Rogue

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From the series: Helldogs MC #1
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Rogue
Helldogs MC 1
Elena MacKenzie

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

Gefallen?

Über den Autor

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um ein fiktionales Werk. Das heißt, weder die Figuren, noch die Handlung haben einen realen Hintergrund. Ich habe mir mit der Recherche für die Helldogs sehr viel Mühe gegeben, aber trotzdem habe ich mir gewisse Freiheiten für das Clubleben herausgenommen.

Ich habe mir außerdem erlaubt, beim Sex zwischen den Figuren, die Kondome wegzulassen, weil ich finde, dass die »Kondomsuche«, den Leser aus der Erotik reißt. Damit möchte ich nicht die Verantwortung, die ich als Autorin trage, von mir weisen, deswegen kommt hier jetzt für alle der Hinweis: Kondome schützen vor ungewollter Schwangerschaft, Aids, Pilzen, Hepatitis u.s.w. ;)

Da es sich in meinen Büchern aber um fiktionale Figuren handelt, bekommen sie oben genannte Krankheiten, oder aber auch Nachwuchs aller Art, nur dann, wenn ich als Autorin der Meinung bin, dass es für die Handlung erforderlich ist.

Und für die Leser, die sich an fehlenden Kondomen stören, auch noch ein Hinweis: wenn ihr über fehlende Kondome nicht hinwegsehen könnt, dann lest dieses Buch bitte nicht.

Im Buch benutze ich für vieles die englischen Begriffe, weil diese auch in deutschen und den meisten MCs anderer Länder benutzt werden. Wenn im Buch also z.B. Pres steht, ist das die Abkürzung für das englische President. Worte wie Club, Clubhouse oder Prospect sind also nicht falschgeschrieben, sondern wurden aus der in den meisten MCs benutzten Umgangssprache übernommen.

Allen anderen wünsche ich viel Spaß!

Und: HDFFHD (Helldogs forever, forever Helldogs)

Kapitel Eins

In Spanien starben im Jahr 2015 56 Frauen an den Folgen häuslicher Gewalt.

Daria wischte sich das Blut von den Wangen, das sich mit ihren Tränen vermischt hatte, und leckte sich über die Lippen. Sie schmeckte Salz und Kupfer, ein Geschmack, der ihr in den Jahren ihrer Ehe vertraut geworden war. Vorsichtig hob sie den Blick, versuchte die Kontrolle über ihr Gleichgewicht zurückzuerhalten und warf ihrem Ehemann einen entschuldigenden Blick zu. Sie wusste nicht einmal, wofür sie sich entschuldigen sollte, was sie überhaupt falsch gemacht hatte. Sie wusste nur, dass Manuel so wütend auf sie war, dass er wie so oft seine Gefühle nicht im Zaum halten konnte und sie anbrüllte.

Der nächste Fausthieb traf sie in der Magengrube, sie beugte sich vornüber, presste die Lippen fest zusammen und wagte nicht, das kleinste Wimmern über ihre Lippen dringen zu lassen, weil ihn das nur noch mehr aufregen würde. Er konnte ihre »fipsige« Stimme nicht leiden, wenn sie heulte. Das hatte er ihr immer und immer wieder gesagt. Also hatte sie sich angewöhnt, stumm zu weinen. Das einzige, was sie nicht zurückhalten konnte, waren die Tränen, die der Schmerz seiner brutalen Schläge hervorrief.

Sie ging auf die Knie und drückte die Arme schützend vor ihren krampfenden Magen. Übelkeit stieg in ihr auf, vor ihren Augen flimmerte es. Vor dem Ohnmächtigwerden hatte sie noch mehr Angst als davor, einen Laut von sich zu geben. Sie war nur ein einziges Mal ohnmächtig geworden, danach hatte sie sich mit Schmerzen und blauen Flecken am ganzen Körper an das gemeinsame Bett gefesselt wiedergefunden. Er hatte während ihrer Bewusstlosigkeit einfach immer weiter auf sie eingetreten. Seitdem kämpfte sie immer dagegen an, das Bewusstsein zu verlieren, damit sie nicht die Kontrolle über das verlor, was mit ihrem Körper passierte. Die Vorstellung, nicht zu wissen, was er ihr antat, war so beängstigend, dass sie glaubte, daran ersticken zu müssen.

Manuel griff nach der weißen Porzellanvase, in der die dunkelroten Rosen steckten, die er ihr gestern erst als Entschuldigung für seinen Ausbruch von vor zwei Tagen mitgebracht hatte.

