Eine schwierige Familie

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„Schwer zu sagen. Mir klang das eher nach generellem Stänkern. Und vielleicht dem Wunsch, mehr zu wissen als die andere. Die mögen sich schließlich nicht. Und keine kann mal mit einer Mülltüte und einem feuchten Lappen durchs Haus ziehen. Aber die Brüder haben ja auch keinen Finger gerührt… Grausig. Hoffentlich muss ich da nie wieder hin…“

Katrin Kramer sah betont unschuldig von ihrem Tablet hoch. „Mir schien allerdings, dass Herrn von Raben sehr an Ihrer guten Meinung gelegen war.“

„Großer Gott, das glaube ich nicht. Dem waren seine Schwestern doch bloß peinlich! Schauen Sie, er hat sich vielleicht ein bisschen in Fritzis Verehrung gesonnt, sie findet ja sein Seminar so toll und hat schon mal gesagt, später möchte sie vielleicht bei ihm promovieren… Da will er ihr seltene Ausgaben aus dem 18. Jahrhundert zeigen und was kriegt sie stattdessen? Eine Leiche, jede Menge Siff und zwei grässliche zänkische Weiber.“

„Hat was für sich – seltene Ausgaben? Sie meinen, so wie Briefmarkensammlung?? Ist ja putzig… ist sowas nicht verboten?“

„Quatsch. Prof. und Studentin ist nicht verboten, man kann ja bei jemand anderem Examen machen. Es hat höchstens ein Gschmäckle – aber ich war schließlich auch dabei, und ich glaube gar nicht mal, dass Fritzis Heldenverehrung eine so – naja, sagen wir – irdische Komponente vertrüge. Nein, da läuft nichts, da bin ich mir ziemlich sicher.“

„Haben Sie, als Sie dort angekommen sind, jemanden gesehen? Außer Dr. von Raben, meine ich?“

„Nein. Wie ausgestorben, das Ganze. Da draußen ist ja auch nichts los. Paula kam dann dazu, und Conny – da waren Sie ja auch schon da. Sie kam vom Tierarzt, den müsste man notfalls befragen können, oder?“

Ironisches Lächeln. Ja, das wussten die bestimmt selbst.

„Diese Paula hat ja einen Job, oder? Bei irgendeiner Versicherung… aber wovon das Katzenweib lebt… Ich glaube, die nehmen diesen Bruder alle aus. Und er ist zu schwach, sie rauszuwerfen.“

Katrin sah wieder auf. „Vielleicht kann er nicht? Wahrscheinlich ist das so eine teuflische Erbengemeinschaft.“

„Möglich. Aber wenn er auf dem Verkauf beharren würde, könnten die anderen doch nichts machen – wenn einer auf Auszahlung beharrt? Man müsste da mal einen Anwalt fragen – soll ich?“

„Warten Sie damit ruhig noch. Theoretisch könnte Dr. von Raben ja auch an dem Haus hängen. Elternhaus und so?“

„Meinen Sie? Na gut, ich bin da vielleicht etwas kaltschnäuziger. Wenn ich eine solche Bude am Hals hätte… von außen ist sie ja ganz nett, aber total runtergekommen, da lohnt sich doch die Sanierung nicht mehr. Lieber einen pflegeleichten Neubau!“

Katrin Kramer grinste. „Also, wenn Raben diese Ansicht hört, dann wird sein Interesse bestimmt nachlassen. Vielleicht sollten Sie in dieser Richtung vorgehen, wenn Sie Ihre Ruhe haben wollen.“

„Gute Idee“, brummte Sophie. „Hoffentlich lehnt er dann nicht Fritzi als Doktorandin ab – aber ich kann den Typen deshalb doch nicht jahrelang bei Laune halten, Fritzi ist erst im sechsten Semester, sie macht ja erstmal den Bachelor.“ Sie überlegte. „Jetzt fällt mir wirklich gar nichts mehr ein, sorry.“

Katrin Kramer klappte ihr Tablet zu und erhob sich. „Dann erstmal vielen Dank. Könnten Sie morgen um elf Uhr mal bei uns vorbeischauen, um das Protokoll zu unterschreiben?“

Sophie sah nach. „Ja, das geht. Ich muss nur Herrn Restorff Bescheid sagen, aber der hat bestimmt nichts dagegen.“

„Es wird auch nicht lange dauern“, wurde ihr versprochen.

*

„Und, was haben wir jetzt?“, fragte Andi in die missgelaunte Runde.

Liz stand vor dem Whiteboard und heftete schauerliche Fotos aller Beteiligten an die magnetische Seitentafel.

„Paula Raben ist vor allem von Neid zerfressen“, verkündete Katrin.

