Fußball-Taktik

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Eigeninitiative und taktisches Verständnis der Spieler

Fußballer der Neuzeit sind taktisch so gut geschult, dass sie Fehlentwicklungen auf dem Platz selbst erkennen und eigenmächtig gegensteuern, sofern ihnen der Trainer diesen Entscheidungsspielraum zugebilligt hat. »Schon in der Oberliga gibt es Spieler, die sagen, ›jetzt ziehen wir mal das Tempo an‹, um nur ein Beispiel zu nennen. Das liegt an der Persönlichkeit eines Spielers. Die Zeiten von Turnvater Jahn, als Trainer sagten, »so und nicht anders macht ihr es«, sind vorbei. Das ist eine nur logische Entwicklung, auch weil die Lehrmethodik der Trainer sich verändert hat, sie ist heute immer mehr induktiv (Anmerkung: vom Einzelnen zum Allgemeinen führend). Man geht viel mehr auf den Spieler ein und fragt: ›Was meinst du in dieser Situation?‹ Denn wenn die Erkenntnis von ihm selbst kommt, geht es eher in seinen Kopf, als wenn ich ihn nur mit meinen Vorgaben fülle, fülle und nochmals fülle, er den Inhalt aber vielleicht gar nicht richtig verstanden hat. In Deutschland wird zwar in der Ausbildung immer noch Frontalunterricht praktiziert, aber nicht mehr in dem Maße wie früher, im Fußball nur noch selten. »Heute Nachmittag werde ich eine halbe Stunde lang einen Vortrag über das Spiel im letzten Drittel halten, aber dann wird es die ganze Woche über praktisch angewendet auf dem Platz. Das machen zunächst noch die Trainer, aber eines Tages werden auch die Spieler selbst mal eine Einheit halten, um ihre Perspektive zu verändern.«

Zu seiner Trainerzeit beim SC Freiburg gab Robin Dutt einigen seiner Spieler den Auftrag, das zuletzt absolvierte Spiel zu analysieren und dem Rest der Mannschaft vorzutragen. Nach einer Trainingseinheit gingen sie zum Videoanalysten, schnitten mit ihm einige Spielszenen zusammen und präsentierten sie anschließend den Mitspielern. Mit Szenen, die gelungen waren, aber auch mit Szenen, die noch ausbaufähig waren. »Einmalig ist das sicher in Ordnung, ein gelungenes Experiment. Man darf es aber nicht übertreiben. Nicht dass die Spieler eines Tages den Trainingsplan vorgeben. Der Spieler macht sich vielleicht für die neunzig Minuten Training seine Gedanken, doch der Trainer besitzt den großen Überblick und macht sich auch noch für den Rest des Tages und der Woche Gedanken über Trainingsinhalte. Aber grundsätzlich finde ich den induktiven Ansatz förderlich und gut.«

Wormuth gibt dafür ein weiteres Beispiel: »Als wir mit der Hennes-Weisweiler-Akademie noch in der Sporthochschule Köln ansässig waren, hatten wir dienstags immer eine U14 des 1. FC Köln als Demonstrationsmannschaft zu Gast und wenn wir mit ihr induktiv gearbeitet haben, dann haben sie Spielsituationen auf den Punkt genau analysiert. Wir waren beeindruckt und haben gesagt, ›diesen 14-Jährigen müssten wir eigentlich die C-Trainerlizenz geben‹. Aber im Spiel, beim praktischen Übertrag, hat man dann den Mangel an Erfahrung gemerkt. Sie wussten es nur theoretisch. Aber der Trainer hatte gut mit ihnen gearbeitet, und das ist die Voraussetzung. Doch sie brauchen natürlich ihre Zeit, um das Gelernte auch zu verinnerlichen, bis die Automatismen sitzen. Und die Automatismen funktionieren auch nur dann, wenn der Gegner genau so agiert, wie wir es wollen. Das ist ja die Krux, dass auch der beste Automatismus nichts nutzt, wenn der Gegner mit seinem Verhalten von meiner Erwartung abweicht. Dann benötige ich taktische Flexibilität, und an ihr arbeiten die Trainer, sodass die Spieler Entscheidungen freier treffen können. Natürlich gibt es trotzdem ein paar Grundsätze, die einzuhalten sind. Was mich sehr freut, ist, dass wir in der heutigen Generation viele junge Trainer haben, die ihre Teams taktisch sehr variabel agieren lassen und auf Veränderungen in einer Partie zeitnah mit geeigneten Umstellungen reagieren können.«

