Beziehungsweisen

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Friedemann Spicker

Beziehungsweisen

Elazar Benyoetz: Ein Porträt aus Briefen

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen


© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-7720-8699-1 (Print)

ISBN 978-3-7720-0109-3 (ePub)

Inhalt

  Zur Einführung

  I „Unleugbar spielten die Briefe in meinem Leben und Werk eine entscheidende Rolle.“ – Der Brief als „gerichtetes Wort”

  A Das Netz der Beziehungen

  II „Lebten wir in Zeit und Geist genössisch?“ – Zeitgenossen

  III „Ich lebte ja mehr in der Literatur als in meiner Zeit.“ – Deutsche Traditionen

  IV „Dein Gesicht ist mein Gesicht, / der Erde ist niemand fremd / und auch den Sternen nicht.“ – Judentum, Israel, Christentum

  V „Kohelet, der Prediger; mein Großvater.” – Bibel

  B Das Werk

  VI „Wenn der Text nur stünde!“ – Zur Arbeit mit der Sprache

  VII „Ich wollte ja nie Aphorismen geschrieben haben.“ – Zum Aphorismus

 VIII „Ich habe nicht mehr Leben als in meinem Werk.“ – Zu einzelnen Publikationen„Sahadutha“. 1969„Einsprüche“. 1973„Treffpunkt Scheideweg“. 1990„Paradiesseits“. 1993„Wirklich ist, was sich träumen lässt“. 1994„Hörsicht“. 1994„Brüderlichkeit“. 1994„Querschluss“. 1995„Variationen über ein verlorenes Thema“. 1997„Die Zukunft sitzt uns im Nacken.“ 2000„Allerwegsdahin“. 2001„Der Mensch besteht von Fall zu Fall“. 2002„Finden macht das Suchen leichter“. 2004„Die Eselin Bileams und Kohelets Hund“. 2007„Die Rede geht im Schweigen vor Anker.“ 2007„Scheinhellig“. 2009„Fraglicht“. 2010„Olivenbäume, die Eier legen“. 2012„Sandkronen“. 2012„Am Anfang steht das Ziel und legt die Wege frei.“ 2015„Was nicht zündet, leuchtet nicht ein“. 2016„Beteuert und gebilligt.“ 2016Unselbstständige PublikationenBriefeditionen„Vielzeitig“. 2009

  IX „Die Lesungen sind mein wichtigstes Werk.“ – Zu Lesungen

 X „Unsere Herzen pochen nicht weit auseinander.“ – Zuwendung im BriefAn Ludwig Brinckmann, 1. Dezember 1993 Nr. 392

  „Der ich so gern ein Briefling bleibe.“ – Elazar Benyoëtz als Briefschreiber

 AnhangZur EditionChronologisches Verzeichnis der BriefeVerzeichnis der Briefpartner(innen)Die Werke Elazar Benyoëtz’ (selbstständige Publikationen in Auswahl)Briefeditionen (kleinere Einzelsammlungen in Auswahl)Sekundärliteratur (in Auswahl und mit Annotationen der jüngeren Literatur)Literatur des Herausgebers zu Elazar Benyoëtz (chronologisch)

  Register

Zur Einführung

Briefe müssen nicht im Zusammenhang stehen, aber eine Beziehung glaubwürdig widerspiegeln und für den Schreibenden sprechen.

EB an Monika Fey, MonikaFey, 24. Januar 2006

Der Aphorismus ist das Stiefkind der Literaturwissenschaft und der Literaturgeschichte, ungeachtet seiner großen Autoren von Karl Kraus, KarlKraus bis Elias Canetti, EliasCanetti, um nur vom letzten Jahrhundert zu sprechen. Wer allein die neueren Bände des „de Boor/Newald“, der repräsentativen, in zehn Bänden vorliegenden deutschen Literaturgeschichte, den von Wilfried Barner, WilfriedBarner herausgegebenen Band für die Zeit von 1945 bis zur Gegenwart (1994) und den von Helmuth Kiesel, HelmuthKiesel verfassten zur deutschsprachigen Literatur 1918–1933 (2017), daraufhin durchsieht, wird dieser Aussage unmittelbar zustimmen müssen. Der Aphorismus kommt dort (so gut wie) nicht vor.