„Sagt wer?“

„Sophie Rauch. Es kam ihr wenigstens so vor.“

„Stimmt. So ähnlich hat sie sich – wenn auch unabsichtlich – auch selbst geäußert“, bestätigte Andi unlustig.

„Die Katzenlady hat außer Katzen nicht viel im Kopf“, verkündete Liz.

„Und die Rauch fragt sich, wovon die Katzenlady eigentlich lebt. Die arbeitet doch nichts Gescheites?“

„Teilzeit im Kratzbaum“, wusste Liz. „Aber leben kann man davon bestimmt nicht. Wahrscheinlich muss der Bruder sie durchfüttern.“

„Die Rauch überlegt auch, warum der Bruder diese höllische Erbengemeinschaft nicht einfach auflöst“, fuhr Katrin fort. „Ich glaube, sie findet das Haus einfach scheußlich.“

„Wieso? Das kann ihr doch nun wirklich egal sein, oder?“, warf Patrick ein.

„Der Raben steht auf die Rauch“, behauptete Katrin prompt.

„Auf die alte oder die junge?“ Patrick war unverbesserlich.

„Was heißt hier alt?“, tadelte Andi ihn sofort. „Sophie Rauch ist bestimmt jünger als ich. Aber die Frage ist okay – welche Rauch, Sophie oder Friederike?“

„Sophie“, behauptete Katrin.

Liz gluckst. „Kann ich mir auch gut vorstellen. Die sieht nämlich aus, als könnte sie ihn auf Vordermann bringen – und alleine schafft er das ja wohl nicht.“

Patrick verdrehte die Augen zum Himmel. „Als ob Männer scharf darauf wären, dass eine Frau ihnen sagt, wo´s langgeht! Liz, also wirklich!“

„Wieso?“, warf Katrin ein. „Frauen denken ja immerhin mit dem Kopf – und das kann im täglichen Leben ganz nützlich sein.“

Patrick schnaubte, und Andi versuchte, den kindischen Streit wieder auf eine kriminalistische Ebene zu heben: „Mir kam es aber auch so vor, als sei Raben ungewöhnlich hilflos. Das vergammelte Haus, die unangenehmen Geschwister… eine Frau, die alles in Ordnung bringt, wäre ihm bestimmt recht.“

„Wollen Männer doch immer“, warf die unbezähmbare Liz ein. „Eine Frau, die ihnen das Leben auspolstert.“ Katrin applaudierte.

„Ihr seid jetzt mal ruhig“, ordnete Andi an. „Ich glaube nämlich andererseits nicht, dass Sophie Rauch Lust auf diese Kindermädchen-Aufgabe hat. Können wir aus der Hilflosigkeit von Benedikt Raben irgendetwas folgern, das uns weiterhilft? Wie spielen hier nicht den Krieg der Geschlechter nach, das führt ohnehin zu nichts, wir wollen herausbekommen, wer Ludwig Raben getötet hat. Ist der Obduktionsbericht denn mittlerweile da?“

„Klar“, antwortete Patrick, der sich mal wieder als Fels in der Brandung des Weibergetues profilieren wollte. „Hier!“

Andi warf ihm einen missmutigen Blick zu. „Und, was steht drin?“

„Strychnin im Koks. Ziemlich hohe Dosis, hat locker ausgereicht.“

„Danke. Sonst noch was?“

„Ja, der Mörder hätte sich die Mühe eigentlich auch sparen können. Raben hatte eine Hepatitis C, auch sonst eine kaputte Leber, ein Magengeschwür und eine Darmerkrankung. Und da er wahrscheinlich nie beim Arzt war – der hätte ihm auch was erzählt! – hätte er in absehbarer Zeit sowieso den Löffel abgegeben.“

„Vom beruflichen Stress kann er das Magengeschwür nicht gehabt haben“, warf Katrin ein, und Liz giggelte. Andi kam sich langsam vor wie der Lehrer einer Teenie-Klasse. Arme Katja… „Ja, das habe ich jetzt auch nicht vermutet. Liz, hast du was von der Spurensicherung?“

„J-ja. In seinem Zimmer gab es Koksreste, ebenfalls mit Strychnin versetzt, das haben die schon gecheckt, und auf diesem Tütchen waren keine Fingerabdrücke außer denen von Ludwig Raben selbst. Die herumliegenden Klamotten waren verdreckt und von Cannabisrauch durchdrungen, im Schrank gab es mehrere leere und zwei volle Wodkaflaschen. Anscheinend war er bei Drogen nicht allzu wählerisch.“

