Morgenstern

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From the series: Europakrimi "Schattenmann" #2
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Morgenstern
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Ekkehard Wolf

Morgenstern

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Impressum neobooks

Kapitel 1

Morgenstern

von Ekkehard Wolf

Sie haben das Gerät in der Bahn gefunden?“ Der Beamte machte eine kleine Pause und warf seiner Kollegin einen vielsagenden Blick zu. Er hatte das Alter des Besuchers auf etwas über 70 geschätzt und war nach Vorlage des Personalausweises sehr mit sich zufrieden, weil er feststellen konnte sich nicht geirrt zu haben. „So ist es.“ Der ältere Herr zeigte wenig Bereitschaft, sich auf das Spielchen des Polizisten einzulassen. „Und Sie sind sicher, dass ...?“ Der junge Diensthabende schaffte es nicht, seine Frage zu Ende zu bringen. „Ich bin mir sicher.“ Der gereizte Zwischenruf des älteren Herren irritierte den jungen Beamten ein wenig; aber eben auch nur ein wenig. „Na gut, dann wollen wir das einmal zu Protokoll nehmen. Darf ich Sie zur Klärung des Sachverhalts bitten, sich für einen Moment hierher zu setzen?“ Die ebenfalls noch recht junge Kollegin des Wachhabenden hatte sich entschlossen, die Situation nicht eskalieren zu lassen. „Und haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit – und für die Mühe, die Sie sich gemacht haben.“ „Warum überschlägt die sich so?“ Polizeioberwachtmeister Gerhard Zielkowski war eigentlich eher danach zumute, dem alten Mann hier einmal gehörig die Meinung zu sagen, anstatt der albernen Sache auch noch lange auf den Grund zu gehen. Der Abend war für die Beamten der Spätschicht auf dem Polizeirevier der kleinen Stadt im Süden von München bisher nicht gerade ereignisreich verlaufen. Bis zu dem Moment, als der alte Mann die Wache betreten hatte. Zielkowski kam die kleine Abwechslung daher anfangs durchaus nicht ungelegen. Der Grauhaarige in dem etwas altertümlichen Lammpelzmantel versprach immerhin ein wenig Ablenkung, erwies sich aber von Anfang an als schwierig. Er tischte dem Diensthabenden die Geschichte von dem in der S-Bahn gefundenen Laptop auf und bestand darauf, damit den Beweis für ein ungeheuerliches Kapitalverbrechen in Händen zu halten. Obwohl er zugeben musste, inhaltlich nicht ganz verstanden zu haben, worum genau es dabei gehen sollte und der dubiose Rechner sich zu allem Überfluss auch noch nicht einmal einschalten ließ, hatte er wichtigtuerisch auf seiner Verschwörungstheorie bestanden und verlangt, dass der Wachhabende den Fund „unverzüglich seinen Vorgesetzten zur Kenntnis zu bringen“ habe. Polizeioberwachtmeister Gerhard Zielkowski nervte diese geschraubte Ausdrucksweise und er hätte dem alten Herrn das zu gern auch klar gemacht. Doch in Gegenwart der zweiten diensthabenden Person verkniff er sich jede Unhöflichkeit. Die Kollegin war schließlich neu. Da konnte man nie wissen. „Wie geht das jetzt weiter?“ Nach Abfassen des Protokolls wandte sich der Alte mit noch immer herrischem Tonfall direkt an die Uniformierte. „Wir werden das Fundstück an die zuständigen Stellen weiterleiten. Wenn sich der Eigentümer dort nicht innerhalb der nächsten Monate meldet, wird der Apparat versteigert.“ Die Beamtin lächelte den älteren Mann gewinnend an. „Hören Sie, ich habe den Eindruck, dass Sie nicht verstehen, was ich Ihnen gerade gesagt habe. Das hier ist kein Fundstück. Das ist das Dokument eines Verbrechens!“ Die Stimme des älteren Herren drohte sich zu überschlagen. Der zuvor schon anmaßende Tonfall hatte sich urplötzlich in ein scharfes Bellen verwandelt. Dem diensthabenden Beamten waren solche wichtigtuerischen Choleriker trotz der geringen Zahl von Dienstjahren nicht fremd. Es verging kaum eine Schicht, ohne dass er mit einem solchen „Kunden“ in irgendeiner Weise zu tun hatte. Mit diesen ‚Typen’ wurde man am besten fertig, wenn man ihnen klar machte, dass jedes weitere Wort schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen würde. Mit einem Ruck hatte sich der Polizist erhoben. „Wir lassen das untersuchen.“ Seine Kollegin war ihm erneut zuvor gekommen. Sie lächelte noch immer ihr gewinnendes Lächeln. Zur Überraschung des Oberwachtmeisters gab sich der ältere Herr dann doch mit dieser Auskunft zufrieden. „Na gut, Sie werden schon einen Weg finden, um diesen Apparat wieder zu reaktivieren. Dann sehen Sie ja selbst, was ich meine.“ Er setzte seinen Namen unter das Protokoll, zögerte noch einen kurzen Moment, wandte sich dann aber zur Tür und verließ ohne einen Gruß des Abschieds die Wache. „Was war jetzt das?“ Polizeioberwachtmeister Gerhard Zielkowski gab sich belustigt, nahm wieder Platz und lehnte sich zurück. „Keine Ahnung; wird sich ja zeigen.“ Auch seine Kollegin gab sich genervt, und der Beamte hatte nicht den Eindruck, als ob sie vorhatte, dem Vorfall größere Aufmerksamkeit zu schenken. Zielkowski aber wollte sicher gehen und vergewisserte sich daher. „Du glaubst diesem alten Spinner doch wohl nicht, oder?“ Angelika Schwarz zögerte mit einer Antwort, blickte ihm direkt in die Augen und versuchte es dann mit ein wenig Ironie, die ihr Kollege jedoch nicht verstand und auf die er deshalb gereizt reagierte: „Na klar, der alte Trottel findet rein zufällig ein Notebook in der Bahn auf dem rein zufällig der Plan einer miesen Verschwörung aufgezeichnet ist. Er schaut sich das ausführlich an, versteht nicht, worum es da eigentlich genau geht, bringt uns die Kiste her und rein zufällig ist der Scheißapparat kaputt, als er ihn einschalten will. Sehr, sehr witzig.“ Gerhard Zielkowski war offenkundig nicht in der Laune, die gesamte Angelegenheit mit Ruhe anzugehen. Angelika Schwarz zog es vor, die Stimmung nicht noch weiter aufzuheizen. „Kann ich mir auch nicht vorstellen,“ gab sie beschwichtigend zu verstehen. Sie hatte nicht die Absicht, hier wegen so etwas anzuecken. Schließlich wollte sie weiterkommen. Trotzdem fügte sie abermals mit leicht ironischem Unterton hinzu: „Ich räum’ das jetzt mal weg. Wenn Du das schon so witzig findest, dann sollen die Kollegen schließlich auch noch ihren Spaß damit haben. Wir haben den Vorgang jedenfalls ordnungsgemäß erfasst.“ Absichtliche eine Nuance zu theatralisch klappte sie den Deckel des Corpus Delicti zu und entschwand damit in die „Asservatenkammer“, wie der Aufbewahrungsraum für abgegebene Fundstücke intern gerne genannt wurde. In diesem Augenblick klingelte zum Glück das Telephon. „Polizeiinspektion Wolfratshausen“, meldete sich der junge Diensthabende, erfreut darüber, sich nach dem Vorfall von eben wieder mit einer anderen Sache beschäftigen zu können. Doch das nachfolgende Gespräch nahm einen anderen Verlauf, als von dem jungen Beamten erhofft.

