Read the book: «Liebende»

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Ema Engerer

LIEBENDE

Roman


Personen und Handlungen des Romans sind frei erfunden.

1. Auflage 2017

© 2017 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf

Alle Rechte vorbehalten

Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form oder zu irgendeinem Zweck elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopie, Recording und Wiederherstellung ohne schriftliche Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Jennifer Jünemann | www.bitdifferent.de unter Verwendung einer Illustration von Ivan Fedorov/123rf

Satz und Layout: Marx Grafik & ArtWork

Lektorat: Sylvia Luetjohann

Gesetzt aus der Warnock

ISBN 978-3-86410-145-8

eISBN 978-3-86410-317-9

www.windpferd.de

Die Yogini Melong Za Rinchen Tso

Hing ihre weißen Gewänder an die Strahlen der Sonne

Und tanzte nackt in den Bergen.

Nur noch Regenbogenlicht war von da an ihr Kleid.

(aus: Die weibliche Seite des Buddha, Agnes Pollner, 2008, S. 404)


Andere mögen zum Kloster gehen und Lampen opfern.

Ich folge dem Yogipfad und entzünde die Butterlampe

der angeborenen Seligkeit, die im Herzen wohnt.

Milarepa (1040 – 1123)

Für

Chögyal Namkhai Norbu

und

J.

Inhalt

Aufbruch

Auf dem Berg

Durchschneiden

Auf dem Weg

Begegnung

Gefährtin und Gefährte

Eifersucht

Inneres Feuer

Weggefährten

Geheime Kräfte

Nacht der Frauen

Das Fest

Die Einsiedlerin

Traumyoga

Mu Lingpa

Heilendes Wasser

Erde

Fragen

Ekajati

Ins innerste Herz

Spirale

Das Antlitz des Berges

Rückkehr

Seine Hand

Einssein

Aufbruch


Sie flog. Über endlose Ebenen, schneebedeckte Berge, grüne Täler. Leicht. Mühelos. Durchdrungen von Freiheit. Wie ein großer Vogel hing sie im offenen Himmel, glitt hinweg über mächtige Yakherden. Mit einem winzigen Flügelschlag schwang sie sich hoch in die Lüfte, die Welt unten wurde fern und unwirklich. Immer höher flog sie, hinein in die gleißende Sonne. Glück durchströmte Özel Li. Sie gab sich hin.

Ein feiner Schmerz durchzuckte sie, sie schlug die Augen auf. Aus den Augenwinkeln erspähte sie, wie eine zottelige graue Maus an ihrem Arm vorbeihuschte und im Dunkel der Hütte verschwand. Schlaftrunken drehte sie sich auf die andere Seite und zog sich die grobe Schafwolldecke über die Nase. Der Traum steckte ihr noch in den Knochen. Sie sah die Erde unter sich, die Flüsse und Wälder, spürte die Schwerelosigkeit, atmete die dünne, frische Luft und lachte mit dem Wind. Dieser Traum kehrte wieder und wieder. Und mit ihm ihr Sehnen nach grenzenloser, bedingungsloser Freiheit. Er war auch schuld daran, dass sie in dieser verlassenen staubigen Hütte lag, war sie doch vor zwei Tagen nachts aus dem Familienzelt weggelaufen, unmittelbar nachdem die Mutter ihr angekündigt hatte, der Familienrat habe beschlossen, sich nach einem Ehemann für sie umzuschauen. Der Vater habe schon einige Männer eingeladen, denen sie vorgestellt würde. Özel Li aber wollte keinen Ehemann. Sie wollte keinen Haushalt führen und Kinder aufziehen, so wie es ihre beiden älteren Schwestern taten. Sie liebte es, auf ihrem kleinen, schwarzen Pferd Kush durch die Wälder zu streifen, am Fluss zu liegen und stundenlang den Wolken am Himmel nachzuschauen und ihre rätselhaften Formen und Gesichter zu entschlüsseln. Schon immer wollte sie lesen und schreiben lernen, aber ihre Eltern hielten dies für ein Mädchen unnötig. So hatte sie es, so gut es eben ging, heimlich von ihrem Bruder abgeschaut. Sie hatte ihm bei den Schafen geholfen, dafür hatte er ihr gezeigt, wie man Buchstaben malt. Ein ganzes Heft hatte sie mit Worten und Sätzen vollgeschrieben. Dieses Heft, ihr ganzer Stolz, ein paar Adlerfedern, getrocknete Pilze und Yakfleisch hatte sie in ihre ziegenlederne Tasche gepackt und war, als alle schliefen, hinausgeschlichen. Ohne Bedauern war sie losgewandert.