Er entschuldigte sich immer. Es tat ihm leid, wenn er ihr wehtat. Sobald er sich beruhigt hatte, erwachten seine Schuldgefühle. Aber Daria konnte nicht mehr. So gern sie ihm geglaubt hätte – und in den letzten zwei Jahren hatte sie ihm unzählige Male geglaubt – jetzt konnte sie es nicht mehr. Daria war müde geworden, aber was sollte sie tun? Sie konnte nirgends hin. Sie hatte kein Geld. Keine Kontrolle über ihr eigenes Leben. Ohne Manuel hatte sie nichts, außer diesem Haus.

Manuel warf die Vase mit Schwung gegen die Wand über dem Sofa, mit einem lauten Krachen verteilten sich Scherben und Wasser auf dem braunen Wildleder des Sitzmöbels. Dann schob er seine Hand in ihre schwarzen Haare und zerrte grob daran. Ein Fuß traf sie in den Unterleib. Daria schnappte heftig nach Luft, ohne wirklich welche in ihre Lungen zu bekommen. Der Schmerz breitete sich bis in den letzten Winkel ihres Körpers aus. Blut tropfte von ihrem Kinn auf den weißen Fliesenboden. Das Blut stammte aus der Wunde über ihrer Schläfe. Manuel hatte sie gegen den Türrahmen gestoßen, gleich nachdem er von der Arbeit nach Hause gekommen war. Seitdem schrie er sie ununterbrochen an und warf Gegenstände durch die Wohnung. Er beschimpfte sie als Schlampe, hinterhältige Fotze und Abschaum. Aber das tat er immer. In ein paar Minuten würde er sich irgendwo hinsetzen, durchatmen und dann würde er sie wieder Schatz nennen. Aber bis dahin würden seine Tritte noch ein paar Mal ihren Körper treffen, ihre Rippen, ihr Gesicht und ihre Glieder.

Es klingelte an der Tür, als Manuels Fuß ein weiteres Mal ihren Magen traf und Daria keuchend die Atemluft ausstieß. Manuel sah über die Schulter zurück, dann wieder nach unten, wo Daria ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah, als jemand ungeduldig gegen die Wohnungstür hämmerte.

»Polizei, machen Sie sofort die Tür auf«, brüllte ein Mann, noch einmal klopfte es ungeduldig gegen die Tür.

Manuel sah fluchend in Richtung Flur, dann wieder zu Daria, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Magen hielt und heftig nach Luft schnappte. Der Schmerz in ihrem Oberkörper war so überwältigend groß, dass er ihr Tränen in die Augen drückte und ihr den Atem raubte. Sie hatte das Gefühl zu ersticken, gegen eine unsichtbare Barriere anzuatmen. Sie rang verzweifelt nach Luft und brach fast erleichtert zusammen, als sie endlich einen tiefen Atemzug fertigbrachte.

»Das ist deine Schuld«, zischte er. »Auf die Beine mit dir«, befahl er und zerrte sie ungeduldig am Oberarm auf die Füße. Daria schwankte, gehorchte aber, obwohl die Schmerzen, die ihren Körper in Griff hatten, so stark waren, dass sie sich kaum dazu in der Lage fühlte, irgendetwas zu tun, außer sich wimmernd auf dem Boden zu krümmen. »Wehe, du vergeigst das hier«, flüsterte er drohend und starrte sie mit wütendem Blick nieder.

Daria nickte vorsichtig, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und folgte Manuel in den Flur, wo wieder jemand energisch forderte, die Tür zu öffnen. Daria holte tief Luft, straffte die Schultern und atmete zischend ein, als Schmerz sich durch ihren gesamten Körper katapultierte. Manuel legte die Hand auf den Türgriff und sah sie fragend an. Sie nickte und lehnte sich mit der Schulter gegen eine Wand, um möglichst entspannt zu wirken. Aber was sollte das bringen? Bestimmt sah ihr Gesicht aus, als wäre sie gegen Rocky angetreten: rot und blutig und geschwollen. Trotzdem, sie musste das hier gut machen, damit Manuel zufrieden mit ihr war. Warum also nicht behaupten, sie wäre Boxerin? Oder hätte einen Autounfall gehabt? Welche Ausreden hatte sie die letzten Male benutzt?