Kollege Zielkowski, kannst Du gerade mal eben zum Chef ins Büro kommen?“ Die Frage des Diensthabenden erreichte den Oberwachtmeister genau in dem Moment, als er den Kaffeebecher zum Mund führte. Erstaunt blickte er auf und sah seinen Schichtleiter fragend an. Polizeihauptmeister Volker Ritter hatte sich direkt vor ihm aufgebaut und sah seinerseits ihm forschend ins Gesicht. Zielkowski setzte den Kaffee ab. Beinahe hätte er sich verschluckt. „Äh klar, natürlich, jetzt gleich?“ Es gelang ihm nicht, seine Irritation zu verbergen. „Jetzt gleich,“ bestätigte Ritter und machte eine einladende Handbewegung in Richtung Tür. „Geh’ nur, ich vertret’ dich hier so lange.“ Ohne weitere Fragen zu stellen, erhob sich Zielkowski von seinem Platz und verließ samt Kaffee den Raum. Den Becher hielt er noch immer in der Hand, als er wenige Augenblicke später an der Tür von Polizeihauptkommissar Jens Jensen klopfte. Beim Betreten des Zimmers stutze er. Er hatte erwartet, seinen Chef allein anzutreffen. Tatsächlich befand sich neben Jensen auch seine junge Kollegin Angelika Schwarz in dem Raum und zudem noch zwei Personen in zivil, die er hier noch nie gesehen hatte. Der Vorfall mit dem abgegebenen Computer lag inzwischen drei Tage zurück. Nach seiner damaligen Spätschicht hatte Zielkowski schichtfrei gehabt. Heute war er erstmals wieder zum Dienst erschienen. Dabei hatte er bisher keine Gelegenheit gehabt, sich mit dem ominösen Computer zu befassen. Jetzt fiel sein Blick sofort auf das Gerät. Es stand im laufenden Betrieb allein auf dem Besprechungstischchen. Zielkowski erkannte den Apparat aufgrund der merkwürdigen Aufschrift, die unten am Monitor in kyrillischer Schrift aufgeklebt war: „САЛАМАНДРА“. „Kommen Sie herein.“ Aufmunternd winkte Jensen seinen Mitarbeiter in den Raum. „Die Kollegin Schwarz kennen Sie ja bereits. Die beiden Herrschaften hier sind PHK Regina Raabe vom LKA und Kriminaloberrat Günther Rogge von BKA.“ Wie üblich hielt sich Jensen nicht lange mit Förmlichkeiten auf. „Es geht noch einmal um diesen Rechner hier,“ leitete der Dienstvorgesetzte die Besprechung ein. „Sie haben den ja entgegengenommen, nicht wahr?“ „Ja, also das war so ...,“ wollte der Angesprochene gerade ausführen, wurde aber sofort abgewürgt. „Ok, das wissen wir eigentlich schon alles“, unterbrach ihn Jensen ruppig und fügte hinzu: „Bei dem Computer war nur der Akku leer. Die Kollegin Schwarz hat da gleich am nächsten Tag ein Netzteil besorgt und schon lief wieder alles.“ „Die schwarze Angie,“ schoss es Zielkowski durch den Kopf, während er sich bemühte, dem Vortrag seines Chefs zu folgen. „Schwarze Angie“ war der Spitzname für Angelika Schwarz. Die Kollegen hatten sie mit diesem ‚Kosenamen’ bedacht, weil die Schwarz in Wirklichkeit blond war, aber bissig wie eine schwarze Witwe reagieren konnte, wenn ihr einer der männlichen Kollegen irgendwie dumm kam. Jetzt stand die Schwarze Angie mit den blonden Haaren neben dem aufgeklappten Laptop und wartete offenkundig auf ihren Auftritt. Doch ihr Vorgesetzter hatte sich in den Kopf gesetzt, zunächst noch die Befragung ihres Kollegen zu Ende zu bringen.