Tief im Herzen spürte Özel Li: In dem Leben, das ihre Eltern für sie erdacht hatten, würde sie nicht glücklich. Darum wollte sie sich selbst auf die Suche machen. Sie wollte mehr vom Leben. Ihr Herz sagte, es wolle alles. Aber was war das – alles? Gelegentlich waren an ihrem Nomadendorf Wanderyogis vorbeigezogen, geachtete Männer und Frauen mit aufgerolltem oder verfilztem langen Haar, nur von einem schmalen Knochen zusammengehalten. Immer erhielten sie von der gastfreundlichen Familie warmes Essen und einen Schlafplatz. Auf Bitten der Menschen hielten sie Rituale für Tiere, Kranke, Sterbende und Tote ab. In Trockenzeiten riefen sie Regen herbei und bei Unfruchtbarkeit vermochten sie mit ihren Gebeten zuweilen eine Empfängnis zu bewirken. Waren solche Besucher im Dorf, suchte Özel Li begierig ihre Nähe; erzählten sie Geschichten von der Welt, hing sie an ihren Lippen, und bei jedem Abschied schaute sie ihnen versonnen nach.

Özel stand auf und streckte sich. Ein neuer Tag. Sie wusch sich am Bach, trank aus der hohlen Hand Wasser und kaute ein paar Beeren und Pilze. Es war Sommer und die Natur bot ausreichend Nahrung. Ihr schwarzes langes Haar glänzte erwartungsvoll in der Morgensonne, als sie ihren Weg fortsetzte. Sie hatte aus einer Pilgergeschichte herausgehört, dass in den Bergen von Lo Mantang ein alter Meister lebte. Ihn wollte sie finden und von ihm lernen. Wie die Wanderyogis wollte auch sie in das Geheimnis der Macht über Leben und Tod eindringen. Sie wollte lernen, die Natur zu beherrschen, so wie sie ihr Pferd beherrschte. Nach tagelangem Wandern durch einsame Gegenden – sorglich vermied sie es, durch Dörfer zu ziehen, wo sie der Vater womöglich suchen könnte – tauchte eines Abends in der Ferne eine Einsiedelei auf. Hoch oben an die steil abfallenden Felsen geschmiegt, wie ein hungriges Kind an die Brust der Mutter.