„Kunststück“, kommentierte Patrick, „wenn ich mein Leben so an die Wand gefahren hätte, würde ich es mir auch schönsaufen und schönkoksen. Mehr ist dem armen Hund wohl auch nicht geblieben. Was sagt denn der Bruder dazu, der ist doch sowas wie ein Vaterersatz?“

„Den fragen wir nachher nochmal. Aber wenn der sich als Vaterersatz sieht, muss er sich auch ganz schön als Versager sehen – die Geschwister haben doch alle einen an der Waffel!“

„Vielleicht ist diese weitere Schwester nicht so verdreht“, hoffte Katrin. „Diese Teresa, ihr wisst schon. Die, die verheiratet ist.“

„Gut“, legte Andi fest, „du und Patrick, ihr schaut euch mal diese Schwester an. Ich nehme mir mit Liz noch mal den Bruder vor. War sonst noch was im Zimmer unseres Junkies?“

Patrick blätterte. „Kein Handy. Ein windiger kleiner Kalender mit kryptischen Abkürzungen und keiner einzigen Telefonnummer. Ein paar zerfledderte Taschenbücher, sonst leere Regale.“

„Hat wahrscheinlich alles antiquarisch verscheuert, um dafür Koks zu kaufen“, vermutete Katrin.

„Glaub ich auch“, stimmte Patrick zu. „Sonst war nichts zu finden. Nur Siff.“

Katrin grinste kurz. Kroch Patrick also schon wieder zu Kreuze? Braver Bub…

*

„Flussauenweg sieben“, murmelte Katrin. „Da vorne muss es sein. Steht da Gersch?“

„Kann ich hellsehen? Erstmal parken.“

Nummer sieben war Gersch. Ein ziemlich kleines Reihenhaus, mäßig gut in Schuss. „Liegt wohl in der Familie“, fand Patrick.

„Was denn?“

„Sich nicht ums Haus zu kümmern. Haus muss sein, aber streichen tun sie´s nicht.“

„Vielleicht ist es bloß gemietet“, schlug Katrin vor und drückte auf die Klingel. „Halb elf… vielleicht ist die auch gar nicht da… die muss doch bestimmt arbeiten?“

Patrick sah auf die Uhr. „Aber es sind Schulferien, die Tochter müsste dann doch wohl da sein?“

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, von einem missgelaunten Teenager in Jogginghose und ausgeleiertem T-Shirt. Unter ihrer out-of-bed-Frisur blinzelte sie ärgerlich ins Tageslicht. „Ja?“

„Larissa Gersch?“

„Wer will das wissen?“

Katrin zückte ihren Ausweis. „Kripo Leisenberg. Mein Kollege Weber. Also?“

 

„Ja, zum Henker. Kommen Sie immer mitten in der Nacht? Ist ja wie bei der Gestapo…“

„Sie sind aber gut informiert“, lobte Patrick, was ihm einen befremdeten Blick von Katrin eintrug.

„Haben wir in der Schule gemacht“, murmelte Larissa Gersch. „Wollen Sie reinkommen oder was?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und schlurfte einen engen, vollgestellten Flur entlang ins Wohnzimmer. Katrin betrachtete sich gedankenverloren den eher breiten Hintern unter dem grauen Sweatstoff, dann zuckte sie die Achseln, zog den leicht verdutzten Patrick ins Haus und schloss die Haustür.

Larissa hatte sich wieder auf eins der Sofas geworfen und die Fernbedienung auf den gewaltigen Fernseher gerichtet.

„Können Sie das bitte mal ausmachen?“, bat Katrin und ignorierte den mürrischen Blick.

„Wo ist denn deine Mutter, Larissa?“, fragte Patrick und lächelte freundlich. Der Sack, dachte Katrin sofort, macht hier mal wieder auf guter Cop, und ich kann die Hexe geben.

„Na, arbeiten“, antwortete Larissa. Katrin lag schon auf der Zunge Pass mal auf deinen Ton auf, Fräuleinchen – wie ihre eigene Mutter früher! Sie schluckte das Elternsprech entschlossen herunter und lächelte so freundlich wie Patrick: „Und wo arbeitet deine Mutter?“

„Na, bei diesem Reisefuzzi am Markt. Paradies oder so. Kann ich mir nicht merken. War´s das jetzt?“

„Möchtest du gar nicht wissen, warum wir deine Mutter sprechen wollen?“

Larissa warf Patrick einen nachsichtigen Blick zu. „Na, wegen dem Ludwig, oder? Hat sich den Goldenen Schuss gesetzt. Armer Hund.“