 

Sie haben den Zeugen doch auch erlebt, Kollege Zielkowski, nicht wahr?“ Da bereits sein vorheriger Versuch einer Antwort erst Sekunden zuvor gescheitert war, verkniff sich der junge Beamte jetzt trotzig eine Reaktion und anscheinend hatte sein Vorgesetzter auch keine erwartet; denn bereits nach einer kurzen Kunstpause ließ er die Anschlussfrage folgen: „Bevor wir anfangen, wäre es deshalb vielleicht ganz gut, wenn Sie uns den alten Mann einmal beschreiben könnten. Ich meine den, der den Computer hier abgegeben hat. Sie verstehen schon?“ Zielkowski stand da und sagte kein Wort. „Herr Kollege?“ Jens Jensens Stimme bekam einen ungeduldigen Unterton, aber statt zu antworten stand sein Untergebener mit zusammengepressten Lippen da und starrte angestrengt in den Raum. Es folgte ein Moment des Schweigens, in dem sich Jensen, Rogge, die Raabe und die Schwarz wechselseitig fragend ansahen. „Zielkowski? Ich habe Sie etwas gefragt. Haben Sie mich verstanden?“ Der Angesprochene schien zur Salzsäule erstarrt zu sein und ließ durch nichts erkennen, ob ihn die Ermahnung seines Vorgesetzten erreicht hatte. Angelika Schwarz folgte dem Blick ihres Kollegen. Sie trug die Haare heute streng nach hinten gekämmt und verstärkte dadurch den energischen Eindruck, den sie durch ihre sonstige Körpersprache ohnehin bereits auszustrahlen bemüht war. Bereits im nächsten Augenblick war es jedoch um ihre Selbstbeherrschung geschehen. Sie stutzte ebenfalls, schlug beide Hände vor das Gesicht und wandte sich sogleich erschrocken den Anderen zu. Ihr Blick, der mit Fassungslosigkeit nur unzureichend beschrieben werden konnte, veranlasste Rogge dazu, fragend die rechte Augenbraue zu heben. Erstaunt musste er feststellen, wie die Oberwachtmeisterin sich mit geöffnetem Mund vorbeugte, um sodann so intensiv auf den Bildschirm des kleinen Computers zu starren, dass auch Jensen und die beiden Polizisten in zivil nicht umhin konnten, sich für das zu interessieren, was sie so zu faszinieren schien. Der Inhaber einer A14 Stelle musste sich eingestehen, das dass, was sich gerade vor ihrer aller Augen abspielte, durchaus etwas Beunruhigendes an sich hatte. Mit einer Art Count Down wurde in großen, rückwärts laufenden Zahlen die Selbstzerstörung des gesamten Datenbestandes des Rechners angekündigt.