 

Manuel öffnete die Tür, ein männlicher Polizist füllte sie mit seiner hochgewachsenen Statur und den breiten Schultern fast komplett aus. Sein Blick blieb sofort auf ihrem Gesicht haften. Obwohl sie in seinen verärgerten Augen sehen konnte, dass er die Situation sofort erfasst hatte, setzte sie ein Lächeln auf, in der Hoffnung, ihm zu signalisieren, dass alles in Ordnung wäre. Er schob sich in die Wohnung, packte blitzschnell Manuels Arm und Handgelenk und drängte ihn mit der Brust gegen die Wand. Seinen Arm verdrehte er ihm auf den Rücken und fixierte ihn so. Hinter ihm kam eine brünette Polizistin in die Wohnung. Sie war so klein, dass Daria sie erst jetzt entdeckte, wo ihr Kollege die Sicht auf sie freigegeben hatte. Sie lächelte Daria freundlich an und blieb vor ihr stehen.

»Ich habe nichts getan«, wimmerte Manuel. Das schien den Polizisten nur noch wütender zu machen, er zog Darias Ehemann ein Stück von der Wand weg und stieß ihn grob wieder dagegen. Der Polizist legte ihm Handschellen an und zerrte Manuel nun an Daria vorbei in das Wohnzimmer zurück, wo Scherben auf dem Boden verteilt lagen, der Tisch verschoben war und auch sonst alles ziemlich deutlich auf das hindeutete, was hier passiert war. Selbst wenn die Unordnung noch auf eine schlechte Haushaltsführung zu schieben wäre, das Blut auf dem Boden war es nicht.

Die Polizistin hielt Darias Oberarm und zwang sie, sich auf das Sofa zu setzen. Manuel wurde von ihrem Kollegen unsanft in den Sessel gestoßen.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte die Polizistin, die schwanger zu sein schien. Unter ihrer Uniform wölbte sich mindestens ein Sechsmonatsbauch. Daria wunderte es, dass man sie trotzdem auf solche Einsätze schickte. Was, wenn Manuel nicht ruhig sitzen blieb, sondern sich auf sie stürzte? Bei dem Gedanken krampfte sich ihr Magen panisch zusammen. Sie hatte auch immer ein Kind gewollt, aber diesen Wunsch hatte sie ganz schnell tief in sich vergraben, als Manuel fast sofort nach der Hochzeit gezeigt hatte, was für ein Mann er wirklich war.

»Mir geht es gut«, murmelte sie mit tonloser Stimme. Sie musste sich mehr anstrengen, damit die Polizisten sobald wie möglich wieder gingen und Manuel zufrieden mit ihr war. Nur dann konnte sie sichergehen, dass sie nicht die Konsequenzen für das Auftauchen der Polizei tragen musste.

Daria wusste doch mittlerweile, wie das Spiel lief. Die Polizei war nicht zum ersten Mal hier. Sogar diese beiden waren schon hier gewesen. Sie würde ihnen wie immer eine Lüge erzählen und sie wären gezwungen, es wie immer zu glauben. Sie konnten nur handeln, wenn sie etwas zugab. Wenn sie das nicht tat, mussten sie unverrichteter Dinge wieder gehen.

»Sie sind wieder die Treppe runtergefallen?«, fragte die Polizistin mit Vorwurf in der Stimme. Daria warf dem männlichen Polizisten einen nervösen Blick zu. Er musterte sie unter seinen kohlrabenschwarzen Ponysträhnen hervor aufmerksam. Seine Stirn runzelte sich, als Daria Luft holte, um ihre Lüge aufzutischen. Er hatte Daria durchschaut, noch bevor sie etwas gesagt hatte. Wie oft er wohl schon von Frauen in ähnlichen Situationen belogen worden war?

Er schien etwa Mitte Dreißig zu sein. Jung genug, um noch nicht allzu abgestumpft gegen das zu sein, was er in seinem Berufsalltag zu sehen bekam. Alt genug, um schon zu viel gesehen zu haben in seiner Laufbahn als Polizist. Sein Gesichtsausdruck schwankte irgendwo zwischen Bitte und Gleichgültigkeit. Aber da lag noch etwas anderes in diesem Blick aus den dunklen, fast schwarzen Augen. Daria konnte es nicht deuten, aber es machte ihr Angst. Angst davor, ihn zu enttäuschen. Nur: was würde ihn enttäuschen, die schmerzhafte Wahrheit oder die Lüge? Der Blick, mit dem er sie bedachte, fühlte sich an, als würde er nach ihr greifen und sie bedrohen, wenn sie nicht die Wahrheit sagte. Er hatte eine deutliche Warnung in sich. Daria rieb sich mit ihren schwitzenden Händen über die Oberschenkel.