„Goldener Schuss? Nicht ganz“, präzisierte Patrick. „Er ist ermordet worden.“

Larissa starrte ihn an. Dann sagte sie: „Ermordet? Echt? Krass.“

Das führte ja nun auch nirgendwo hin, fand Katrin. „Du hast eben Armer Hund gesagt, Larissa. Nur, weil er jetzt tot ist – oder hast du noch einen anderen Grund?“

Larissa starrte sie ebenfalls an, dann zuckte sie die Schultern. „So halt. Er war doch ein armer Hund, oder? In dieser Familie…“

Katrin fixierte sie aufmerksam, und es wirkte: Larissa seufzte. „Sie müssen die alle doch schon kennen gelernt haben! Die blöde Conny mit ihren Katzenviechern, Paula, die nur sich selber kennt, Benedikt, der denkt, er müsste sich um alle kümmern, dabei will das gar keiner – da kann man schon ans Kiffen kommen. Oder was anderes. Und dann dieses alte Haus, da stinkt´s doch total, wer will da schon leben!“

Katrin gluckste. „Hab ich mich ehrlich gesagt auch schon gefragt. Ich meine, putzen und lüften könnten die doch mal, oder?“

Larissa zuckte wieder die Achseln: Der Anfall von Mitteilsamkeit war offensichtlich vorbei. „War noch was?“

„Vielleicht später noch mal“, versprach Patrick und wechselte mit Katrin einen Blick. Sie nickte. „Tschüss, Larissa. Noch viel Spaß beim Fernsehen.“

„Kommt nur Scheiß“, murmelte Larissa, ohne den Blick von irgendeinem Boulevardmagazin zu wenden.

Draußen sahen sich Patrick und Katrin etwas konsterniert an, dann musste Katrin lachen: „Waren wir in dem Alter auch so?“

„Jedenfalls nicht so schwabbelig“, schauderte Patrick.

„Ach komm, das ist doch bloß Babyspeck! Nein, ich meine diese bemühte Muffigkeit. Da hat all unser Geschleime nichts geholfen… Wie alt ist sie wohl, dreizehn? Vierzehn?“

„Eher ein bisschen älter“, vermutete Patrick. „Fragen wir halt die Mutter. Paradies, am Markt… da bin ich ja mal gespannt, ob wir das finden.“

So schwer war es dann aber nicht; am Markt gab es zwar viele Geschäfte, aber nur eins, das irgendetwas mit „Paradies“ zu tun hatte – das Reisebüro „El Paradiso“, angeblich Spezialist für Kuba und Südamerika.

Viel Betrieb herrschte nicht, als sie eintraten, anscheinend buchten die Leute tatsächlich zunehmend nur noch im Internet. Patrick erkundigte sich bei der ersten Beraterin nach Frau Gersch und wurde nach hinten verwiesen. Katrin folgte ihm zwischen den Schreibtischen hindurch nach hinten und um die Ecke, wo eine Frau Mitte dreißig vor einem Rechner saß und konzentriert Daten in eine Exceltabelle eingab. Sie drehte sich um, als die beiden näher traten. „Hier ist eigentlich kein Publikumsverkehr. Wenn Sie bezüglich einer Reise Beratung wünschen, sind Ihnen meine Kolleginnen vorne im Kundenbereich sicher gerne behilflich.“

Sie wollte sich schon wieder ihrer Tabelle zuwenden, aber Patrick trat schnell einen Schritt vor. „Mein Name ist Weber, Kripo Leisenberg. Meine Kollegin, Frau Kramer. Ich denke, Sie wissen, warum wir hier sind.“

Teresa Gersch seufzte resigniert, nahm die Finger von der Tastatur und verschränkte die Hände im Schoß. „Wegen Ludwig“, antwortete sie dann ergeben.

„Ich denke, Sie möchten doch auch wissen, wer seinen Tod verschuldet hat?“ Katrin fand, dass sie sich ekelhaft säuselnd anhörte, aber wenn sie so zu dieser Frau durchdringen konnte?

Viel nützte es nicht: Sie erntete nur ein Schulterzucken. „Der Ludwig war doch selbst schuld. Wenn einer schon Drogen nimmt… er hat eben zu viel genommen oder etwas Schlechtes erwischt. Ich weiß gar nicht, warum Sie das großartig untersuchen.“

„Mochten Sie Ihren Bruder nicht?“, platzte Patrick heraus.

„Nicht besonders. Den hat doch keiner gemocht, der hat sich ja auch nur für sich selbst interessiert. Die Conny hat mir erzählt, der hat sogar seine Geschwister beklaut, bloß um seine Sucht zu finanzieren!“

Das Wort „Sucht“ hatte sie so erbittert hervorgestoßen, dass sich Patrick und Katrin kurz vielsagend anschauten.