Regina Raabe gelang es als erster ihre Lähmung zu überwinden. Mit zwei schnellen Schritten stand sie am Rechner. Nach drei vergeblichen Versuchen mit der Escape Taste griff sie zur Notbremse, betätigte die Ausschaltknopf und erreichte damit, dass sich der Computer von seinem destruktiven Tun verabschiedete. Damit blieb vorerst allerdings unklar, ob hier ein besonders origineller Bildschirmschoner aktiviert, oder tatsächlich ein Selbstzerstörungsmechanismus im Begriff gewesen war, den gesamten Inhalt des Computers zu löschen oder diesen bereits gesperrt oder gar vernichtet hatte. Noch bevor sich die Anwesenden von diesem Schreck erholen konnten, folgte bereits die nächste unschöne Überraschung.

Ohne Anzuklopfen stürzte Hauptmeister Werner Sedlmair in das Zimmer. Augen und Mund des Wachhabenden waren weit aufgerissen. In den Händen hielt er ein Stück Packpapier. Auf dem Verpackungsmaterial lag eine flache Schale aus Plastik. In der Schale lagen, auf Watte gebettet, zwei menschliche Augen, zwei Ohren und eine Zunge. „Das ist eben mit der Post gekommen,“ stieß der Beamte hervor und blickte in die Runde. Es dauerte einen Moment bis die im Dienstzimmer des Hauptkommissars Versammelten in der Lage waren sich auf die neue Situation einzustellen. Wortlos blickten sie auf den Polizisten, der sie mit seinem Auftritt überrascht hatte. „Mensch Sedlmair, bist Du jetzt völlig übergeschnappt, oder was?“ Es war Jens Jensen als Erstem gelungen, seinen Schreck zu überwinden und ihm war anzumerken, dass er Mühe hatte, die Form zu wahren. Noch bevor der Hauptmeister antworten konnte, erwischte es Zielkowski. Gleich beim Anblick der blutigen Körperteile hatte er die Augen verdreht, sein Atem war schneller geworden und dann machte er alle Anstalten der Länge nach umzufallen. Angelika Schwarz konnte ihn gerade noch auffangen und verhinderte dadurch, dass ihr Kollege mit dem Kopf direkt gegen die Kante des Schreibtisches krachte, der das Dienstzimmer ihres gemeinsamen Vorgesetzten schmückte. Das alles hatte sich so schnell abgespielt, dass niemand im Raum auf die Idee kam, sich zu fragen, warum ausgerechnet der sonst so hart gesottene Zielkowski auf einmal so verweichlicht reagierte. Zugleich löste dieser Aussetzer eine Kettenreaktion aus. Beim Anblick seines zusammenbrechenden Kollegen wäre dem Hauptmeister beinahe die Schale mit den blutigen Sinnesorganen aus der Hand gerutscht. Während es ihm nur mit Mühe gelang, die wackelige Gefäß auszubalancieren, bemühte sich Angelika Schwarz darum, ihren daniederliegenden Kollegen mit leichten Schlägen auf die Wangen, wieder zu Bewusstsein zu bringen. Zugleich hatte die Frau vom LKA einen schnellen Schritt auf Sedlmair zugemacht, um zu verhindern, dass die schwankende Schale zu Boden ging. Als sich ihre Intervention als nicht mehr erforderlich erwies, hielt sie inne und sah sich ein wenig irritiert nach Rogge um. Dieser hatte den Vorgang bisher äußerlich ruhig verfolgt und wandte sich jetzt mit einem, wie Raabe fand, ziemlich unpassenden Grinsen und der provozierenden Frage an den Dienststellenleiter, ob es hier immer so heftig zugehe. Daraufhin trug auch Jensen sein Scherflein dazu bei, die Situationskomik zu bereichern. Zuvor hatte auch er zunächst einen Schritt in Richtung des Computers getan, sich dann seinem Kollegen Sedlmair zugewandt und war anschließend auf Zielkowski und Schwarz zugegangen. In dieser Bewegung hielt er nun abrupt inne und wandte sich Rogge zu. „Ob es hier was?“ Nicht nur sein Tonfall verriet, dass er augenblicklich wirklich nicht verstand, was der Mensch aus Wiesbaden gerade von ihm wollte. Zu allem Überfluss klingelte jetzt auch noch sein Diensttelephon. Nahezu erleichtert drehte sich Jensen zu dem Apparat hin und griff nach dem Hörer. „Was gibt es?“ Die Antwort, die ihm der Anrufer zuteil werden ließ, schien nicht dazu beizutragen, den Gemütszustand des Dienststellenleiters zu stabilisieren. Jedenfalls bewegte er sich im Zeitlupentempo mit dem Hörer am Ohr um seinen Schreibtisch herum und ließ sich dann ebenso langsam in seinen Dienstsessel nieder.