Der Mann hatte attraktive Gesichtszüge. Daria wusste nicht, ob sie das noch mehr verunsicherte oder ob es sie sogar ein wenig entspannte. Sie versuchte sich daran zu erinnern, was sie das letzte Mal, als er hier war, gesagt hatte. Aber es fiel ihr nicht mehr ein.

Als seine Kollegin hier war, war es also der Treppensturz. Einmal hatte sie auch behauptet, sie wäre gegen eine offen stehende Tür gerannt. Ein anderes Mal war sie gestolpert und auf dem Tisch aufgeschlagen. Damals, als ihre Nase gebrochen war, weswegen sie jetzt leicht schief stand. Daria sah zu Manuel, der sie unter zusammengekniffenen Augen drohend anstarrte. Sie wollte so gern die Wahrheit sagen, aber was dann? Wohin sollte sie gehen? Manuel würde sie wahrscheinlich umbringen, wenn er sie jemals noch einmal sehen würde. Und sie hatte nichts außer dem hier. Aber sie hatte das hier so satt. Und so wie der Polizist sie ansah, hatte er es auch satt. Er wollte mit Sicherheit kein weiteres Mal herkommen müssen.

»Ich hatte einen Unfall mit dem Fahrrad. Bin eine Böschung runtergestürzt.« Ein weiterer Unfall für die Akten der Polizei. Und sogar die Wahrheit. Sie könnte es beweisen, die Polizisten würden gehen und es wäre vorbei. Alles ginge wieder seinen normalen Gang. Bis zum nächsten Mal. Was würde Manuels Wut dann auslösen? Wie lange noch, bis sie nie wieder aufstehen würde? Seine Angriffe wurden immer brutaler. »Das Fahrrad ist hinüber, deswegen war er wütend und hat ein bisschen getobt. Aber er hat mir nichts getan.« Daria atmete aus. Wie konnte sich dieses Geständnis beklemmend und befreiend zugleich anfühlen? Ängstlich warf sie Manuel einen kurzen Blick zu, dessen Gesicht vor Wut zu brennen schien. Sie sah schnell zur Seite. Ja, er würde sie umbringen. Dieses Mal würde er es tun.

Die Polizistin zog eine Augenbraue hoch und legte entmutigt den Kopf schief. »Sie wissen, dass es Möglichkeiten gibt, Sie zu beschützen? Wir könnten ihn mitnehmen.«

Daria schüttelte verzweifelt den Kopf, in ein paar Tagen wäre er mit noch mehr Wut im Bauch wieder hier, außerdem müsste sie ihn anzeigen, was ihn noch wütender machen würde. Und wovon sollte sie dann leben? Sie besaß nichts. Daria besaß kein Konto, keine Kreditkarte, nichts Erspartes - einfach nichts, nur das Haus. Den Rest ihres Erbes hatte Manuel verwettet oder versoffen. Sie hatte nicht einmal einen Job. All das hatte er ihr immer verboten. Er hatte dafür gesorgt, dass sie für immer abhängig von ihm war.

»Wie wäre es mit dem Frauenhaus?«, schlug die Polizistin jetzt vor. Daria schüttelte wieder den Kopf. Die Polizistin legte eine Hand auf Darias Schulter. »Dort sind Sie sicher und man würde Ihnen alles stellen, was Sie brauchen, bis Sie dazu in der Lage sind, allein klarzukommen. Geld, Kleidung, ein Dach über dem Kopf.«

»Abhängigkeit«, sagte Daria leise und warf Manuel einen flüchtigen Blick zu. Er wand sich im Sessel, aber der Polizist hatte beide Hände auf seinen Schultern und verhinderte, dass er sich befreien konnte. Seine Augen sprühten vor Hass. Zumindest war er schlau genug, sich sonst ruhig zu verhalten und nicht zu schreien und zu fluchen. Aber sein Blick reichte, um Daria zu sagen, dass er sie umbringen würde, sobald sie wieder allein waren. Er war sehr, sehr wütend auf sie. Jetzt hieß es: er oder Daria. Wenn ihre Angst nur nicht so groß wäre, dass alles noch viel schlimmer werden würde, wenn sie ihn jetzt verließ.