„Das heißt, Ihre Schwester hat Sie bereits kontaktiert?“

„Ja, natürlich. Um sich auszuheulen, wie immer.“

„Ach ja?“, machte Katrin. „Ich hatte gar nicht den Eindruck, dass Ihre Schwester so arg an Ihrem Bruder hing?“

„Hat sie auch nicht, wie denn! Nee, die Conny hat sich über das Übliche ausgeschleimt, dass der Tierarzt so teuer ist, dass es im Rabenhaus so furchtbar ausschaut, dass Paula eine eiskalte Kuh ist… sowas halt. Als ob ich für immer den gleichen Quatsch so viel überflüssige Zeit hätte… den Ludwig hat sie nur so nebenbei erwähnt, ich glaube, eigentlich ist ihr das wurscht. Die Conny spinnt doch sowieso, mit all diesen blöden Katzenviechern. Die reinste Sucht ist das!“

Schon wieder dieses Wort…

„Kennen Sie vielleicht jemanden, der Ludwig besonders gehasst hat?“

Teresa Gersch grinste unfroh. „Außer seinen Geschwistern, meinen Sie? Ich wüsste nicht. Vielleicht hat er seinen Dealer betrogen oder sowas… ich meine, er muss doch in seltsamen Kreisen verkehrt haben?“

Dagegen ließ sich zunächst nicht viel sagen; Patrick und Katrin verabschiedeten sich artig und verließen den Laden, nur um draußen vor einem Eiswagen zu landen.

„Hm“, machte Patrick mit nahezu erotischem Timbre in der Stimme, „der hat Pistazie… sorry, aber das brauche ich jetzt.“

Katrin stellte sich sofort neben ihm an. „Ich vielleicht nicht? Bei dieser kranken Familie kann man ja fresssüchtig werden! Ich mag Schokolade und Haselnuss, in so einer Knusperwaffel.“

Sobald der Eisverkäufer – mit einem Schiffchen auf dem Kopf wie in den 50er Jahren – ihnen die beiden Waffeln überreicht und das Geld kassiert hatte, schlenderten sie zu den Bänken mitten auf dem Platz und setzten sich. „Mit Sucht hat sie´s ja, die Gute“, sagte Patrick dann, sorgfältig um seine schmelzende Eiskugel herumleckend.

„Co-Abhängige“, vermutete Katrin, den Mund voller Schokoladeneis. „Schau, in dieser Familie haben sie doch alle irgendeine Sucht. Ludwig Drogen, Conny Katzen, Paula den eigenen Vorteil…“

„Und der Prof?“

„Harmonie. Der kleistert doch alle Konflikte einfach zu. Gescheiter wäre es, er würde alle seine Geschwister rauswerfen, damit sie mal selbstständig werden.“

„Jetzt hat er ja nur noch zwei an der Backe… und wenn er doch dahinter steckt? Wenn ich solche Geschwister hätte, würde ich bestimmt zum Mörder werden.“

„Hast du welche?“ Katrin biss von der Haselnusskugel ab, Patrick schaute geschmerzt zu.

„Was guckst du so?“

„Männer sehen nicht gerne, wenn Frauen so brutal zubeißen.“

„Ach…?“ Katrin grinste schmutzig. „Was können wir dafür, wenn ihr nie an etwas anderes denken könnt?“

„Wieso, woran denke ich denn?“

„Wie alle Männer, wenn eine Frau eine Eiswaffel lutscht: an einen Blowjob.“

Patrick sah sie wie vom Donner gerührt an. „W-was?“

„Musst du nicht leugnen. Und keine Sorge, ich fühle mich von deinen Gedanken nicht belästigt und renne nicht zur Gleichstellungsbeauftragten.“

„Ach nein – nicht belästigt?“ Patrick grinste halb erleichtert, halb interessiert.

„Nö. Das nehme ich alles gar nicht ernst. Und, hast du welche?“

„Welche was?“

„Kurze Aufmerksamkeitsspanne? Geschwister! Ob nervig oder nett.“

„Einen Bruder. Der ist harmlos. Geht noch in die Schule.“

„Was? Der ist ja dann ganz schön viel jünger… ein Nachkömmling, sozusagen?“

„Stimmt. Mein Vater hat nochmal geheiratet, und aus der Ehe ist der Moritz, der ist jetzt fünfzehn. Ein ganz netter Kerl.“

„Und seine Mutter?“ Katrin klang richtig mitfühlend.