Stiefkind: Das gilt umso mehr für die mystisch-religiöse Aphoristik, für die im 20. Jahrhundert (in einer breit gefächerten Palette von Möglichkeiten) immerhin Autoren wie Peter Hille, PeterHille, Christian Morgenstern, ChristianMorgenstern, Franz Kafka, FranzKafka, Ferdinand Ebner, FerdinandEbner, Rudolf Schröder, Rudolf AlexanderAlexander Schröder, Theodor Haecker, TheodorHaecker, Franz Werfel, FranzWerfel, Ernst Meister, ErnstMeister, Franz BaermannSteiner, Franz Baermann Steiner und Ludwig Strauß, LudwigStrauß stehen. Gleichzeitig, und das mag ein Grund für die Skepsis der Literaturwissenschaft sein, ist der Aphorismus auf der Ebene der Gebrauchsliteratur, in Lebenshilfe und Kalenderweisheit, bis auf den heutigen Tag von ungebrochener Attraktivität.

Da nimmt es nicht wunder, dass man den Briefband eines Autors wie Elazar Benyoëtz, der sich sein ganzes Leben lang ausschließlich dem Aphorismus und seinen lyrisch-meditativen Nachbarformen gewidmet hat, nicht ohne eine kurze Einführung zu Leben und Werk lassen kann. Dabei ist der Autor mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden; bedeutende Literaturwissenschaftler von Harald Weinrich, HaraldWeinrich bis HaraldFricke, Harald Fricke, die sich ihm zuwandten, haben ihn unisono in einer Reihe mit Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg, Kraus, KarlKraus und Canetti, EliasCanetti gesehen. Das hat an seiner Randstellung, nicht nur in geographischer Hinsicht, bisher wenig bis nichts geändert, wenn er auch in jüngster Zeit vermehrt zum Gegenstand literarisch-theologischer Erörterungen geworden ist.

Elazar Benyoëtz, 1937 in Wiener Neustadt geboren und bald darauf mit den Eltern nach Israel emigriert, war schon in jungen Jahren ein erfolgreicher israelischer Lyriker, ehe er 1963 für einige Jahre nach Deutschland ging, um dort vorwiegend wissenschaftlich-bibliographisch zu arbeiten und die „Bibliographia Judaica“ aufzubauen. In Israel wurde er dafür stark angefeindet. Zu den Fragen seiner literarischen Sozialisation hat er sich selbst häufig geäußert; auch die Briefexzerpte dieses Bandes sprechen vielfach davon. Seit 1969 lebt er in Tel Aviv und Jerusalem. Die Entfernung vom Sprachraum seiner Literatur ist konstitutiv, auch wenn die Kontakte nach Deutschland, in Briefen oder auf (Lese-)Reisen, vielfältig und eng blieben. Er veröffentlichte in regelmäßiger Folge deutschsprachige Aphorismenbände, zunächst in dem kleinen VerlagMüller, Gotthold Müller, dann bei Hanser, dem Verlag, zu dessen Autoren auch Stanislaw Jerzy Lec, Stanislaw JerzyLec und Elias Canetti, EliasCanetti zählen, und in jüngerer Zeit bei Braumüller (Wien) und Königshausen und Neumann (Würzburg) sowie in zahlreichen kleinen Privatdrucken, die zum großen Teil aus Lesungen entwickelt wurden. Ab 1990 erschienen neuartig strukturierte Bände, in denen neben Aphorismen tagebuchähnliche Kurzberichte, Lektürekommentare und literarhistorische Exkurse, Lyrik und Briefauszüge, Zitate und Selbstzitate zusammengestellt sind, nach 2010 auch vermehrt seine Lesungen in Buchform. Allesamt sind sie der verloren gegangenen deutsch-jüdischen Symbiose gewidmet. Das Jüdische ist bei allen Fäden in die Gattungsgeschichte hinein schon allein deshalb als das Neue zu verstehen, weil hier kein deutscher Jude mehr schreibt wie noch Ludwig Strauß, LudwigStrauß oder Werner Kraft, WernerKraft, sondern ein Israeli sich an deutsche Leser wendet.