Am nächsten Morgen machte sie sich an den Aufstieg, er führte durch dichte Wälder. Zuvor hatte sie bei einer herumstreunenden Ziegenherde eine Flasche mit der weißlichen, süßherben Milch gefüllt, als Geschenk für den Meister. Der Pfad auf den Berg war beschwerlich und kostete sie ziemliche Mühe, trotzdem sie daran gewöhnt war, tagelang mit der Schafherde über Stock und Stein zu ziehen. Endlich, am späten Nachmittag, stand sie vor einer kleinen, leidlich gut instand gehaltenen Hütte. Sie lauschte: Alles war still. Auch auf ihr Klopfen hin war kein Geräusch von drinnen zu hören. Zaghaft drückte sie die Tür auf, Enttäuschung schob sich auf ihr junges Gesicht wie eine Wolke vor die Sonne. Der Raum schien verlassen, es roch feucht und muffig. Sollte der Meister weggezogen oder schon gestorben sein? Stumm verharrte Özel auf der Schwelle, bis sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, dann machte sie vorsichtig einen Schritt nach dem anderen hinein in die Hütte. Sie schob das dicke Tuch vor dem Fenster beiseite, eine fette rote Spinne verschwand, aufgeschreckt aus einem lauernden Frieden, eilig aus dem Netz. Das späte Tageslicht fiel ins Zimmer, Staub tanzte auf den Sonnenstrahlen. Sie sah sich um, auf dem Tisch stand eine Tonschale mit getrockneten Kräutern. Sacht nahm sie einige Blättchen, zerrieb sie zwischen den Fingern und roch daran, es war Wachholder zum Räuchern. In einer Nische war eine flache Feuerstelle im Boden eingelassen. Daneben standen je zwei Tassen, Schalen und Teller auf einem Holzbrett. Ein vergilbtes Rollbild hing an der Wand, darauf tanzte eine nackte kraftvolle Frau mit wildem Löwenkopf im Feuerkreis, ein fast zur Neige abgebrannter Kerzenstumpf stand darunter. Als es hinter ihr raschelte, wandte sich Özel erschrocken um. Eine schwarze Krähe saß auf dem Fensterrahmen, streckte neugierig den Kopf ins Zimmer und wippte den gedrungenen Körper vor und zurück. Behutsam streckte sie ihre Hand nach dem Vogel aus, doch der hüpfte meckernd vom Fensterbrett und flog auf eine knorrige Eberesche neben der Hütte. Özel setzte ihre Betrachtungen fort. In einer Ecke der Hütte lag ein Strohsack, daneben einige mit Brokatstoff umwickelte Textblätter. Wohnte ein Weiser an so einem unwirtlichen Ort? Vielleicht war er ja längst weitergezogen, so verlassen wie die Hütte wirkte. Doch nach dem stundenlangen Wandern bergauf war Özel viel zu erschöpft, um über ihre Entdeckung allzu enttäuscht zu sein. Wie eine müde Katze rollte sie sich unter dem Bildnis der löwengesichtigen Frau mit dem blauen Körper zusammen und schob ihren Beutel unter den Kopf. Binnen Sekunden schlief sie tief und fest.

Eine furchterregende nackte Gestalt trampelte auf ihr herum, sie lag auf der Erde, hilflos, gelähmt vor Angst. Dunkle Schreie stieß sie aus, die löwenmähnige wilde Frau, sie drangen durch Mark und Bein, rissen ihr Inneres auf. Ihre schweren, üppigen Brüste wippten im Takt des Tanzes, als schlügen sie den Rhythmus. Um ihren Hals baumelte eine lange Kette aus Schädelknochen, in der Linken schwang sie ein gebogenes Messer. Özel Li keuchte und wand sich, versuchte, der hereinbrechenden Gewalt auszuweichen. Jeder Fußtritt zielte mitten ins Herz. Aber es war nicht Schmerz, was sie fühlte, es war Leere, immer größer werdende Leere, die sie zu verschlingen drohte. Özel schrie und kämpfte um ihr Leben. Sie wollte nicht vernichtet werden, nein, das wollte sie nicht.

Wie ein gehetztes Tier fuhr sie auf, fasste sich ans Herz, ihr Atem ging wild. Die Haare hingen ihr schweißnass ins Gesicht. Es war stockdunkel. Wo war sie? Plötzlich fiel es ihr wieder ein, sie befand sich in der Hütte auf dem Berg. Welcher hässliche Geist hatte sie da im Traum heimgesucht? Erleichtert, dem Trugbild entronnen zu sein, drehte sie sich weg von der Wand auf die andere Seite – und erstarrte. Im schalen Licht des jungen Mondes saß eine schemenhafte Gestalt auf dem Boden, stumm wie ein Geist, die Hände im Schoß. Aufrecht, die Augen reglos auf sie gerichtet.

Özel Li wäre am liebsten im Erdboden versunken. Ohne Erlaubnis war sie gedankenlos in ein fremdes Haus eingedrungen. In der Nacht war der Meister zurückgekehrt und hatte in seiner Einsiedelei ein fremdes Mädchen vorgefunden. Wie konnte sie nur so unbedacht handeln? Langsam wie eine Schildkröte setzte sie sich auf, entschlossen, sich so respektvoll wie nur möglich aus der Hütte zu entfernen. Vor dem Mann auf dem Boden liegen zu bleiben war ein Ding der Unmöglichkeit. Ihre Gedanken überschlugen sich, ihr Herz sprang fast aus der Brust, als der Alte seine Hand hob und sie heranwinkte. Wortlos gehorchte Özel. Stumm saßen sie im Dunkel neben-einander und schauten auf die Wand. Nur langsam fand Özels Atem zum gewohnten Rhythmus zurück, die Augen machten sich mit der Nacht vertraut. Wie ein Blitz durchzuckte sie ein Gedanke, als ihr Blick das Rollbild an der Wand streifte: Die nackte Frau aus ihrem Traum war kein böser Geist, die blaue Dakini, die Himmelstänzerin, war auf ihrem Herzen herumgetrampelt. Sie war in ihrer Höhle, im Heiligtum der Löwin. Özel schaute und erschauderte.