Vom anderen Ende der Leitung informierte ihn die Streifenwagenbesatzung, die vor einer knappen halben Stunde zum Fundort eines am einem Baum hängenden, blutigen Leinensackes gerufen worden war über die Ergebnisse des Einsatzes. Beim Eintreffen der Beamten hatte das Bündel noch immer am Ast einer großen Buche gehangen. Auch der angeheftete Zettel mit der Aufschrift „Leiche“ flatterte weiter im Wind. Entdeckt worden war das Ganze von zwei spielenden Kindern, deren Mutter die Polizei benachrichtigt hatte. Anstelle des von den Beamten zunächst angenommenen makaberen Scherzes, erwies sich der Inhalt des Sackes jedoch als genau das, was die Aufschrift angekündigt hatte. Mehr noch. Dem telephonischen Bericht der Streifenwagenbesatzung zufolge handelte es sich bei der Leiche um einen älteren Mann, der nicht einfach nur tot, sondern zudem noch völlig entstellt war. „So etwas haben Sie noch nicht gesehen Chef.“ Polizeiobermeister Dieter Vogts Tonfall war anzumerken, dass ihn das Bild des vor ihm liegenden Toten nicht kalt ließ. Der ältere Mann war vor seinem Ableben offenkundig schwer misshandelt und gefoltert worden. Nicht nur seine Hände, Arme, Beine und Füße waren absonderlich verdreht. Auch fehlten dem Toten Augen, Ohren und Zunge. Möglicherweise noch lebend war das Opfer von den Tätern in diesem Zustand in den Sack gepfercht und so an den Baum gehängt worden, wo er entweder verblutet oder erstickt sein musste. „Wer macht denn so was?“ Während Jensen die Frage einfach so herausgerutscht war, ohne dass er eine konkrete Antwort erwartet hätte, ließ sich wenige duzend Kilometer entfernt der Auftraggeber der Befragung des alten Mannes von deren Ergebnissen berichten.