 

Benyoëtz entwickelt sein (deutsch-)jüdisches Thema – Assimilation erscheint ihm als „Identitäuschung“ – von den Geschichten des Alten Testaments mit den Zentralgestalten KainKain, HiobHiob, AbrahamAbraham her. Er verfolgt damit das Konzept der Verbindung hebräischer Weisheitslehre und deutscher Aphoristik. Den Spruch bringt er mit Glauben, aber auch mit Widerspruch in Verbindung, mit beidem knüpft er an älteste Traditionen an. Das Buch KoheletKohelet, der Prediger Salomo, ist ihm Vorbild, das einzige, das er so unumschränkt gelten lässt. An diese hebräische Spruchdichtung sucht er mit seinen „Sprüchen“ und ihrer Autorität anzuschließen. Für sein Gesamtwerk ist es charakteristisch, dass er es in Teilen oft aufnimmt, variiert und neu komponiert; es ist von der Suche nach einer aphoristisch-lyrischen Mischgattung gekennzeichnet. Der Ausgangspunkt seiner Poetologie ist eine höchst komplexe Kürze, durch Mehrsinnigkeit mit Spannung aufgeladen, die etwa dem Wortspiel in aller Regel eine neue Kraft verleiht. Auch die Definition ist in das Spannungsreich-Ambivalente hinein weiterentwickelt, in dem Gleichsetzung, Gegensatz, Folge, ironische Durchleuchtung, entgegensetzende Antwort in wechselnden Anteilen enthalten sind.

Thematisch steht Benyoëtz gleichfalls mit zentralen Komplexen seines Werkes in der Tradition der Gattung, und er führt sie nicht nur fort, er entwickelt sie fort. Aus einer zentralen Uneindeutigkeit, einer bewussten Ambivalenz zwischen kotextueller Isolation sowie Zusammenhang und Einbindung als Teil eines Größeren, entwickelt sich das Gattungsweitende und -überschreitende. Das dem neuen Buchtyp zugrunde liegende Mittel ist das Zitat. Erinnerung als lebendig-ganzheitlich, gegenwärtig und vergegenwärtigend ist dabei ein Leitmotiv. Auch mit Versbrechung und Mittelachse, die endgültig einen Grenzbereich zwischen Aphorismus und Lyrik besetzen, geht eine innovative Veränderung einher. Dabei sind die abgrenzende Aufnahme der Sprachmythisierung und -personalisierung von Karl Kraus, KarlKraus und insbesondere die Verbindungslinien zu Kafka, FranzKafkas Aphoristik mit ihrer autonomen Bildlichkeit ebenso von Bedeutung wie die Beziehungen zu den jüdischen Exilaphoristikern FranzSteiner, Franz Baermann Baermann Steiner und Ludwig Strauß, LudwigStrauß und, von Martin Buber, MartinBuber her, das dialogische Prinzip.

Benyoëtz, der unter allen zeitgenössischen Aphoristikern das meiste interpretatorische Interesse geweckt hat, gilt als der bedeutendste deutschsprachige Gattungsautor der Gegenwart. In einer Gattung, die zu seiner Zeit in Deutschland, von ein paar frommen Erbauungsaphoristikern abgesehen, fast ausschließlich von sozialpolitisch orientierten, im Übrigen agnostisch-atheistischen Autoren geprägt ist, sich in ihrer Breite der Variation vorgegebener Muster widmet und in Gesinnungs- und Lebenshilfeaphoristik ergeht, stellt Benyoëtz’ Aphoristik mit seinen Konzepten von Kürze und Wörtlichkeit, seinem Erproben von Autorität und Weisheit als aphoristische Grundlagen, insbesondere aber mit seiner Metaphorik in der Nähe des Schweigens in Verbindung mit der Mittelachse einen durch das Miteinander von hochintellektueller Literatur und Religiosität beispiellosen Gipfelpunkt dar.