Noch lange saßen der Alte und das Mädchen nebeneinander in der Dunkelheit, der Raum der kleinen Hütte weitete sich. Irgendwann fielen Özel Li vor Müdigkeit die Augen zu und sie verkroch sich zum Schlafen in die hinterste Ecke der Hütte, der Meister verharrte reglos auf seinem Platz.

Es war taghell, als sie erwachte, die Hütte leer. Mit eiligen Fingern ordnete sie Kleidung und Haar und trat ins Tageslicht. Auf einem Felsvorsprung saß der Meister in der Morgensonne. Zu Özels Verwunderung war die schwarze Krähe neben ihm und pickte Krümel von der Erde. Ein Bein untergeschlagen, rührte er in einer Schale, er trug eine braune, knielange Hose unter einem dunkelroten Gewand. Das Haar, locker zum Zopf gewickelt, fiel silbergrau und lang über eine schmale Schulter und sein weißer, langer Bart schimmerte wie ein Rinnsal aus Milch. Er wandte den Kopf und Özel traf, wie schon in der Nacht, das Strahlen seiner durchdringenden Augen. »Möchtest du etwas trinken?«

Er goss dampfenden Buttertee in eine leere Schale und streckte sie ihr hin.

Verlegen setzte sie sich, nahm aber dankbar einen Schluck heißen Tee aus geröstetem Gerstenmehl. Wie sollte sie sich nach dieser Nacht erklären? Beherzt ergriff sie die Flucht nach vorn.

»Ich heiße Özel Li und möchte deine Schülerin werden, Meister. Meine Eltern wollten mich verheiraten, aber ich möchte keinem Mann angehören und habe deshalb mein Zuhause verlassen. Es tut mir wirklich entsetzlich leid, dass ich in deiner Abwesenheit so unbedacht in die Hütte eingedrungen bin.«

»Du meinst, du bist von zu Hause weggelaufen«, stellte der Meister trocken fest und goss Tee nach. »Wie willst du einem Meister gehorchen, wenn du dich nicht einmal deinen Eltern oder einem Ehemann unterordnen kannst?«

Özel kaute auf der Unterlippe. Womöglich hatte der Meister recht und würde sie zurückschicken.

»Wie alt bist du, Özel Li?«

»Siebzehn.«

»Warum suchst du kein Kloster auf und wirst Nonne, wenn du nicht heiraten willst?«

Der Meister schlürfte aus seiner Schale.

Özel schwieg. Sie hatte niemals darüber nachgedacht, Nonne zu werden.

»Ich bin noch jung und weiß nicht viel von der Welt, Meister«, erwiderte sie. »Doch seit meiner Kindheit träume ich davon, ein Wanderleben zu führen. In meinen Träumen fliege ich Nacht für Nacht durch die Welt und es ist wunderbar. Ich glaube, ich wäre eine schlechte Ehefrau, Mutter oder Nonne, ich fühlte mich eingesperrt und erstickt von starren Regeln und Erwartungen. Ich träume davon, frei zu sein. Mein Herz sagt, es will Alles. Aber was ist das: Alles. Sag mir, Meister, warum aber trage ich einen solchen Wunsch in meinem Herzen, wenn es nicht möglich ist, ihn Wirklichkeit werden zu lassen?«

Der Meister schwieg und schaute aufmerksam in den Himmel. Die Krähe streckte sich, breitete die Flügel aus und flog davon.

Nach ihrer offenen Rede war Özel bange ums Herz. Ihr Vater hätte dies nicht geduldet, hätte mit einer steilen Zornesfalte zwischen den Augenbrauen das Zelt verlassen.