Trockenübungen

Unter Arrigo Sacchi als Trainer des AC Mailand wurden sie Ende der 1980er Jahre populär: Trockenübungen ohne Ball und Gegner, die in diesem Buch noch einige Male Erwähnung finden werden. Weil sie, richtig ausgeführt und ohne die Spieler durch Eintönigkeit zu ermüden, Mannschaften auf ein taktisch höheres Level führen, indem sie das Bewusstsein für ein mannschaftlich geschlossenes Verhalten schärfen. Als der bis dahin vergleichsweise unbekannte Sacchi 1987 von Milan-Eigner Silvio Berlusconi zu den Lombarden geholt wurde, hatte er noch kein Erstliga-Team trainiert, wohl aber mit Zweitliga-Aufsteiger AC Parma den AC Milan aus dem italienischen Pokal geworfen. Fortan prägte er bis 1991 eine Ära der Rossoneri, die zu einer der erfolgreichsten ihrer Klubgeschichte wurde – ohne Zweifel auch dank überragender Einzelkönner wie Franco Baresi, Paolo Maldini, Frank Rijkaard, Ruud Gullit oder Marco van Basten.

Sacchis Kunst bestand darin, aus diesem Sammelsurium an Individualisten eine Einheit zu formen, die sowohl ein für die italienische Serie A ungewohntes Offensivspektakel bot, als auch, dass er die Abwehr derart stabilisierte und verdichtete, dass sie fast unüberwindbar wurde. So dominierte der AC Mailand vor allem in Europa und fügte seinem Trophäenschrank Pokal um Pokal hinzu. Ein wesentlicher Baustein zur Überlegenheit war Sacchis intensives Taktiktraining, bei dem er die Spieler auf dem Feld »trocken« hin und her verschob: Er selbst stand vor ihnen, die Position des Balles simulierend, die Spieler folgten seinen Bewegungen, bis alle Abläufe verinnerlicht waren. So entstanden abgestimmte Bewegungen sowie penibel eingehaltene Abstände zwischen den Spielern, ähnlich den Reihen eines Tischfußballspiels.

Wie Pep Guardiola heute, verlangte schon Sacchi von seinen Spielern die schnelle Balleroberung, um selbst die Spielkontrolle übernehmen zu können. In Italien damals ein revolutionärer Ansatz. Im Interview mit dem Fußballmagazin 11 Freunde erklärte Sacchi 2013 seine Philosophie: »Wir trainierten, um die Bewegungen aller elf Spieler zu synchronisieren. Der Grundgedanke war, ein Bewusstsein für die Zusammenhänge dieses Spiels zu schaffen. Alle elf Spieler sollten immer in einer aktiven Position sein, mit oder ohne Ball. Dieser Gedanke hat den Fußball verändert.«

Sacchis Arbeit wirkte auch nach seinem Wechsel auf den Posten des italienischen Nationaltrainers 1991 nach. In der Folgesaison unter Fabio Capello gelang Milan der Gewinn der Meisterschaft ohne eine einzige Niederlage. Erst 1993, nach 58 ungeschlagenen Spielen, fand mit dem AC Parma ein Gegner wieder ein Mittel gegen die schier Übermächtigen. Der junge Thomas Tuchel, dessen Trainerstern viele Jahre später in Mainz aufging, war derart fasziniert von der Spielweise des AC Mailand und Innovator Sacchi, dass er sich stundenlang Videos anschaute und sich fragte, wie die Spieler es schafften, überall auf dem Feld immer wieder Überzahlsituationen herzustellen – als wären sie mit einem oder zwei Mann in der Überzahl.

Als Sacchis Landsmann Giovanni Trapattoni 1994 erstmals auf die Trainerbank von Bayern München wechselte, versuchte er Trockenübungen auch deutschen Spielern schmackhaft zu machen. Wie groß deren anfängliche Begeisterung ausfiel, hat Thomas Helmer den Autoren in einem späteren Kapitel dieses Buches verraten.