Hier ist wohl auch ein persönliches Wort zu der Beziehung des Herausgebers zum Autor angebracht, weil es dem Leser erlauben wird, den vorliegenden Band auch in dieser Hinsicht einzuschätzen. Kennengelernt als Autor habe ich Elazar Benyoëtz im Zuge meiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Aphorismus, sei es literaturhistorisch, sei es zeitgenössisch, zu Ende des Jahres 1976; mein Besitzeintrag in den „Einsätzen“ (1975) 16.11.1976 bezeugt es. Die Hoffnung, die der Klappentext ausdrückt, es sei ein „bemerkenswertes Bändchen“, hat sich in meinem Fall erfüllt: Der schmale Band aus dem kleinen Verlag hat mich erreicht. Und in mehr als einem Sinne, denn die Hanser-Bände „Worthaltung“, „Eingeholt“ und „Vielleicht – vielschwer“ habe ich sogleich erworben, die früheren „Einsprüche“ nachgeholt. Benyoëtz fordert ein ‚anwesendliches Lesen‘, wenn er schrebt: „Die landläufige Vorstellung vom Aphorismus […] fordert ein abwesendliches Lesen, das nur noch auf Nebenreize reagiert. Ich suche die Kunst, die Kunst findet meine Hand: aus dieser erblüht eine Handvoll Gedanken“ („Filigranit“, S. 8f.). Es materialisiert sich für den späten Nach-Leser wohl in den An- und Unterstreichungen, den Ausrufe- und auch den Fragezeichen, dem Verweis auf frühere Bände („wie vor“), den Kringeln, die Korrespondenzen verbinden, den Marginalien: „vgl. Kasper, HansKasper“ oder „ s. Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg“: ein Lesen, das sich Rechenschaft gibt. Meine Rückkehr nach Europa nach einigen Jahren an einer koreanischen Universität, in denen ich den Anschluss an aktuelle Neuerscheinungen etwas verloren hatte, lässt sich im August 1991 geradezu am Benyoëtz-Leser ablesen: „Treffpunkt Scheideweg“, im Vorjahr erschienen, habe ich noch im November desselben Jahres gekauft. Im Mai 1996 sind wir uns bei einer Lesung in Amsterdam zum ersten Mal persönlich begegnet, und ich nutzte die Gelegenheit, „Filigranit“ und die mir bisher unbekannten kleinen Herrlinger Drucke zu erwerben. Unser Briefwechsel setzt im Jahr darauf ein. Er bezieht sich unter anderem auf die Auswahl aus seinem Werk, die ich für den Band „Aphorismen der Weltliteratur“ vorgenommen habe.

Eine neue Stufe der Zusammenarbeit bedeutete es, als er im Jahr 2000 den Band „Der Mensch besteht von Fall zu Fall“ komponierte und ich ein Nachwort beisteuerte. Ich konnte ihn für eine Lesung in meiner Kölner Buchhandlung gewinnen, zu der ich die Einführung gab. Bis 2004 kommt es zu mehreren Begegnungen, in Köln, in Bonn, bei der Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz; die Briefe wachsen zu einem Briefwechsel an. Als mein Buch über den Aphorismus im 20. Jahrhundert, in den Siebzigern geplant, erschienen war (das ihm ein angemessen großes Kapitel widmet), löste es eine Flut von Briefen bei ihm aus, wie sie auch hier auszugsweise dokumentiert ist. Meine Beschäftigung mit dem Aphorismus, stellte er fest, decke sich genau mit der Entstehungszeit seiner Aphoristik. Er las intensiv: „Das bedeutet, dass ich bald zwölf Stunden mit Ihrem Buch und mit Ihnen spreche.“ Und er schrieb: „Ihre Gattungsgeschichte wird immer mehr zur Geschichte meiner Jugend.“ Dass Elazar Benyoëtz die Gattungsgeschichte wie kaum ein Aphoristiker sonst kennt, wusste ich aus seinen Publikationen; wie genau er sie kennt und wie dicht das Netz persönlicher Bekannntschaft ist, das lernte ich jetzt erst in Fragmenten kennen. In der Folge habe ich dann mehrfach von meiner fortlaufenden Beschäftigung mit dem Autor Rechenschaft gegeben: so in einem größeren Lexikonartikel, in kleineren Festbeiträgen und Rezensionen, in Anthologien und literaturhistorischen Überblickswerken sowie in begleitenden Texten im Lichtenberg-Jahrbuch (Bibliographie im Anhang). Ich konnte ihn zu Tagungen einladen: 2005 zur Lichtenberg-Tagung in Ober-Ramstadt, 2008 zum dritten Aphoristikertreffen in Hattingen, 2015 im Rahmen der Jüdischen Kulturtage im Rheinland in Hilden. Und im Jahr 2007 konnte ich ihn dafür gewinnen, meiner Reihe dapha-drucke im Deutschen Aphorismus-Archiv mit dem ersten Band, einer Auswahl von Aphorismen und Briefen, das Maß vorzugeben.

Der Brief hat im Zusammenhang des Werkes von Elazar Benyoëtz einen im Vergleich zu anderen Autoren herausragenden, wenn nicht einzigartigen Stellenwert: Er ist integraler Bestandteil seiner Vorstellung der Gattung , Buchʻ als einer Komposition von Mischtexten aus Aphorismus, Tagebuch und Gedicht, aus Zitaten und eben Briefauszügen. Dementsprechend sind in seine Werke seit den neunziger Jahren immer wieder auch Briefe integriert. Und auch diverse Briefsammlungen liegen vor, kleinere, unselbstständig gedruckte Briefwechsel mit einzelnen Partnern, größere, vor allem mit dem Band „Vielzeitig“ von 2009, der Briefe von 1958 bis 2007 sammelt, und in „Olivenbäume die Eier legen“, das der Autor als ein „Nachbuch“ bezeichnet und in dem er die Stationen seines Lebens und Werkes auch mit den brieflichen Reaktionen dokumentiert.