»Klug und mutig hast du gesprochen, Özel Li. Ja, warum sollte sich in deinem Herzen ein derartiges Sehnen entfalten, wenn es sich nicht verwirklichen ließe?«, lächelte da der Meister und betrachtete sie freundlich und aufmerksam. Das Mädchen wird von einer eigenartigen Sorglosigkeit getragen, von einem fast selbstgenügsamen Vertrauen in das Wohlwollen des Lebens, dachte er. Das ist eine besondere, eine unschuldige Gabe, die wie ein junger Baum begossen werden wollte. Er nickte wie zur Bestätigung noch einmal vor sich hin. Wie die Krähe, dachte Özel Li.

»In Ordnung. Ich bin Norbu Legpa, du kannst eine Zeitlang bei mir bleiben.«

Auf dem Berg


Özel Li bezog einen leerstehenden Unterstand hinter des Meisters Hütte. Im Morgengrauen standen sie auf und rezitierten im Einklang mit der Bahn des Mondes gemeinsam heilige Texte. War der Mond voll und rund, sangen sie Anrufungen, die das Leben stärkten und lange währen ließen. Unter der schmalen Sichel des Neumondes war es dagegen gut, die Kräfte des Körpers und seine Energie zu erneuern. Meister Norbu lehrte sie jahrhundertealte Melodien. Sogar ihre Schreibkünste waren an diesem Ort willkommen. Der Meister trug ihr auf, alte, verschlissene Gebetstexte auf frische Papierstreifen zu übertragen. Sie lernte begierig und ihr Leben war mit lauter neuen Tätigkeiten ausgefüllt. Özel war so zufrieden auf dem Berg, dass sie nur ganz selten an ihre Familie dachte.

Jeden Vormittag holte sie Wasser aus der nahen Quelle und bereitete ein Mittagsmahl aus Reis oder Gerstenbrei, wilden Kräutern und Wurzeln. Nachmittags wanderten sie häufig in die Bergwälder und suchten seltene Pilze und Pflanzen. Der Meister unterwies sie in der Kunst, fein ausgesuchte Rezepturen aus Pflanzenauszügen zu mischen. Manchmal bekam Norbu Legpa Besuch von Hilfesuchenden aus den Dörfern und dann schrieb Özel die Anweisungen des Meisters nieder, damit später eine Apotheke das passende Heilmittel für den Kranken zubereiten konnte. Geduldig fertigte er Schutzbändchen und Medizinpillen für Bittsteller, die Krankheiten heilen und böse Geister fernhalten sollten. Am Abend saßen sie schweigend vor der Hütte und blickten über das Tal in den grenzenlos weiten Himmel. Fast war es, als ob es schon immer so gewesen wäre.

An jedem fünfundzwanzigsten Tag des Mondkalenders feierten sie den Tag der Dakinis, jener erleuchteten weiblichen Wesen, die im Himmelsraum tanzen. Özel Li faszinierten diese schönen, stolzen Frauen, wenngleich sie vor dem Rollbild der nackten Simhamukha in der Hütte des Meisters eine unerklärliche Scheu verspürte. Niemals würde sie den bedrohlichen Schrecken jener Nacht vergessen, in der die Dakini im Traum auf ihrem Körper herumgetrampelt war. An jedem Abend des Dakinifestes vollzogen sie gemeinsam vor dem Rollbild der blauen Simhamukha in der Hütte eine besondere Zeremonie.

»Simhamukha ist die zornvolle Erscheinungsform einer Gottheit und sie ist die wichtigste Schützerin der Lehren meiner Meister und unserer Übertragungslinie«, erklärte der Meister eines Abends.

»Ihr Löwenkopf ist ein Symbol für Furchtlosigkeit und mit dem Messer in der Hand durchschneidet sie jede hinderliche Bindung. Hätte sie dich nicht in jener ersten Nacht als Schülerin angenommen, hätte ich dich wieder weggeschickt. Doch in meinem Geist konnte ich sehen, dass sie dich im Traum aufsuchte und die Arbeit an dir aufnahm. So war sie es, die dich erwählte, nicht ich.«

Özel staunte.

»Erzähl mir mehr über die Himmelstänzerinnen, Meister«, bat sie.