Trockenübungen sind nicht aus der Mode gekommen und werden zumindest in der Vorbereitungszeit vielfach noch praktiziert, wie Wormuth erzählt: »Bruno Labbadia hat sie bei seinen Klubs Bayer Leverkusen, Hamburger SV und VfB Stuttgart akribisch durchgeführt, bis zu zwei Stunden am Stück auf dem Platz. Das verlangt eine große Konzentrationsleistung. Das finde ich gut und das soll auch so sein. Sicher ist manch ein Spieler nicht begeistert von der Übungsform, weil der Ball fehlt. Aber die meisten sehen ein, dass ihnen die Trockenübungen weiterhelfen.« Gerade in der Nationalmannschaft, wenn die Akteure von verschiedenen Vereinen kommen und ihre Laufwege innerhalb kürzester Zeit aufeinander abgestimmt werden müssen, sind Trockenübungen eine gute Hilfestellung.

Sicher, mit der Akribie die sie verlangen, hätten Trockenübungen auch zum »kleinen Ganzen« gezählt werden können. Doch sie haben stets einen übergeordneten Zusammenhang im Blick: Die Harmonie der gesamten Mannschaft. Und damit Großes entstehen kann, muss zunächst immer am Kleinen gefeilt werden:

Das kleine Ganze
Leverkusen widerlegt die Lehre

Es gibt elementare Dinge im Fußball, die befolgt werden müssen, um den Gegner unter Druck zu setzen. Das richtige Anlaufverhalten oder eine konsequente Zweikampfführung gehören dazu. In der Hennes-Weisweiler-Akademie spricht die Lehre vom Akronym ASTLB, bestehend aus Anlaufen, Stellen, Tempo aufnehmen, Lenken und Balleroberung. Das sind die fünf Phasen, die sich herausarbeiten lassen, wenn ein Spieler verteidigt. Doch es gibt auch Teams, die von der reinen Lehre abweichen, wie Bayer Leverkusen in der Hinrunde der Saison 2014/15. Die Leverkusener scherten sich nicht um die fünf Phasen, stattdessen gingen sie bei Ballbesitz des Gegners gleich »voll drauf«. Das sorgt beim Gegner für ein Bewusstsein, »Oh, die riskieren heute alles«. Denn die Sicherheit ist für denjenigen, der derart offensiv attackiert, zunächst hinten angestellt. Es ist gut möglich, dass die Balleroberung scheitert und dem Gegner Räume geboten werden. Aber die Leverkusener hatten mit ihrer überfallartigen Methode meist Erfolg und eroberten den Ball, weil sie einen geschulten Blick für die Situation entwickelt hatten.

 

Doch Achtung, Wormuth fährt per Grätsche dazwischen: »Da sage ich als Ausbilder dann natürlich: ›Halt, stopp, Ball zurückgeben, das ist falsch! Das entspricht nicht der Lehre!‹« Pause. Der Satz wirkt nach. Dann ein schallendes Lachen. »Ach, Quatsch! Gelingt es damit, den Ball zu erobern, habe ich natürlich gar keine Einwände. Es gibt zwar Grundsätze im Fußball, aber die werden eben auch mal widerlegt.« Okay, reingefallen. Aber wann ist er, der richtige Zeitpunkt, um »voll drauf« zu gehen?

Richtiges Timing beim Zweikampf

»Ich gebe Ihnen ein typisches Beispiel: Wenn der Stürmer mit einem Tempodribbling auf Sie zuläuft, und Sie nehmen das Tempo auf und laufen mit, wann sollten Sie als Verteidiger zustechen, wie wir sagen, und wann besser nicht?« Gegenfrage: »Können wir nicht versuchen, den Stürmer abzudrängen, auf die Unterstützung durch einen Mitspieler warten und ihn dann doppeln?« »Falls Sie schnell genug sind und die Spielsituation es zulässt, schon möglich. Aber vielleicht sind Sie gezwungen zu handeln, weil sonst ein Gegentor droht und keine Zeit zum Doppeln bleibt. In diesem Fall ist der beste Moment für die Attacke dann, wenn der ballführende Spieler den Ball mit seinem Führbein antippt und es dann absetzt. Sticht man in dieser Zehntelsekunde zu, dann kann der Stürmer nicht mehr reagieren, weil sein Führbein auf dem Boden steht. Wenn man den Dreh raus hat, das zu erkennen, dazu den Rhythmus des Spielers, der auf einen zuläuft, lesen kann, und man nicht vorher schon den eigenen Schritt gemacht hat, dann besteht jetzt eine gute Chance, den Ball zu erobern.«