Hier nun erwartet den Leser keine weitere Briefsammlung. Aus einem Teil dieses umfangreichen Briefwerkes wird in diesem Band der Versuch eines Autorenporträts unternommen, wie es in den Bemerkungen „Zur Edition“ im Anhang im Einzelnen vorgestellt wird.

F. S.

I „Unleugbar spielten die Briefe in meinem Leben und Werk eine entscheidende Rolle.“ – Der Brief als „gerichtetes Wort”

An Albrecht Goes, AlbrechtGoes, 30. Mai 1986 Nr. 1

Lange habe ich noch an dem Briefwechsel* gearbeitet und solange auch gezögert, Ihnen zu schreiben und Sie erneut um Ihr Wort zu bitten, um Ihr Wort als Dichter, Leser, Freund, Zeuge und Dichter. Es wäre sehr wichtig, dass Sie sich vor diesen Briefwechsel stellen; zu Bodman, Clara vonClärle, das Sie genau erkannten, zu Manuel auch, dessen Novellen Sie herausgaben** und dessen Bild nicht ganz deutlich wird. Und auch zu mir, ja. Betrachten Sie es bitte nicht als Aufgabe – ein Blatt, ein sonniges, schattenspendendes, ein einziges Blatt von Ihrem Baum wäre Leben genug. Die erweiterte Auswahl, die neue Zusammenstellung ist fast makellos, entspricht dem Gelebten und bleibt anfechtbar. Mehr kann ich nicht sagen, könnten Sie aber – auf einer Seite, in einem Vorwort, Nachwort oder Begleitbrief. *** Für Ihre lange, getreue Begleitung, für Ihre ermutigende Rede sage ich Ihnen Dank.

* Solange wie das eingehaltene Licht. Briefwechsel mit Clara von Bodman, Clara vonBodman; Vielzeitig, S. 287 et. pass.; vgl. Olivenbäume, S. 167ff. et pass. (Die Titel der Bücher von EB hier in Kurzform; vgl. dazu die Bibliographie der Werke und Briefeditionen im Anhang.)

** Emanuel von Bodman, Emanuel vonBodman: Das hohe Seil und andere Novellen. Nachwort Albrecht Goes, AlbrechtGoes. Stuttgart: Reclam 1991

*** Der mit beiden befreundete Dramatiker Max Zweig, MaxZweig schrieb das Geleitwort zum Briefwechsel. Vgl. Solange wie das eingehaltene Licht, S. 5–9; vgl. Allerwegsdahin, S. 121f., 127f.; vgl. Aberwenndig, S. 124f., 126f., 321

An Daphne Hertz, DaphneHertz, 8. September 1986 Nr. 2

Ihre erneute Stellungnahme zum Briefwechsel* freut mich, sie ist gut und klar, erlaubt einen neuen Denkansatz und ermöglicht ihn – vom Bart bis zum Honig. Aber wie, wenn beide, Honig wie Bart, echt sind? Und das sind sie doch: der Bart des jungen Juden und Dichters, der Honig der alten Dame. Der Honig zumal ist ein natürlicher, und auch der naturreinste ist immer klebrig. Das ist nicht durchwegs angenehm, doch vermindert nicht den Nahrungswert und zieht von der Süße nichts ab. Oder doch? Ich weiß nun, was Ihnen unangenehm war und wohl noch ist, weiß aber noch immer keinen Grund für Ihre heftige Abwehr: „Auf keinen Fall veröffentlichen!“ Mag sein, dass so manches im Briefwechsel gegen mich spricht, wie zum Beispiel, dass ich mir Honig um den Bart schmieren lasse, muss dies aber auch gegen Clara sprechen? Um sie geht es doch, um sie allein geht es mir. […]. Ich war nicht bemüht, im verklärten oder heiteren Licht zu erscheinen. Von mir gibt es in diesem Buch nur Briefe, Bodman, Clara vonClaras Briefe dagegen enthalten ihr Größenmaß und geben sie maßvoll wieder, sind also viel mehr als nur Briefe, doch leuchten sie schöner und leuchten besser ein, wenn meine Briefe durch ihre Briefe fahren. Oder war es, liebe Daphne, Ihr ganz persönliches Bangen um mein schöneres Bild? Das würde mir gefallen, denn gern gefalle ich Ihnen, trotzdem ist Gefallsucht nicht meine hervorragendste Stärke. So meine ich, es sei gut, dass wir uns über Bart und Honig, über jung und alt, Gefallsucht und Verfallenheit neue Gedanken machen. Dieser Briefwechsel wäre ein annehmbarer Ansatz dazu. Noch einmal: Möge Ihre Abneigung noch so gut begründet sein, sie gehörte zu diesem Fall und wäre losgelöst von ihm nicht zu denken, nicht von Grund auf neu zu bedenken. Ich meine: Der Ausgang entscheidet über den Ansatz, die Jahre werden in der Liebe zu Dauer, und was wir am Ende bedauern, das sind wir zu Anfang gewesen.