Kapitel 2

Er hat bis zuletzt darauf bestanden, das Gerät bei der Polizei abgegeben zu haben. Mehr war nicht aus ihm herauszuprügeln und mehr hatte unser Freund wohl auch nicht zu sagen.“ Der Stimme der Frau am anderen Ende der Leitung war Verärgerung über das magere Ergebnis der Befragung trotz der deutlichen Worte nicht wirklich anzumerken. „Dann sehen Sie zu, dass Sie das Gerät wieder herbeischaffen oder sorgen Sie dafür, dass die Daten vollständig verschwinden.“ Auch der Tonfall des Gesprächspartners blieb emotionslos, während er angestrengt aus dem Fenster seines Büros mit Bergblick in der Nähe von Penzberg blickte. „Ich verlasse mich auf Sie!,“ stellte der Enddreißiger klar und lehnte sich zurück. Wer mochte, konnte aus dieser Bemerkung einen leicht drohenden Unterton heraushören und Diejenige, der die Drohung galt, verstand sie auch, ließ sich das aber nicht anmerken. „Unser Mann befindet sich bereits direkt gegenüber,“ teilte die Stimme dem Mann im Büro mit, ohne einen Anflug von Verunsicherung erkennen zu lassen. Von seinem Platz im ersten Stock des Chinarestaurants blickte besagter Mann im selben Augenblick direkt auf die Polizeistation und die davor liegende Straße. Das Telephonat war damit beendet und beide legten auf. Zum diesem Zeitpunkt waren die Beamten im Dienstzimmer des Leiters der Polizeiinspektion Wolfratsried von der Rückkehr zum normalen Dienstbetrieb noch immer ein gutes Stück entfernt.