„Wieso?“ Patrick verspeiste knurpsend die Waffelreste und stand auf. „Die ist okay. Warum willst du das wissen? Denkst du an böse Stiefmutter oder so? Sorry, alles ganz harmlos.“

Auch Katrin erhob sich. „Na gut. Präsidium und auswerten?“

„Was sonst?“

„Bist du sauer, weil ich so neugierig war?“

„Quatsch. Ich hab ja nichts zu verbergen. Übrigens hast du Recht, denke ich – diese Teresa ist auf Suchtverhalten fixiert. Aber die Tochter tickt ja auch nicht ganz sauber, oder?“

„Meinst du? Mir kam das wirklich nur wie die ganz normale Muffigkeit vor. Und zufrieden ist die bestimmt auch nicht mit sich, bei dem Babyspeck.“

„Du hörst dich an, als hättest zu zuviel Germany´s Next Top Model geguckt“, spottete Patrick, als sie zum Wagen zurückgingen.

„Ich bestimmt nicht, aber Larissa, wetten? In dem Alter ist niemand mit seinem Aussehen zufrieden, vor allem, wenn solche bescheuerten Sendungen dann noch unerreichbare Maßstäbe aufstellen.“

„Meinst du echt?“

„Klar. Patrick, das Mädel ist in der Pubertät!“

„Moritz auch, aber der ist nicht so albern.“

„Der ist ja auch ein Bub. Aber die werden zunehmend auch mehr aufs Äußere fixiert. Strebt er nicht nach einem Sixpack? Hat er sich noch kein Abo für eine Muckibude gewünscht? Keine morgendlichen Gel-Experimente für kühne Frisuren?“

Patrick lachte. „Fitness-Abo passt. Den Rest kriege ich nicht so hautnah mit.“

Sie schwiegen einige Momente, aber als Katrin die Fahrertür öffnete, sagte Patrick über das Wagendach hinweg: „Den Gersch würde ich gerne mal sehen. Vielleicht wird dann klar, warum die Frau so allergisch auf Suchtverhalten reagiert und die Tochter so muffig ist.“

„Wissen wir, wo der arbeitet?“ Katrin glitt hinters Steuer.

Patrick stieg ein, schlug die Tür zu und angelte nach seinen Notizen, bevor er den Gurt schloss. „Ja… Torsten Gersch. Der ist Mathematiker. Komisch, genau wie die Schwägerin, Paula.“

„Und, wo arbeitet er? Auch bei dieser Versicherung?“

„Nein… verflixt, was heißt das, UL-M? Was hab ich mir dabei bloß gedacht?“

Katrin kicherte. „Passiert mir auch immer. Die ersten Anzeichen von Alzheimer, vielleicht. Kann M für Mathematik stehen? Ulm wird ja wohl nicht gemeint sein.“

„Du bist vielleicht ein Herzchen. Mathematik, ja – Mensch! Uni Leisenberg, natürlich. Der arbeitet da irgendwo. Okay, erst kurz ins Präsidium und dann zur Uni.“

„Wahrscheinlich ist der auch wieder so eine unangenehme Type. Bloß wieder anders. Vorschläge?“ Sie bog auf den Parkplatz des Präsidiums ein.

„Ich sage, er säuft“, ging Patrick auf die Wette ein.

„Okay, dann sage ich, er… er ist sexsüchtig. Wie in diesem Film.“ Sie hielt ihm die Handfläche hin. „Fünf Euro?“

Patrick schlug ein und löste seinen Gurt. „Welcher Film?“

Shame. Nie gesehen? Echt gut gemacht, über einen, der überhaupt nur noch an Sex denkt und dabei total vereinsamt.“

Oben war niemand. Sie tippten schnell eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse und ließen sie auf dem Whiteboard auftauchen, dann machten sie sich wieder auf den Weg.

*

„Frau Rauch? Ein Herr für Sie.“ Pamela hielt die Tür einladend auf und lächelte freundlich.

Sophie sah auf - noch mal die Polizei? Nein, Raben persönlich.

 

„Guten Tag“, sagte sie artig, obwohl sie nicht wusste, was er noch von ihr wollen konnte: War der gestrige Abend nicht schon schlimm genug gewesen?

„Wie kann ich Ihnen denn helfen – aber bitte, setzen Sie sich doch!“ Sie wies auf den Besucherstuhl.

Pamela schloss leise die Tür von außen.

„Ich brauche Ihren Rat“, kam Raben sofort zur Sache.