* Mit Clara von Bodman, Clara vonBodman. Vgl. Brief an Daphne Hertz, DaphneHertz, Vielzeitig, S. 118f.

An Ludwig Brinckmann, LudwigBrinckmann, 18. Mai 1994 Nr. 3

 

Briefwechsel ist Austausch, Mitteilung – nicht gleich, nicht durchwegs, nicht unbedingt Dialog. Auch muss nicht immer von Dialog gesprochen, geschweige denn geschwärmt werden. Dialog ist im Sprechen selbst angesetzt, doch lässt sich über diesen Ansatz ebenso gut hinwegsetzen. Manchmal ist dies gerade, was das Imposante eines Briefes ausmacht. Der groß angelegte Brief ist immer zunächst ein großartig ausgestellter Wechsel. Mit dem konkreten Briefpartner wird das Ganze auf eine Neugier beschränkt, man kann dann scheinbar „besser folgen“, bleibt an der Sache aber nur über die Neugier beteiligt, ohne sich darum stärker angesprochen zu glauben. „Das an dich gerichtete Wort verliert mit dir seine Richtung“. Die Richtung ist das von mir Verlorengegebene, damit bist du schon gemeint, dadurch noch nicht getroffen.

Von Alexander von Bormann, Alexander vonBormann, 26. Juli 1996 Nr. 4

Ich habe mich sehr gern in die Briefe* eingelesen. Es sind ja durchweg Personen, die interessieren und die auch etwas zu sagen haben, was in Deinen Briefen genauestens aufgenommen (und stimuliert) wird. Schön, ein bezügliches Denken in diese Form zu überführen, die ja zum Glück nie aus der Literatur verschwunden ist. So liest man gern weiter, es ist eine ganz eigentümliche Spannung in diesem Buch (das eines werden soll). Vielleicht hängt das auch mit der eigenen (jüdischen?) Dialektik zusammen, die Versöhnung nicht als „Aufhebung“ (Verschmelzung der Standpunkte) denkt, sondern strikt als Gespräch meint (das gelegentlich auch schon mal lauter werden darf), als Dialog, der aufgegeben ist, wenn die Stimme des Anderen zum Verstummen gebracht wird. Nein, es ist ein sehr schöner Band, auf dessen Erscheinen ich mich freue.

* Das gerichtete Wort. Auswahl aus dem Briefwechsel 1973–1993; zurückgezogen

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 28. November 2004 Nr. 5

Man sieht einem Aphoristiker an, ob er Tagebuch schreibt oder nicht, ob seine Aphorismen von ihm kommen oder seinem Tagebuch entstammen. Man sieht es vor allem an der Fähigkeit eines Aphoristikers, von sich und mit sich selbst zu sprechen. Wer das kann, der schreibt nicht nur Tagebücher, er ist mit seinen Tagebüchern auch intim. Aus dieser Intimität, die ich bezeugen kann, beanspruche ich aber auch den „Brief“ für die Gattung. Das habe ich theoretisch noch nicht laut genug ausgesprochen, aber unübersehbar angedeutet: mit der Aufnahme von Briefen oder Brieffragmenten in meine Bücher. Der Brief gehört zur aphoristischen Praxis, zumal es das Wort zu einem gerichteten macht. (Meine geplante Briefedition heißt „Das gerichtete Wort“. Die drei Wörter mögen auch meine Auffassung vom Aphorismus bedeuten). Damit hätten Sie wieder einen Begriff für meine Aphoristik, einen Schlüssel, der aufschließt.