Es gibt allerdings Spieler, gegen die nutzt selbst dieses Wissen kaum. Barcelonas Lionel Messi ist so einer. Messi hat den Ball fast ständig am Fuß, mit einer ganz engen Ballführung. So findet sich kaum eine Zeitspanne, bei der sich ein geeigneter Moment zur Balleroberung identifizieren ließe. »Bei Messi dauern diese Phasen nur Millisekunden. Außerdem liegt sein Körperschwerpunkt ganz tief, das macht es zusätzlich schwierig. Ein großgewachsener Spieler wie Per Mertesacker mit seinen langen Schritten bekäme sicher seine Probleme, denn logischerweise fallen seine Übersetzung und die Bodenkontaktzeit länger aus. Wenn Messi erkennt, dass sein Gegner attackieren will, dann tritt er in diesem Moment selbst an. Das sind Kleinigkeiten, die zwar nicht immer über Sieg oder Niederlage entscheiden. Aber sie sind ein Mosaikstein dazu.«

Hat der Verteidiger seinen Gegenspieler mit dessen Rücken zu sich, so verlangt dies ein gänzlich anderes Abwehrverhalten, als wenn der Stürmer mit Tempo auf ihn zuläuft. Üblicherweise wird der aus dem Basketball bekannte Abstand von einer Armlänge eingehalten. Solange der Verteidiger verhindert, dass der Angreifer sich dreht, hält er ihn in Schach. Doch sobald er sich dank einer Körpertäuschung oder einer anderen Finte dreht, muss der Abwehrspieler mit Tempo aufnehmen und sich in die Defensive zurückfallen lassen – oder mit vollem Risiko »anstechen«. Die Gefahr: Schlägt der Angreifer dann einen Haken, ist er sofort durch. Die letzte Reihe darf also nicht derart riskant agieren, andernfalls läuft der Stürmer frei auf den Torwart zu. Es ist eine Frage der Abstimmung, die von den Spielern verlangt, dass sie die Situation in Sekundenbruchteilen richtig erkennen. Bei der Fußballlehrer-Ausbildung wird in solchen Fällen immer von »Mustern« und nicht von »Situationen« gesprochen. Wem an der Zustimmung des Chefausbilders gelegen ist, sollte diese Unterscheidung beherzigen.

Zuordnung bei Standards

Immer wieder taucht sie auf, die Frage nach Mann- oder Raumdeckung bei Standards. Ebenso wie diejenige, ob bei gegnerischen Ecken einer, beide oder keiner der Torpfosten mit Verteidigern besetzt werden sollte. Doch wie so oft gibt es im Fußball nicht die eine Wahrheit. Fangen wir bei der Pfostenbesetzung an. Manche Trainer stellen ihre kleinen Spieler an den Pfosten, die großgewachsenen sind ohnehin für die Kopfballduelle im Strafraum vorgesehen. Doch dann geht der Ball in den oberen Torwinkel und die Maßnahme verpufft. Was grundsätzlich dagegen spricht, Spieler bei Eckbällen an den Pfosten zu stellen? Dass dann ein Mann weniger zur Verfügung steht, der Mann oder Raum deckt. Auch die Meinung der Torhüter spielt eine entscheidende Rolle: Die einen wollen den langen Pfosten (den vom Ball weiter entfernten Pfosten) abgedeckt haben, während andere den kurzen Pfosten bevorzugen, weil sie sich selbst auf den langen konzentrieren.