„Gerne – aber ganz ehrlich: Das ist hier eine Unternehmensberatung. Wenn Sie Ihren Betrieb optimieren, Ihr Onlinegeschäft ankurbeln, ihre Personalstruktur analysieren oder sonst etwas von uns erledigen lassen wollen, dann sind Sie hier richtig. Aber Sie haben doch gar keinen Betrieb – oder doch? Neben Ihrer Universitätslaufbahn?“

Raben lächelte leicht, was ihn jünger und attraktiver wirken ließ. „Nein, damit kann ich nicht dienen. Ich hatte an so etwas wie ein Privatcoaching gedacht, das gibt es doch?“

„Hm…“ Sophie lehnte sich zurück und betrachtete ihren Gast, der gespannt auf ihre Antwort wartete. Er sah nicht gut aus. Nun, das war vielleicht kein Wunder, nachdem gestern sein Bruder ermordet worden war. Und wenn man an die krätzigen Schwestern dachte… Aber auch sonst: Raben war groß und hatte eigentlich ein gut geschnittenes Gesicht, aber er war ein bisschen zu dick und wirkte etwas blass und teigig. Zu viel Junk Food? Oder nur die deprimierenden Umstände seines Lebens in diesem entsetzlichen Haus?

„Ganz ehrlich“, sagte sie schließlich, „mir scheint, brauchen könnten Sie´s – aber ich habe das noch nie gemacht. Schauen Sie, ich bin Betriebswirtin und ich verstehe was von Medientechnik, aber Psychologin bin ich keine. Im Gegenteil.“

„Wie, im Gegenteil?“

Sie grinste kurz. „Naja, einfühlsam bin ich jetzt eher nicht. Eher für brutale Ansagen berüchtigt.“

„Umso besser. Eine schonungslose Analyse meines Lebens ist wohl das, was ich brauche. So kann es einfach nicht weitergehen.“

„Gut“, stimmte Sophie zu, „aber ganz ehrlich: Wissen Sie, was Sie das kosten würde?“

„N-nein?“

Sie nannte ihren Stundensatz und Raben wurde blass.

„Eben. Wir machen das anders. Nicht hier und nicht im Rahmen von RC. Und natürlich in diesem Fall gratis.“

Himmel, was tat sie da? Sie konnte kaum glauben, was sie sich da sagen hörte! Er protestierte auch sofort, aber sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Entweder – in Absprache mit meinem Chef, natürlich – als Freundschaftsdienst oder gar nicht. Privatcoaching gehört nicht zu meinen Kompetenzen, also kann ich auch keine Garantie dafür übernehmen, dass es Ihnen etwas nützt. Damit will ich Restorff Consulting nicht belasten. Und Geld nehmen kann ich nicht, sonst fühlt Restorff sich zu Recht betrogen. Sind Sie einverstanden?“

Raben lächelte nachdenklich. „Freundschaftsdienst? Das klingt eigentlich sehr nett…“

Innerlich verdrehte Sophie die Augen: Was für ein Seelchen! Kein Wunder, dass er diese Bagage nicht im Griff hatte… Sie zog energisch ihren Terminplaner näher. „Wann wäre es Ihnen denn recht? Außerhalb der Arbeitszeit, natürlich.“

„Natürlich“, echote Raben gehorsam, was Sophie schon wieder verzweifeln ließ. In einem dieser albernen SM-Romane, die gerade den Markt überschwemmten, wäre er wohl auf eine Domina aus.

„Warum lächeln Sie?“

Mist. „Nichts, Entschuldigung. Gleich heute Abend, sagen wir um sieben?“

„Ausgezeichnet. Und wo?“

Sophie überlegte. Keinesfalls im Rabenhaus, die blöde Conny brauchte sie dabei ganz bestimmt nicht. Jedenfalls nicht jetzt schon. Und Paula, die nur Angst hatte, irgendwie zu kurz zu kommen, auch nicht.

Bei ihr zu Hause? Besser auch nicht.

„An einem neutralen Ort“, sagte sie also vorsichtig.

Raben überlegte, dann hellte sich sein Gesicht auf. „Kennen Sie die Sonderbar in Zolling?“

„Nein. Meinen Sie, dort ist es ruhig genug?“

„Auf jeden Fall. Es ist eine Art Bistro, mit leckeren kleinen Speisen, und abends zwar ganz gut besucht, aber durchaus gedämpft in der Atmosphäre. Ich war selbst erst zweimal dort, aber es hat mir sehr gefallen. Wenn Ihnen das recht ist?“

„Gut…“ Sophie notierte sich das. „In Zolling selbst oder in der MiniCity?“

„MiniCity. Ich freue mich schon!“

Sophie lächelte nur verbindlich, und Raben erhob sich. „Tja… ich muss dann mal wieder… in einer Stunde habe ich ein Seminar, da bleibt gerade noch Zeit für eine schnelle Pizza…“

„Darf ich Ihnen gleich etwas vorschlagen?“

„Natürlich!“ Er sah geradezu begierig drein.