»Keine Abhängigkeit, sie werden Ihnen eine Wohnung und einen Job besorgen. Dann wird es nur noch Sie geben. Was glauben Sie, wie lange es dauert, bis Sie nicht mehr lebend aus dieser Sache rauskommen?«, drängelte die Frau weiter.

Sie ahnte es genauso wie Daria. Aber Daria hatte panische Angst. Sie hatte solche Angst vor diesem Schritt, dass ihr Körper vor Nervosität kribbelte, als hätte sie ihre Finger in eine Steckdose gesteckt. Ihre Oberschenkel vibrierten vor Anspannung. Sie holte Luft, wappnete sich, etwas zu antworten, aber ihr blieben die Worte im Hals stecken. Es brauchte nur etwas mehr Mut. Nur ein bisschen Entschlossenheit, bevor sie gehen und Daria allein zurücklassen würden. Unabhängigkeit. Nach zwei Jahren könnte sie endlich wieder frei sein. Wenn er sie nie wieder fand. Sie musste einfach dafür sorgen, dass er sie nie wieder in seine Finger bekommen würde.

Sie würde nur endlich anfangen müssen. Jetzt. Also nickte sie, weil ihr die Worte nicht über die Lippen kommen wollten. Und dieses Nicken zwang sie fast in die Knie vor Panik. Aber tief in sich wusste sie, das hier war ihre letzte Chance. Ein weiteres Mal gäbe es nicht.

»Okay«, sagte sie heiser und brach vor Erleichterung in Tränen aus. Sie hatte es wirklich getan, den ersten Schritt aus diesem Albtraum herausgenommen.

Die Polizistin lächelte zufrieden. Ihr Kollege musterte Daria neugierig, presste die Lippen aufeinander und nickte dann. Offensichtlich war auch er zufrieden mit Darias Entscheidung.

»Dann ordern wir jetzt einen Krankenwagen. Ihren Mann nehmen wir mit und sperren ihn erstmal ein. Keine Sorge, sobald Sie untersucht wurden und Ihre Aussage gemacht haben, bringt man Sie in das Frauenhaus. Die Adresse ist geheim, niemand kennt sie. Dort werden Sie sicher sein. Und später bekommt Ihr Mann sowieso eine Haftstrafe.«

Daria nickte zögernd und sah Manuel unsicher an, der vor Wut jetzt am ganzen Körper zitterte. Sie straffte die Schultern und versuchte, Selbstsicherheit auszustrahlen. Er sollte ihr nicht ansehen können, dass diese Entscheidung ihr Kraft raubte, sie fast schon lähmte. Er sollte glauben, dass sie sich sicher war, genau das Richtige getan zu haben.

»Das wirst du bereuen«, drohte er Daria. Der Polizist lachte dunkel, zerrte ihn vom Sessel und brachte ihn weg.

»Er wird ihn in den Einsatzwagen bringen. Sie sind jetzt sicher«, sagte die Frau. Daria stöhnte schmerzhaft auf, als ihr Körper vor Erleichterung zusammensackte.

Danach ging alles ganz schnell. Sie wurde im Krankenhaus untersucht, machte eine Aussage und der männliche Polizist blieb die ganze Zeit über bei ihr. In seiner Nähe fühlte sie sich sicher, obwohl da etwas in der Art lag, mit der er sie immer wieder neugierig musterte. Als Daria mit allem fertig war, wollte sie nicht im Krankenhaus bleiben. Ihre Angst, dass Manuel aus der Haft entlassen wurde und sie hier suchen würde, war zu groß. Sollte er freikommen, wollte sie nicht an einem Ort sein, an dem er sie finden konnte. Sondern weit weg. In Freiheit! Also sagte sie dankbar zu, als der Polizist ihr anbot, sie in das Frauenhaus zu fahren. Das einzige, was ihr die Tränen in die Augen trieb und sie Zweifeln ließ, war der Verlust ihres Hauses und ihres geliebten Gartens.

Kapitel Zwei

Rogue stieß langsam den Atem aus, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen vor der brennenden Sonne. Er nahm den Helm vom Kopf und schaltete den Motor der Harley aus. Er hatte einen schmalen, unbefestigten Wanderweg in den Aiako Harria Nationalpark genommen, der nur eine knappe Stunde nördlich von Tolosa lag. Weit genug, um ein ruhiges Wochenende ganz allein zu verbringen und nah genug, um im Notfall erreichbar zu sein. Auch wenn erreichbar bedeutete, dass jemand vom Club hier rauskommen und ihn im siebzig Quadratkilometer großen Naturpark zu Füßen des 821 Meter hohen Txurrumurru Gipfels suchen musste, was ziemlich unwahrscheinlich war.

