und die Pfannen und Kessel küßt in dem Glauben, er umarme die Mägde. »Er ging hinaus, ganz schwarz und ungestalt und mit zerrissenen Kleidern. Und als die Diener, die draußen seiner warteten, ihn also verunreinet sahen, wähnten sie, es sei der Teufel, und schlugen ihn mit Stecken und flohen von dannen und ließen ihn ganz allein.« Doch ein unbezähmbares Lachen überkam sie, wenn jemand auf den Teufel einschlug, namentlich Juliana, die ihm, als sie im Kerker von ihm in Versuchung geführt wird, mit der Kette, damit sie selber gebunden war, eine ganz gehörige Tracht Prügel verabfolgte. »Nun befahl der Richter, daß man Juliana aus dem Kerker führe. Da ging sie heraus und zog den Teufel gebunden nach sich. Der flehte sie an und sprach: ›Juliana, Herrin, ich bitte dich, laß mich nicht so gar zu Spotte werden vor den Menschen, denn ich mag sonst hinfort keine Gewalt mehr haben über irgendeinen.‹ Sie aber zog den Teufel nach sich und zog ihn über den ganzen Markt und warf ihn zuletzt in eine Latrine.«