Meinem deutschen Aphorismus ging der Brief voraus und der Brief liegt meiner ganzen Aphoristik zugrunde. Ich betone: die deutsche Aphoristik, weil meine hebräische in Schrifttum und Habitus ihren Grund und Quelle hat. Sie ist keine Worthaltung, und von der Bibel her ist jedes Wort ein gerichtetes. Im Deutschen musste ich mich erst zum Denken erziehen, meine Gedanken ausbilden und „bebildern“, damit sie nicht zu Meinungen herabsinken. Das hätte ich durch mein Tagebuch allein nicht erreicht. Tagebücher sind keine gute Schule, weil man an sich ja kein Wort richten kann, auch wenn man sich ständig zu etwas ermahnen muss.

Das Briefeschreiben als Passion und Schule habe ich vor wenigen Jahren aufgegeben, ich brauch das nicht mehr, und auch meine Aphoristik hat es nicht mehr nötig. Ich kann übrigens einem Aphoristiker auch ablesen, ob er Briefe schreibt oder nicht.

An Monika Fey, MonikaFey, 24. Januar 2006 Nr. 6

Weil Du Dich so lange um das Hebräische bemühst und Dich so ernsthaft hineinsingst, fällt es mir leichter, Dir Hebräisches, deutsch Gedachtes, zu schreiben. Die Fragen, die Du mir stellst, kommen aus einer hebräischen Neugier. Wenn ich sie auf Deutsch beantworte, gehe ich dem Hebräischen entgegen. Eine Zweitsprache schafft Distanz und erleichtert das sich selbst Umarmen, wozu sonst nur Erinnerungen fähig sind. Erinnerungen sind Selbstumarmungen, über das Gedächtnis hinweg. Es gibt Gesprächspartner und Briefpartner, die keine Gesprächspartner sind, aber gute Adressen, wie Ohren, die sich spitzen lassen, weil sie nicht allem offenstehen mögen. Es sind zuhörende Erzähler, die alles aus dem Gegenüber herausspinnen. Sie sind nur scheinbar passiv, die Aufmerksamkeit ist die beste Hebamme des Erzählens. Es ist – nun auch der Briefwechsel – voller Panik, wie wenn alles auf ein Ende drängen, ich in eine Enge getrieben würde, in der ich verzweifelt aus einer Situation, aus einem Menschen Funken Poesie schlagen möchte.

Briefe müssen nicht im Zusammenhang stehen, aber eine Beziehung glaubwürdig widerspiegeln und für den Schreibenden sprechen. Briefe sind Einsichtungen; wenn man im Briefwechsel steht, wie im Leben, wie in der Versuchung, wie auf Kriegsfuß. Ich sehe viele Gesichter, Regungen, Leidenschaften, Hemmungen, erkenne Taktik und Verspieltheit. Sie sind mir alle willkommen. Ich sehe ein Ganzes, das Ganze kommt zur Auswahl, wird beschnitten, hört damit auch auf, „ganz gut“ und „ganz schön“ zu sein. Es wird sich ergänzen lassen und könnte immer wieder zur Geltung kommen. Verloren ist der „Blick aufs Ganze“. Das Ganze wird gepuzzelt. Fremde Menschen, die nicht von Leidenschaft sind, die nur die Falten sehen, nicht das Eingefaltete, treffen die Auswahlen, besorgen die Editionen und führen sie, kommentierend, auf ein Ganzes zurück, das sich nie wieder finden ließe. Das fremde Auge bindet das Ende an den unverbindlichen Anfang und stellt den Zusammenhang her, als wär’s ein Verhängnis. So entstehen die Bilder, die „genauen“, die nach und nach „authentischen“, mit denen wir konfrontiert werden. Daran lässt sich studieren, was alles genau ist, heißt oder sein soll. Wirklich im gelebten Leben ist das Nichtgenaue, das Annähernde. Das Treffliche belebt das Daneben.