»Dakinis sind die Trägerinnen unseres geheimen Wissens, sie bewahren und schützen es. Sie sind Kräfte, die sich als erleuchtete weibliche Wesen verkörpern. Manche zeigen sich in friedvollen und gütigen Erscheinungsformen, andere erscheinen wild und ungezähmt. Sie durchmessen den Raum in Windeseile. Am Morgen vor deiner Ankunft besuchte mich seit langer Zeit einmal wieder die schwarze Krähe. Sie ist eine Verkörperung der Dakini, ein gutes Zeichen, das dein Kommen ankündigte. Und wenn es Zeit ist, wirst du einer von ihnen begegnen«, schloss der Meister mit einem Augenzwinkern und wickelte die Gebetstexte in ein blauseidenes Tuch. Die Ruhe der Nacht hüllte die Hütte ein.

Eines Nachts, es war Vollmond und sie hatten nach dem Abendessen gemeinsam ein Ritual ausgeführt, erwachte sie von seltsamen Geräuschen und einem leisen hellen Gelächter. Was war das? Unter der Wolldecke lauschte Özel Li in die Nacht, bis sie ihre Neugier nicht mehr bezähmen konnte. Sie schlich zur Hütte des Meisters und spähte durch eine Ritze in der Holzwand. Im schwachen Dämmerschein einer Butterlampe waren zwar nur flirrende Schatten zu erkennen, doch Özel war trotzdem sicher, aus dem verhaltenen Raunen eine weibliche Stimme herauszuhören. Einen Augenblick lang warf der Lichtschein den Schatten einer Frau an die Wand: sie war nackt. Özel verschlug es den Atem. Rasch und verlegen lief sie zurück in ihre Kammer und kroch unter die Decke, der ihr eigener vertrauter Geruch anhaftete. Ein Gedanke jagte den nächsten. Was war das für eine Frau? Hatte der Meister eine Gefährtin? Aber war er nicht schon zu alt? Das Rollbild der nackten Dakini in seiner Hütte, die unverhüllte Frau … vielleicht war sie ja eine Erscheinung oder aber der Meister hatte tatsächlich Besuch von einer Frau. Özel war verwirrt. Von Übungen eines Yogi mit einer Yogini hatte sie bislang nur aus seltenen und merkwürdigen Geschichten der Besucher in ihrem Dorf erzählen gehört. Niemand hatte bisher ihren Körper berührt.

Am Morgen erhob sie sich wie üblich und bereitete Tee und Gerstenbrei am Feuerplatz. Der Meister trat aus der Hütte, als sei nichts geschehen, wäre da nicht ein vergnügtes Lächeln in seinen Augenwinkeln gewesen. Als sie später in der Hütte aufräumte, war ihr, als liege ein Hauch von Rosenblüten in der Luft. Beschämt wegen ihrer nächtlichen Neugier verschloss sie das Ereignis tief in sich. Wochen später, als sich einige hilfesuchende Dörfler wieder auf den Nachhauseweg gemacht hatten und sie beim salzigen Buttertee unter der knorrigen Esche beieinander saßen, wandte sich Özel Li an ihren Lehrer:

»Meister, bei den einfachen Menschen gelten einige Wiedergeburten und Leben mehr als andere. Lehrer wie du oder hohe Lamas in den Klöstern werden von allen verehrt. Es heißt, ihr müsst sehr viele Verdienste in früheren Leben angesammelt haben. Andere Menschen gelten weniger. Frauen gelten weniger als Männer und solche, die Tiere töten und schlachten, gelten weniger als jene, die Tierfleisch verkaufen oder essen.«

Ein überraschter Blick aus Norbu Legpas braunen Augen traf sie. Er runzelte die Stirn und stellte seine Tasse auf einen Schemel.