Polizisten sind nicht selten hart gesottene Menschen, die sich viel ansehen und anhören müssen und die daher in der Regel nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen sind. Allein, die bisherigen Vorfälle beunruhigten die daran auf dem Polizeirevier der Kleinstadt in Oberbayern beteiligten Beamten doch ganz erheblich. Diese Gemütsverfassung sollte sich im weiteren Verlauf des Tages noch steigern. Zunächst einmal aber hatten alle Mühe damit, ihr Erschrecken über das gerade Erlebte nach außen hin nicht allzu deutlich werden zu lassen. Insoweit verhielten sich die Vertreter von LKA und BKA sowie Angelika Schwarz, ihre Kollegen und deren Vorgesetzter ganz ähnlich, auch wenn die Gründe für diese Verhaltensauffälligkeit deutlich voneinander abwichen. Die Unruhe der jungen Beamtin mit den schon nicht mehr ganz so streng gekämmten Haaren resultierte in erster Linie daraus, dass sie noch nie zuvor in herausgerissene Augen geblickt und auch noch nie erlebt hatte, dass ihr Dienststellenleiter mit einer Situation überfordert war. Günther Rogges Unruhe ergab sich hingegen in erster Linie aus dem Vorfall mit dem Computer. Gleich nachdem das bayerische LKA – von wem auch immer - davon unterrichtet worden war, dass auf dem Gerät möglicherweise Informationen gespeichert waren, die in den Bereich der internationalen, organisierten Kriminalität hineinreichten, hatte sich ein dort Verantwortlicher mit seiner Dienststelle in Verbindung gesetzt. Da der geäußerte Verdacht noch eher vage formuliert war, hatten seine Vorgesetzten ihn losgeschickt. Seit er, wie sein Abteilungsleiter ihm schonend zu verstehen gegeben hatte, in dieser „etwas undurchsichtigen Angelegenheit im Zusammenhang mit dieser Spionagesoftware oder was das in Wirklichkeit auch immer gewesen ist, keine so gute Figur gemacht hatte“, war er hausintern erst einmal von der Front abgezogen worden. Nachdem er seinen Anfangsfrust überwunden hatte, war ihm das im Grunde gar nicht so ungelegen gekommen. Schließlich bekam er auf diese Weise mehr Zeit, um Dinge zu tun, die er schon immer hatte tun wollen. Neben ausgedehnten Wanderungen mit einem Rucksack auf dem Rücken zur Erkundung seiner alten Heimat, gehörte auch das Reiten dazu. Nicht weit entfernt von dem Ort, an dem er seine neue Liebe, die NSA Agentin Viola Ekström kennen gelernt hatte, befand sich ein kleiner, privater Reiterhof, der ihm genau die Art von Reiten ermöglichte, die ihm schon deshalb besonders viel Spaß machte, weil er dabei nicht so leicht vom Pferd fallen konnte. Der Reiterhof unterhielt Islandpferde und deren bevorzugte Gangart ist nun einmal das Tölten. Seither hatte er sich hier praktisch an jedem Wochenende aufgehalten. Vermutlich war die Tatsache, dass er sich hier mittlerweile also einigermaßen auskannte ausschlaggebend dafür, dass seine Vorgesetzten auf die Idee verfallen waren, ausgerechnet ihn hierher abzuordnen. Ganz sicher aber auch, da hatte sich Rogge keine Illusionen gemacht, die Vermutung, dass er hier nicht allzu viel Porzellan würde zerschlagen können. Also war er jetzt hier und als ranghöchstem Polizisten fiel ihm nun die Verantwortung für die weitere Vorgehensweise zu. Der Absturz des Notebooks hatte möglicherweise den Verlust der darauf befindlichen Daten und damit auch des einzigen Beweisstückes zur Folge. Diese Aussicht bereitete ihm vor allem deshalb Sorge, weil er diese Situation nicht verhindert hatte. Zwar war es nicht seine Idee gewesen, das Gerät hier sozusagen öffentlich als Demonstrationslehrstück für nur bedingt diensteifrige Polizisten auszustellen, aber er hatte es zugelassen. Da bekanntlich ein Unglück selten allein vorkommt, hatte er jetzt Mühe, die Hoffnung über die Panik obsiegen zu lassen. Gewiss, so versuchte sich der Kriminaloberrat zwar Mut zu machen, hatten die Spezialisten vom LKA, die das Gerät, wie er glaubte aus der Anwesenheit der Kollegin Raabe entnehmen zu können, in den vergangenen beiden Tagen untersucht haben mussten, längst eine Sicherungskopie der Festplatte angefertigt und vermutlich war damit alles nur halb so schlimm. Aber wirklich sicher sein konnte man da keineswegs. „Shit happens,“ musste sich der pannengewohnte Beamte eingestehen. Wenn er geahnt hätte, dass das Gerät in der Zwischenzeit lediglich von derselben jungen Beamtin in Augenschein genommen worden war, die auch die Idee gehabt hatte, es einmal mit einem Netzteil zu versuchen, und die Anwesenheit der Kollegin vom LKA eben vor allem den Zweck hatte, das fragliche Gerät erst in dessen Obhut zu überführen, so wäre seine Unruhe sicher noch wesentlich ausgeprägter gewesen. Da dem nicht so war, konnte sich der Kriminaloberrat erst einmal wieder dem Geschehen um sich herum zuwenden. Erst jetzt registrierte Rogge, dass sich die übrigen Teilnehmer der etwas skurrilen Runde mehr von den herausgerissenen und tatsächlich wenig appetitlichen Augen und Ohren beeindrucken ließen, als von dem abgeschalteten Notebook. Ganz besonders galt dies für Regina Raabe. Nur das bei ihr nicht der Ekel, sondern das Timing für Unruhe sorgte. Sie war auch diejenige, der es als Erster gelang, ihre Irritation in Worte zu fassen: „Zufällig exakt in dem Moment, in dem der Computer seinen Selbstzerstörungsmechanismus aktiviert, werden uns per Botensendung die Sinnesorgane eines Toten zugestellt, der zu allem Überfluss übel zugerichtet in einem Sack aufgefunden wird? Das kann mir keiner erzählen.“ Die Hauptkommissarin hatte es sich abgewöhnt, an derartige Zufälle zu glauben. Entsprechend groß war ihre Beunruhigung. „Irgendwie nur schwer vorstellbar, dass ein solches Timing bewusst herbeigeführt worden sein sollte,“ ließ sich Jensen auf den Gedankengang ein. „Andererseits: Zum Mond sind wir ja auch schon geflogen.“ Für die Umstehenden blieb offen, ob dieser Hinweis nun als Bestätigung der Zufallsthese aufzufassen war. „Jedenfalls die Amerikaner,“ ergänzte daher Rogge mit süffisantem Unterton und konnte sich bei diesem Gedanken abermals ein unmerkliches Grinsen nicht verkneifen. Erneut machten die verständnislosen Blicke der anderen im Raum befindlichen Personen deutlich, dass sie für diese Gemütsäußerung in dieser Situation wenig Verständnis aufzubringen vermochten. Rogge zwang sich dazu, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen. Er hatte hier wirklich etwas Besseres zu tun, als die gesamte Belegschaft wegen einer unangemessenen Geste gegen sich aufzubringen; zumal das Problem dadurch nicht zu lösen war. Bevor Rogge dazu kam, sich abermals gedanklich mit der Frage Zufall oder Planung auseinander zu setzen, hatte auch Jens Jensen wieder zurück in die Rolle gefunden, die seiner Funktion als Dienststellenleiter entsprach. Energisch bestand er darauf, den gesamten Vorgang unverzüglich ‚nach Oben’ melden zu müssen. Nicht ohne einen neuerlichen Anflug von Belustigung spürte Rogge, wie sich das Interesse der anderen Polizisten von ihm weg und hin zu dem ‚Chef’ verlagerte. Danach herrschte im Raum für einen Moment wieder völlige Stille.