»Oder was machen Sie, wenn Sie sechs kleine Spieler haben und der Gegner fünf große?«, fragt Wormuth und liefert gleich eine Option mit: »Dann stellen sie vielleicht vier kleine Spieler an die Mittellinie und schauen, ob einige große Spieler des Gegners mitgehen.« Die Entscheidung, ob und welche Pfosten besetzt werden, muss also zur Mannschaft passen, in Kombination mit den Vorlieben des Torhüters. »Mit dem tauschen Sie sich natürlich aus. Beim SSV Reutlingen hatte ich Goran Ćurko im Kasten, der war eine solche Granate, da habe ich die Pfosten frei gelassen, denn ich wusste, der geht da hin und holt die Bälle raus. Beim VfR Ahlen hatte ich zwar einen auf der Linie starken, aber sehr schmächtigen Torwart. Daher habe ich bei Ecken noch zwei Spieler hingestellt, weil ich wusste, dass er diesen oder jenen Ball nicht bekommen würde.«

Bei gegnerischen Standardsituationen auf Raumdeckung zu setzen, ist seit Jahren üblich, die ausschließliche und klassische Mann-zu-Mann-Zuordnung nach dem Motto, »unsere Nummer vier deckt deren Nummer neun«, ist überholt. Die Gefahr bei der Raumdeckung ist, dass die Spieler das »Stehen im Raum« zu wörtlich nehmen, also auf ihrer Position stehen bleiben und sich dann wundern, dass ein Gegentor fällt. So wie bei Spaniens 1:0-Sieg gegen Deutschland im Halbfinale der WM 2010, als Verteidiger Carles Puyol nach einer Ecke wuchtig dem Ball entgegenging und das entscheidende Tor köpfte. Nicht zuletzt deshalb, weil die deutschen Verteidiger es versäumten, mitzugehen. »Auch als Raumdecker müssen Sie aus der Bewegung heraus agieren, sonst ist der andere im Vorteil.« So entstehen Tore, wie auch bei der WM 2014 durch Mats Hummels bei seinem Kopfballtreffer gegen Portugal. Portugals Spieler standen im Raum, Hummels stieg hoch und traf. »Wenn Sie die Raumdeckung bei Standards richtig spielen, ist das interessant, aber wenn die Spieler dabei nur stehen, haben sie keine Abwehrchance.« Deswegen bevorzugt Wormuth bei Eckstößen eine Kombination aus Mannund Raumdeckung, in der einige Spieler im Raum und andere direkt gegen die stärksten Kopfballspieler des Gegners verteidigen.


Abb. 6: Blocken bei der Ecke: Vier Spieler laufen von hinten zum ersten Pfosten – der Fünfte lässt sich »fallen« und geht hinten herum zum freien Raum, wohin der Ball kommen soll. Sein Gegenspieler kann nicht folgen, wird von der Masse an Spielern blockiert. Die Folge: Tor durch Thomas Müller, das 1:0 für Deutschland gegen Brasilien im WM-Halbfinale 2014. Hinweis: Gegenspieler sind in der Abbildung aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht dargestellt.

Der frühere Nationalspieler Christian Ziege, einst U19- bzw. U18-Trainer beim DFB, vertrat anlässlich einer U-Trainer-Tagung eine ähnliche Meinung zum Thema: »Wenn ich überragende Kopfballspieler habe, lasse ich sie im Raum stehen. Falls nicht, sollen sie Mann gegen Mann spielen, damit wenigstens der gegnerische Anlauf behindert wird.« Das geeignete Mittel hängt immer auch von den Spielertypen ab, die zur Verfügung stehen.

In puncto Ausführung von Ecken bot die Weltmeisterschaft 2014 nicht allzu viele Variationen. Ein beliebtes Szenario: Kurz ausgeführt, ein Mitspieler lässt die Kugel zurückprallen, ehe sie aus dem Halbraum vor das Tor geflankt wird. Für Wormuth wird der effektivste Eckball immer noch direkt zum Tor getreten, scharf hereingebracht. »So fälscht der Gegner schnell mal den Ball ab, oder ein eigener Stürmer bekommt den Fuß dazwischengespitzt, und die Kugel landet im Netz. Wenn Sie merken, dass der Gegner im Raum deckt und der Rückraum frei ist, dann können Sie bei der Ecke auch mit dem anderen Fuß weiter zurück auf den Sechzehner spielen. Der Mitspieler nimmt die Kugel volley und schießt sie direkt aufs Tor. Das ist allerdings einer der schwierigsten Bälle überhaupt.« Bayern Münchens Flügelspieler Arjen Robben hat mit seinem Kunstschuss im Old Trafford von Manchester United im Frühjahr 2010 bereits bewiesen, dass dies möglich ist.