Genau deswegen vertraute Rogue jetzt schon seit vier Jahren darauf, dass er hier draußen einfach nur für sich sein durfte. Rage, sein leiblicher Bruder und Vize, er wurde als Darran geboren, würde den Club schon nicht in einen Krieg mit den beschissenen Spanish Horses reiten während seiner Abwesenheit. Diese zwei Tage Wildnis um sich herum brauchte Rogue einfach, damit er seinen Gedanken nachhängen konnte und um ein paar Skizzen für neue Bikes anzufertigen.

Rogue stieg von der Harley, sah sich um, lauschte dem warnenden Zwitschern der Vögel, die irgendwo in der Nähe in einem der Baumwipfel saßen und ihn genau beobachteten. Aber auch sie würden ihn nicht davon abhalten, ein paar Tage Einsamkeit zu genießen. Nur er, sein Rucksack, eine Angel und die wilde, ungezähmte Natur. Fast wie in alten Zeiten. Nur flogen ihm jetzt keine Granaten und Kugeln um die Ohren. Und er musste auch nicht versuchen, seinen schwer verletzten Kameraden aus Terroristengebiet zu schaffen. Bewaffnet nur mit einem Jagdmesser.

Rogue schob die Harley ein Stück in den Wald, gerade so weit, dass sie niemand sehen konnte, der vielleicht zufällig hier vorbeikam. Er schnappte sich seine beiden Satteltaschen und die zusammengerollte Decke und stapfte dann zufrieden los. In der Hand nur seinen Kompass und eine Karte. Er hatte etwa sieben Kilometer Richtung Süden vor sich, dort - an einem kleinen See - würde er sein Lager für die nächsten Nächte aufschlagen. Diesen See hatte er letztes Jahr entdeckt, als er seinen Ausflug in den Naturpark gemacht hatte.

 

Er wanderte einen kleinen Pfad entlang, dann verließ er ihn und kämpfte sich nach etwa einer halben Stunde durch unwegsames Gelände, kletterte über umgestürzte Bäume, fast komplett vom Waldboden verschluckte Felsen und Gestrüpp. Für ihn ein befriedigendes Gefühl, er liebte es, seine Muskeln arbeiten zu lassen, gleichzeitig die Natur um sich zu haben und zu wissen, dass weit und breit kein Mensch in der Nähe war.

Zum See musste er einen kleinen Abhang runterklettern. Am Ufer ließ er seine Taschen und die Decke fallen und streckte genüsslich seinen Körper. Über dem See kreiste ein Gänsegeier und das Wasser glitzerte in der untergehenden Abendsonne. Der See lag zur Hälfte in einem Kessel aus Bergen. Letzte Ausläufer der Pyrenäen. Rogue breitete seine Decke auf dem sandigen Boden am Ufer aus, legte den Schlafsack darauf, dann nahm er ein Seil aus seiner Tasche mit den Lebensmitteln und band die Tasche an einen Ast eines Baumes in der Nähe. Er stellte seine Feuerschale neben sein Lager. Danach machte er sich auf die Suche nach trockenem Holz für ein kleines Feuer, bevor es zu dunkel werden würde, um noch etwas zu sehen.

Er ging am Ufer des Sees entlang und nahm sich vor, ihn einmal zu umrunden. Eigentlich weniger wegen des Feuers. Vielmehr, um die Natur, die ihn umgab, noch ein wenig auf sich wirken zu lassen. Es war sehr still geworden, die Vögel betrachteten ihn wohl nicht mehr als Bedrohung. Rogue beobachtete einige Sekunden lang das Glitzern der langsam untergehenden Sonne auf der Wasseroberfläche und dachte an seinen Freund Andrew, der seit einem Jahr zum Club gehörte. Er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als er durchschaut hatte, was da lief. Warum Andrew im Knast immer und immer wieder die Wange hinhalten musste. Dass sie beide McCraw zum Feind hatten, hatte sie zusammengeschweißt. Er war froh, ihn jetzt hier zu haben. Nicht nur, weil ihm das die Chance eingeräumt hatte, den Mörder seiner Frau zur Strecke zu bringen. Sondern auch, weil er in Andrew mehr als seinen Clubbruder sah. Er war für ihn wie ein leiblicher Bruder. Sie hatten beide eine Menge durchmachen müssen. Dass der Junge seine Old Lady an der Seite hatte, tat ihm gut. Phoebe war eine tolle Frau. Rogue würde alles dafür tun, dass die beiden noch lange so glücklich sein durften.