„Lassen Sie die Pizza bleiben. Besorgen Sie sich eine Tüte Obst – an der Uni ist doch dieser Obstwagen? Und verbringen Sie die Mittagspause draußen. Auf einer Parkbank. Sie werden sich gleich besser fühlen.“

„Meinen Sie?“

„Probieren Sie´s“, beharrte Sophie auf ihrem Vorschlag, der wenigstens leichte Rosen auf Rabens bleiche Wangen zaubern sollte.

„Nun, wenn Sie meinen… vielen Dank schon mal. Dann sehen wir uns um sieben in der Sonderbar?“

„Genau. Der Termin ist gebucht.“

Sein Blick verdunkelte sich kurz, dann verabschiedete er sich förmlich und verließ ihr Büro.

Komischer Mann, sinnierte Sophie. Er hatte sie um ein Coaching gebeten, und wenn sie das geschäftsmäßig handhabte, passte es ihm nicht? Aber damit, das Ganze gratis und privat laufen zu lassen, war er doch einverstanden gewesen?

Sie ging nach draußen und fragte Pamela, ob der Chef gerade frei war.

War er.

Und er hatte nichts dagegen, wenn Sophie den hilflosen Dr. von Raben privat etwas beriet. „Das hat schließlich mit unserem Kerngeschäft nichts zu tun, und so lange du es ohne Honorar machst, sehe ich da kein Problem. Glaubst du, du kannst ihm helfen?“

Sophie zuckte die Achseln. „Ich kann´s versuchen, aber ich fürchte, um ihm zu helfen, müsste man seine restlichen Geschwister auf eine verlassene Insel schaffen und dann dieses versiffte Haus sprengen. Ob man ihn anders befreien kann, wage ich zu bezweifeln.“

Restorff grinste. „Das sind nicht die Methoden, die wir sonst empfehlen. Wo steht denn dieses versiffte Haus?“

„Auf der anderen Leißseite, Richtung Birkenried. Ein paar hundert Meter von der Leiß selbst entfernt.“

Restorff runzelte die Stirn unter seinem wirren schwarzen Haarschopf. „Da oben? Aber – da wohnt doch niemand? Da ist doch nur Pampa, bis zum Gut Birkenried?“

„Ex-Gut. Das wurde nach dem Brand der Stallungen doch aufgegeben, erinnerst du dich? Jedenfalls, da wohnt auch keiner – außer den Rabens eben. Völlige Pampa.“

Restorff runzelte immer noch die Stirn. „Hab ich darüber nicht irgendwas gehört? Nein, ich komme jetzt nicht drauf, aber irgendwas war mit der Gegend da oben.“

*

Das mathematische Institut der Universität Leisenberg führte ein etwas klägliches Dasein in einem Gebäude, das man in den späten Sechzigern nachträglich in einen trüben Hinterhof in der Carolinenstraße gesetzt hatte.

Patrick sah sich in der Straße um. „Die Carolinenstraße sieht immer noch aus wie kurz nach dem Krieg.“

„Hier könnte man auch prima DDR-Filme drehen“, stimmte Katrin zu. „Nicht mal die Autos müsste man wegfahren.“ Sie trat einem schätzungsweise dreißig Jahre alten violetten Japaner ohne TÜV-Plakette gegen die Reifen.

„Lass lieber – nicht, dass der sich in einer Staubwolke auflöst!“, mahnte Patrick im Spaß.

„Macht doch nichts, der müsste sowieso entsorgt werden. Muss man nur noch den Staub aufkehren. Und hier ist jetzt die Uni? Ist ja deprimierend!“

„Passt doch zu Mathematik“, fand Patrick und spähte in den Hofdurchgang. „Da hinten, glaube ich.“

„Du warst wohl früher ein Mathe-Loser?“, neckte Katrin.

„Du nicht?“

„Nö. Vierzehn Punkte im Abitur.“

„Olle Streberin. Hier sind wir richtig – Gott, wie hässlich!“

Die blassgraue Fassade war durch Regenspuren und Graffiti geschmückt, die Eingangstür mit ihrem martialischen bronzenen Griff im Stil der mittleren Siebziger hatte einen Sprung in der Glasscheibe. Katrin drückte die Tür vorsichtig auf, nicht dass die womöglich auch zu Staub zerfiel!

An der Wand hing immerhin eine dieser grauen Filztafeln, auf denen in umsteckbaren weißen Plastikbuchstaben vermerkt stand, wer wo residierte.

„Gersch, Dr. – im Keller, das auch noch!“

„Rechenzentrum. Vielleicht ist es im Keller ja kühler?“, mutmaßte Patrick und wandte sich dem Treppenhaus zu.