Wormuth ist überzeugt, dass Standardsituationen zukünftig einen noch größeren Wert im Fußball erfahren, die Trainer verstärkt ihre Kreativität spielen lassen werden. Schließlich lässt sich auch zu einer Standardsituation ein Plan erstellen. Der Ball liegt, der Gegner muss sich nach der ausführenden Mannschaft richten. So lassen sich Laufwege einstudieren, bei denen der Gegner mitgezogen wird, um eigene Räume zu schaffen – und genau dort muss der Ball dann reingespielt werden. »Bei der U20 trainieren wir das ganz konkret. Torsten Frings, Lehrgangsteilnehmer bei uns und später Co-Trainer bei Werder Bremen, war mal mit dabei. Genau diesen einen Trick, den er bei uns aufgeschnappt hatte, ließ er dann bei Werders U23 üben, und die haben dann im nächsten Spiel ein Tor daraus gemacht. Das war eine lustige Geschichte, weil wir in der U20 noch keinen Erfolg mit diesem Trick hatten.«

Vier-Felder-Spiel


Abb. 7: Vier-Felder-Spiel

Nicht nur Juristen, Wissenschaftler und Mediziner haben ihre eigene Sprache. Auch bei Fußballern stößt man immer wieder auf neue Begrifflichkeiten. So lernen wir, dass Bayer Leverkusen ein »Vier-Felder-Spiel« praktizierte (immer wieder Leverkusen: Die Jungs von Trainer Roger Schmidt hatten die Fachwelt im zweiten Halbjahr 2014 wirklich fasziniert). Was hat es mit den vier Feldern auf sich? »Das Prinzip ist recht simpel«, beginnt Wormuth. »Vier-Felder-Spiel ist ein Begriff, den wir zur Verdeutlichung eines extremen Pressings in der Ausbildung eingeführt haben. Er bedeutet, dass das Spielfeld in vier Felder aufgeteilt wird: defensiv rechts und links sowie offensiv rechts und links. Nun versuchen alle, in das Feld hineinzukommen, in dem sich gerade der Ball befindet.« Das Ziel dabei: Auf engem Raum Druck auf den Gegner auszuüben (zu »pressen«) und möglichst rasch den Ball zu erobern – das ist der Ansatz ohne Ballbesitz. Bei Ballbesitz entstehen in Ballnähe viele Anspielstationen, die Möglichkeiten zum Kombinieren bieten, auch in der gegnerischen Hälfte. Man kann sich den Gegner »zurechtlegen«, bis sich eine Lücke zum Tor findet.

Das Risiko beim Vier-Felder-Spiel: Spieler verlassen ihre Positionen und bieten dem Gegner bei Kontern Freiräume an, durch die er Torgefahr entwickeln kann. »Da kann ich Ihnen Beispiele zeigen, die ich rausgeschnitten habe, die das ganz deutlich veranschaulichen.« Wormuth erinnert sich an ein Bundesliga-Spiel, in dem sich Leverkusens Außenverteidiger Sebastian Boenisch nicht auf seiner linken, sondern auf der rechten Abwehrseite befindet und »sein« Gegenspieler, der völlig frei steht, das Tor erzielt. »Aber das ist das Risiko, das Roger Schmidt bewusst einging, und er hatte eine Zeit lang Erfolg damit. Das lässt sich nicht mit jeder Mannschaft umsetzen. Aber die Leverkusener verfügten über Spieler, die extrem spielstark waren. Manchmal benötigt man dann gar nicht allzu viele Taktikvorgaben, da sie so viele Fähigkeiten am Ball haben und so gut aufeinander abgestimmt sind. Aber auf hohem Niveau, mit einer Mannschaft, die diese Lücken erkennt, kann man gegen diese offensive Ausrichtung schon etwas machen.«

Eine Spielklasse tiefer betrachtet Wormuth das Vier-Felder-SpieI beinahe als Patentrezept: »In der zweiten Liga würde ich nur so spielen lassen, denn, das soll nicht despektierlich klingen, dort ist die Technik nicht immer auf allerhöchstem Niveau. Ein Kollege hat einmal gesagt: ›Zweite Liga? Ausschließlich mit Pressing spielen!‹ Die Wahrscheinlichkeit der Balleroberung ist dann recht hoch.« Fazit: Die taktische Ausrichtung richtet sich immer auch nach der technischen Klasse der Spieler.