Rogue verscheuchte die Gedanken, die versuchten, sich nach oben zu drängen. Jetzt wollte er nicht an seine Frau denken. Eigentlich wollte er das nie. Die Erinnerungen an ihren Tod, die Art, wie sie sterben musste, waren zu schmerzhaft. Und er konnte mit der Schuld bis heute nicht leben. Er sammelte kleinere getrocknete Zweige und Stöcke auf. Die Feuerschale aus Alu, die er zum Campen immer mitnahm, um nicht ungewollt einen Waldbrand auszulösen, war nur etwa so groß wie ein mittelgroßer Kochtopf, weswegen größere Holzstücke darin keinen Platz hatten. Aber was war ein Campingausflug ohne ein Steak vom Rost?

Rogue hatte den See zur Hälfte umrundet, eigentlich hatte er reichlich Holz auf seinen Armen gesammelt, er hätte also umdrehen können, aber er lief trotzdem weiter. Der Gänsegeier zog noch immer seine Kreise über dem See, fast als würde er Rogue keine Minute aus den Augen lassen wollen. Rogue verfrachtete sein Feuerholz in seinen Rucksack, um die Hände freizuhaben. Vor ihm versperrte ein Baum, dessen Wurzeln halb im Boden im Abhang steckten und aus der Erde ragten, ihm den Weg.

Die Wurzeln mussten irgendwann die Kraft nicht mehr gehabt haben, den Baum noch länger in seiner schrägen Position am Abhang halten zu können und hatten unter der Last der Baumkrone nachgegeben. Rogue kletterte über den Stamm auf die andere Seite, klopfte sich seine Hände ab und wischte dann über seine schwarzen Jeans. Als er aufsah, entdeckte er ein Stück weiter etwas leuchtend Rotes, das das Licht der untergehenden Sonne reflektierte. Er kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht erkennen, was da am Ufer lag. Vielleicht hatte noch jemand sein Lager am See aufgeschlagen oder jemand hatte seinen Müll hier zurückgelassen. Der Gedanke verärgerte Rogue. Neugierig und mit Magengrummeln lief er weiter und je näher er kam, desto deutlicher wurde, dass da jemand am Ufer lag. Also doch ein Camper. Noch ein paar Schritte weiter erkannte Rogue nachtschwarzes langes Haar, das um den Körper herum ausgebreitet war, der zusammengerollt seitlich mit dem Rücken zu ihm lag. Rogue beschleunigte seine Schritte. Jetzt hatte er kein Magengrummeln mehr, jetzt packte ihn Panik. Da lag eine Frau. Rogue fluchte leise.

Er ging neben dem Körper auf die Knie und hoffte inständig, dass diese Frau einfach nur betrunken war, oder schlief, sich verlaufen hatte … Alles, nur nicht tot war. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht, ihre Kleidung war klamm, weil sie so nah am Ufer des Sees lag, dass das Wasser sie berührte. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund leicht geöffnet und sie stöhnte, als Rogue sie vorsichtig auf den Rücken drehte. Sie hatte mehrere Blessuren im Gesicht. Ihr Puls schlug kräftig und ruhig, die rote Bluse klebte feucht an ihrer Haut und die oberen Knöpfe waren offen. Sie schlug die Augen auf, als Rogue sie auf weitere Verletzungen untersuchte, stieß einen erschrockenen Schrei aus und versuchte, von ihm wegzukommen. Keuchte aber laut auf, als sie beim Versuch, ihren Fuß in den Untergrund zu stemmen, um sich von ihm wegzuschieben, wohl feststellen musste, dass der verletzt war.

»Alles okay«, sagte Rogue ruhig. »Ich will Ihnen nichts tun.« Dann schüttelte er frustriert den Kopf und wiederholte sich noch einmal mit seinen eher holprigen Spanischkenntnissen. Wenn er wie der Rest des Clubs regelmäßig den Intensivkurs der vom Club dafür angeheuerten Lehrerin besuchen würde, müsste er jetzt nicht wie ein Irrer rumstammeln. Er tastete den Knöchel der Frau ab, die erschrocken zurückzuckte, als er die Schwellung über ihrem Knöchel berührte.