»Eine Mutter hat sieben Kinder geboren«, begann er. »Welches von ihnen wird sie am liebsten haben, die älteste Tochter, die ihr im Haus am meisten zur Hand geht und schon am längsten bei ihr ist, oder das jüngste, weil es ihres Schutzes am meisten bedarf, oder vielleicht das vierte Kind, ein Mädchen, weil es sehr schön ist, oder den zweitgeborenen Jungen, weil er den Namen der Familie weitertragen wird? Was meinst du, Özel?«

Özels Gedanken wanderten das erste Mal seit langer Zeit wieder zu ihrer Mutter. Sie hatte acht Kindern das Leben geschenkt. Eines war gleich nach der Geburt gestorben. Sie hatte drei Brüder und drei Schwestern und war die fünfte in der Reihe der Geschwister. Jedes Kind war ganz anders, hatte eigene Vorlieben und unverkennbare Eigenarten, genauso wie Hundewelpen. Tashi, ihr ältester Bruder, konnte besonders gut mit Tieren umgehen, seiner flüsternd lockenden Stimme folgten sie aufs Wort. Ihre Schwester Pema sang so schön, dass ihr alle im Dorf gerne lauschten. Karpo wiederum liebte es, mit seinem zahmen Adler durch die Gegend zu ziehen, zu jagen und üppig mit Nahrung beladen nach Hause zurückzukehren. An wen sie auch dachte, es stimmte, jeder hatte eine besondere Gabe und sie vermochte nicht zu sagen, welches Kind die Mutter wohl am meisten liebte. Sie hatte immer gewollt, dass es allen Kindern gut erging und ihnen nur das Beste geschah.

Özel Li schüttelte ratlos den Kopf: »Ich weiß nicht, Meister. Liebt eine gute Mutter nicht alle Kinder gleich, auch wenn sie so verschieden sind? Sie sind ein Teil von ihr und sie hat ein jedes lange Monate in ihrem Bauch getragen, sie genährt und gehegt.«

Norbu Legpa nickte unmerklich.

»Wenn schon eine Mutter zu einer solch grundlosen, bedingungslosen Liebe fähig ist, Özel, wie kannst du glauben, dass irgendein Lebewesen unter dem weiten grenzenlosen Himmel wichtiger oder weniger wichtig sein kann? Dies sind nur Gedankenspielereien der Menschen. Doch gibt es in jedem Leben diese unaussprechlich kostbaren Momente, in denen ein Mensch etwas begreift, etwas in sich hineinlässt, durchlässiger ist für tieferes Verstehen und sich über die üblichen Urteile erhebt. Diese Momente sind es, in denen sich die Schleier des Nichtwissens heben und in ihm eine Ahnung seiner eigenen Vollkommenheit aufblitzt. Dann mag es sein, dass er unter diesem Eindruck eine weitreichende, lebensverändernde Entscheidung trifft, sein Dasein von grundloser Liebe erfüllt wird und er sich zutiefst eins fühlt mit der belebten und unbelebten Welt. Dann ist der Mensch ganz bei sich, zu Hause in seinem Herzen«, sprach Norbu Legpa und schaute ihr lange in die Augen.

»Alles, was lebt, alles ist vollkommen und unterschiedslos sichtbar gewordene Liebe, geboren aus der wahren Natur, der großen Mutter, so du willst, aus dem göttlichen Sein. Wir Menschen haben dem großen Einen viele Namen gegeben, und doch gibt es nur das Eine, Unaussprechliche: unsere wahre Natur. Sie umfasst alles. Das ist das Wissen der Ältesten: das Geheimnis der großen Vollkommenheit.«

Der Meister lächelte unergründlich.

»Wenn du Menschen aufmerksam beobachtest, wirst du bemerken, es gibt in jedem Leben etwas ganz und gar Einzigartiges, Unverwechselbares. Wie ein jeder seine Lieblingsspeise hat und sich wünscht, sie so gut wie möglich zu kochen, mit der größtmöglichen Sorgfalt und Liebe, so ist der Mensch, ohne es zu wissen, ständig auf der Suche nach dieser einen Vollkommenheit. Die tiefste Sehnsucht des Menschenherzens ist es, sich immer mehr öffnen zu dürfen, grenzenlos und unbekümmert ganz Herz zu sein, sich mit allen Poren und jeder Seelenfaser hineinzugeben, hineinzustrecken in dieses Sein.«

Norbu Legpa schloss die Augen und wandte sein Gesicht in die untergehende Sonne, und auch wenn manche seiner Worte für Özel Li fremd und neu klangen, war ihr, als hätte der Meister etwas, für das sie noch keine Worte hatte, in ihr bewegt und genährt.

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