An Jürgen Stenzel, JürgenStenzel, 19. November 2007 Nr. 7

„Allzu 70–jährig.“ Das Jahr, das uns so sehr zu schaffen macht. Mit Deiner Kritik hast Du mir schon geholfen, sie hat mich, wie es sein soll, verunsichert. Es ist ein Moment der Schwäche, ich mache mir mehr Skrupel als Gedanken. Mit „allzu 70–jährig“ hast Du, Dich selbst dagegen auflehnend, den Kern getroffen. Ich müsste von vorn beginnen, und dazu fehlt mir die Aussicht. Die Aussichtslosigkeit sollte den sinkenden Mut heben. Das Ich zu beherrschen ist schwer, das gespaltene zu überwältigen hoffnungslos. Mein Weg als Israeli und Jude ins Deutsche ist nicht nur mein Lebensweg, ist auch der Schrei meines Lebens. Ich musste mich fügen, ohne mich beugen zu können. Was ich annehmen musste, habe ich nie akzeptiert. Den Deutschen, für die ich schreibe, bin ich nicht „einzusehen“, aber auch den Israelis nicht, weil ich für sie gerade nicht schreibe. Das Pathos liegt im Schreiben, die Distanzlosigkeit im „für“. Das liegt auch dem zugrunde, was Du „einen alten Streitpunkt unter uns beiden“ nennst. Es ist kein Streitpunkt, es ist eine Hemmung. Wann immer Du meine Prosa lobtest, war es mir eine Auszeichnung. Ich habe mir Prosa nie zugetraut und fühle mich auch jetzt von der Vorstellung verfolgt, kein Schriftsteller zu sein. Das liegt tief und geht mir nicht leicht über die Lippen. Diese Not ist zugleich aber meine Schaffenskraft: aus dem Bewusstsein, Dichter zu sein, und nichts als Dichter. Im Sinne des lyrischen Ursprungs, meines traurigen Frühlingserwachens. Sprichst Du mir das – in bester Prosa-Absicht – ab, muss ich mich zur Wehr setzen.

Es war wohl nicht anders möglich, als all diese Konflikte auch in den Briefwechsel hineinzutragen. Ich bin der einzige, der das tun kann, nicht darum auch der geeignetste. Der Verleger* wünscht sich Briefe zum Werk, er sieht es neutral, objektiv vor sich, die Briefe sollen dessen Erschließung dienen, zugleich aber eine andere von mir gepflegte „Gattung“ zum Bewusstsein bringen. So würde er denken, meine ich, er hat sich nicht näher darüber geäußert, er verlässt sich auf mich. Briefe zum Werk, Werk für Werk, lassen sich leicht finden und aneinanderreihen. Aber lässt sich das wirklich von „meinem Weg“ trennen? Und könnte daraus ein Buch werden, das man mit Anteilnahme liest?

Die Gefahr liegt nahe, es bliebe schematisch und steif. Der mythologische „Leser“ will dem Werk nicht auf den Grund, sondern auf den Hintergrund kommen. Auch ich wüsste gern, was hinter diesem Werk gestanden haben mag. Die Wahrheit kann ich freilich nicht liefern, aber ein Bild, das nach und nach korrigiert werden könnte, am Ende korrigiert werden müsste. Ein Bild, aber auch viele verschiedene Selbstbildnisse, die dazu gehörten, nicht Stimmen allein. Unter den Briefen Deiner Sammlung befinden sich nicht wenige davon, Du bekommst den Schreibenden zu sehen, und diese Briefe an mich sind mir die liebsten. Namen sind mir teuer, mit vielen verbindet mich Dankbarkeit; die Freunde machen die Lesbarkeit eines Werkes aus. Genug, Du weißt Bescheid und kannst so weiterfahren. Wenn Du am Ende bist, wird sich ein Bild einstellen, das uns zeigt.

Zur Frage: „Muss das jetzt schon publiziert werden? Wir leben doch noch“ –

Die Antwort: Wir leben doch noch, und es muss nicht schon publiziert werden; es ist aber auch die Ausnahme, dass wir es publizieren dürften. Die Publikation wird unsere Freundschaft nicht zerstören, und die Briefe sind alle längst geschrieben. Sie können im Schatten bleiben oder ins Licht gehoben werden. Meine Ansicht: Was zum Leben gehört, bleibe in der Pflege der Lebenden. Was zur Diskretion des Gelebten gehört, bleibe diskret. Darüber hinaus schreiben wir einander nicht anders, als wir miteinander sprechen, und das tun wir immer so und nicht anders, auch wenn man uns zuhört. Wer an unserem Gespräch teilnehmen mag, soll daran teilnehmen können, andere werden es nicht lesen, weil es sie nicht interessiert. Wir sprechen miteinander, wie ehrliche Freunde miteinander sprechen, das ist nicht Literatur, aber denkwürdig genug. Als Freund gehörst Du auch zu meinem Werk, nicht nur zu meinem Leben.

* Olivenbäume. Braumüller

An Harald Weinrich, HaraldWeinrich, 11. März 2011 Nr. 8