»Sieht nicht gut aus«, sagte er und überlegte, wie wohl das spanische Wort für Flüssigkeitseinlagerung war. Er legte seinen Daumen auf das Sprungbein und testete, ob das Sprungbein sich nach vorne gegen das Schienbein schieben ließ.

Die Frau zischte und versuchte, ihm den Fuß zu entreißen. »Ich spreche englisch«, sagte sie dann mit gerunzelter Stirn und entzog ihm ihren Fuß.

»Gut«, warf Rogue erleichtert ein. »Das ist ein Bänderriss.« Er sah sich nach den Schuhen der Frau um.

»Haben Sie Ihre Schuhe beim Sturz verloren?«

»Ich …« Sie zögerte, dann wich sie seinem Blick aus. »Ich weiß es nicht.«

»Die werden wir jetzt nicht finden, es ist schon zu dunkel.« Die Sonne verschwand gerade hinter den Berggipfeln.

»Ich werde Sie tragen müssen, laufen können Sie damit nicht. Mein Lager ist nicht weit weg.«

»Ich muss nach Hause«, keuchte sie auf und sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an.

»Wohnen Sie in der Nähe?«

Sie schüttelte den Kopf. In ihrem Gesicht klebten kleine Steine. Rogue hob die Hand, um sie wegzuwischen, aber sie zuckte zurück, also ließ er es. »Nein, in Tolosa. Ich war … ich war wandern und hab mich verlaufen und bin dann den Abhang runtergestürzt«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Rogue runzelte die Stirn. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass mehr hinter dieser Sache steckte, als die Frau ihm sagen wollte. »Heute gehen Sie nirgends mehr hin. Ich kann Sie nicht im Dunkeln durch den Wald tragen. Ich werde Sie jetzt hochheben«, setzte er sie in Kenntnis, damit sie nicht wieder vor ihm zurückzuckte.

Sie warf ihm einen erschreckten Blick zu. Durch das Licht seiner Taschenlampe wirkte dieser noch viel verschreckter, denn sie wehrte sich nicht, als er ihr näher kam. »Aber ich kann nicht hierbleiben.«

»Heute Nacht schon, morgen sehen wir weiter.« Rogue wäre es auch lieber, nicht mit ihr im Wald bleiben zu müssen. Viel lieber wäre er allein hier, um wie geplant seine Auszeit genießen zu können. Außerdem rief die Situation unangenehme Erinnerungen in ihm wach. Erinnerungen an die Nacht, in der er und sein Kamerad und Freund Will Harris die einzigen Überlebenden eines Angriffs durch Terroristen waren.

Sie waren damals zu Fuß unterwegs gewesen. Hinter ihnen fuhr ein Laster mit Ausrüstung für das Lager ihrer Truppe nahe des Shatt al-Arab, etwa 120 Kilometer von Basra entfernt. Ein Raketenwerfer jagte den LKW in die Luft. Will und Rogue überlebten nur, weil sie vor dem LKW liefen, um die Umgebung besser beobachten zu können.

Will wurde von einem herumfliegenden Splitter getroffen, der zwischen seinen Rippen steckenblieb. Rogue war unverletzt geblieben. Er hatte sich Will geschnappt und ihn sofort eine Böschung runtergezogen und war dann mit ihm im Wald in Deckung gegangen. Was man so in Deckung gehen nennen konnte, denn Will schrie vor Schmerzen. Rogue war nichts anderes geblieben, als seinen Freund bewusstlos zu schlagen, damit sie sich vor den Angreifern verstecken konnten. Er hatte Will auf seine Arme geladen und war mit ihm durch den Wald gelaufen. Immer in Richtung Norden, wo ihr Lager war. Fast die halbe Nacht war er mit Will gelaufen, gestolpert, hatte ihn mehrmals erschöpft ablegen müssen, ihn notdürftig versorgt und war weitergelaufen. Irgendwann nur noch mit einer Leiche auf seinen Armen. Aber das hatte ihn nicht aufgehalten. Genau wie Rogue hatte auch Will eine Frau zu Hause in Schottland, die auf ihn wartete. Auch wenn er nicht lebend zurückkommen würde, sie sollte wenigstens etwas begraben dürfen. Also war er weiter und weiter gelaufen, bis er in der Nähe des Lagers auf einen Jeep mit ihren Leuten gestoßen war. Erst da hatte er es sich erlaubt, unter der Anstrengung zusammenzubrechen.