 

„Verbinden Sie mich mit Weilheim.“ Diese geradezu in den Hörer des Diensttelephons gebrüllten Worte Jensens erlösten die Erstarrten aus ihrem Dornröschenkurzschlaf. In der Folge, redeten statt dessen auf einmal alle so aufgeregt durcheinander, dass niemand mehr sein eigenes Wort verstehen, geschweige denn, eine koordinierte Entscheidungsfindung daraus erwachsen konnte. Das Durcheinander wurde durch eine neuerliche Überraschung beendet.

Im allgemeinen Stimmengewimmel gelang es Angelika Schwarz bereits im zweiten Anlauf als Erster, sich Gehör zu verschaffen. Obwohl auch sie ihren Schock und Ekel noch keineswegs überwunden hatte, war ihre Aufmerksamkeit ebenso plötzlich zurück gelenkt worden zu der kleinen Maschine, die erst wenige Minuten zuvor im Begriff gewesen war, ihr einen unschönen Streich zu spielen. „Chef, schauen Sie mal bitte?“ Sie hatte die Aufforderung so nachdrücklich betont, dass sie alle Augen auf sich zog. Sie streckte ihren Arm aus und erreichte damit, das nun die Blicke an ihr vorbei glitten und der Richtung folgten, in die ihr Zeigefinger wies. Schon wieder war es dem Computer gelungen, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zu konzentrieren. Er hatte sich offensichtlich eigenständig wieder eingeschaltet und setzte jetzt munter den bereits vorher begonnenen Count Down fort. „Halten Sie das auf!“ Jetzt war es die Stimme Rogges, die den Befehl durch den Raum bellte und Angelika Schwarz dazu veranlasste, panisch den Netzstecker zu ziehen. Doch der Rechner ließ sich davon nicht beeindrucken und zählte munter weiter. Daraufhin entschloss sich die junge Polizistin dazu auf Nummer sicher zu gehen und die Notbremse zu ziehen. Sie entfernte auch noch den Akku. Angelika Schwarz war nicht bewusst, dass hierdurch der Rechner in den Ruhezustand versetzt worden war, aus dem das Gerät genau so erwachen würde, wie zuvor. Obwohl es allen Anderen genauso ging, dauerte es einen Moment, bis die Beteiligten aus ihrer neuerlichen Erstarrung erwachten. Als es soweit war, entlud sich die Erleichterung mit einem hörbaren Aufatmen. Abermals war es Jensen, der mit seiner Befehlen dafür sorgte, dass sich der Raum wieder mit Leben füllte. „Frau Schwarz, Sie kümmern sich darum, dass der Apparat hier zur KTU nach München kommt. Zielkowski packt die Gliedmaßen in Eis und dann ab damit in die Pathologie. Ich fahre raus zum Fundort und schau’ mir die Leiche an. Ich nehme an, Sie werden mich begleiten wollen.“ Die letzten Worte waren an Rogge und die Raabe gerichtet. Als Beide ihr Einverständnis signalisiert hatten, wandte er sich unmittelbar zur Tür und wies im Hinausgehen Sedlmair als Wachhabenden an, „die Stallwache“ zu übernehmen. Gleich darauf leerte sich die Wache Dank der chronischen Unterbesetzung der Inspektion infolge Personalmangel, Überstundenabbau und Urlaubszeit innerhalb kürzester Frist. Zielkowski hatte sich wieder aufgerappelt und zwang sich jetzt dazu, seinen Ekel zu überwinden. Wie befohlen, setzte er sich umgehend mit dem BRK in Verbindung, um die Weiterleitung der menschlichen Überreste in die Landeshauptstadt zu veranlassen. Ein für den Transport geeigneter Kühlbehälter war auf dem Revier bedauerlicherweise aber nicht verfügbar. Da beim BRK auch niemand frei war, um eine entsprechende Tasche vorbeizubringen, blieb dem Beamten nichts anderes übrig, als sich selbst auf den Weg ins Krankenhaus zu machen. Unmittelbar danach kam auch Angelika Schwarz dazu, sich den kleinen Computer unter den Arm zu klemmen. Sie war gerade im Begriff sich damit zurück in ihr Dienstzimmer zu verziehen, als eine neuerliche Komplikation in Form eines stark nach Schweiß riechenden Mannes die Wache betrat.