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Sechstes Kapitel
Zum zweiten Mal stand Rosa ratlos vor ihrem Leben. Nicht nur das schmerzliche Vermissen, nein, vor allem war es die vollständige Leere, die ihr jede Kraft raubte. Sie konnte in ihrer Kammer oder im Wohnzimmer am Fenster sitzen, auf die Wiese oder auf den Hof hinausschauen, sie konnte Frau Böhks Krankengeschichten oder Herrn Böhks Liebesgeschichten anhören, konnte mit Grethe spazierengehen, um zuzuhören, wie die Burschen und Mädchen unter den Birken am Bach bis spät in die Nacht hinein Liebeslieder sangen; es hatte nur, meinte sie, nicht den geringsten Zweck; sie war dabei ganz unnütz. Sie hätte ihr Leben gewiss ungern fortgegeben, was sie jedoch mit ihm beginnen sollte, wusste sie nicht. Da dachte sie an ihren alten Vater. »Agnes schrieb«, sagte sie zur Hebamme, »Papa sei krank. Seitdem habe ich keine Nachricht von ihm. Ich fürchte, es steht schlecht.«
»So wissen Sie’s schon?« rief Frau Böhk. »Agnes schrieb mir über den zweiten Schlaganfall des alten Herrn. Ich durfte es Ihnen nicht sagen, Sie nährten das Kind.«
»Oh, Frau Böhk! Sagen Sie’s nur; Papa lebt nicht mehr.«
»Nein, wahrhaftiger Gott, davon weiß ich nichts. Recht schlecht stand es um ihn, aber…«
Rosa schüttelte den Kopf. Es schien ihr ganz natürlich, dass, wohin sich ihre Liebe auch wandte, der Tod ihr entgegentrat. Seltsam jedoch war es, wie mit der Überzeugung, ihr Vater lebe nicht mehr, sofort der Gedanke in ihr auftauchte: »Wenn Papa auch tot ist, dann wird das Kleine dort – nicht mehr allein sein.« Diese dunkle Vorstellung ließ sie ruhiger der Trauer um ihre Toten nachhängen.
Eines Abends langte Agnes in Tiglau an. Das schwarze Kleid, die schwarze Haube, die dem alten Gesicht etwas Fremdes gaben, die tränenfeuchten Augen, mit denen Agnes Rosa anblickte, verkündeten deutlich genug, dass Rosa sich nicht getäuscht hatte. »Ich weiß alles; der arme Papa«, sagte Rosa, als Agnes sie schluchzend umarmte.
Erst als sich beide im Giebelstübchen zu Bett legten, erfuhr Rosa die Einzelheiten über den Tod ihres Vaters.
»Nach dem ersten Schlaganfall«, berichtete Agnes mit klagender Stimme, »stand es schon sehr übel um deinen Papa. Er konnte seine Füße nicht gebrauchen, und sein Kopf, weißt du, war ganz schwach. Er vergaß immer wieder, dass du nicht mehr bei uns bist. ›Wo ist die Rosa?‹ sagte er ganz ärgerlich. ›Es ist schon spät. Agnes, geh und hol sie.‹ Wenn ich’s nicht tat, zankte er, wie er’s in gesunden Tagen, weiß es Gott, nie tat. ›Wirst du nicht gehen?‹ sagte er, ›wer ist hier der Herr? Wofür wirst du bezahlt?‹ Endlich weinte er und klagte: ›Weil ich ein Krüppel bin, glaubt ihr mich quälen zu können.‹ Gott, Gott! Schwer genug war die Zeit. Ich bin um zehn Jahre älter geworden. Nun – und eines Morgens, wie ich ihn angekleidet habe und zu seinem Sessel führen will, verdreht er die Augen und fällt rücklings – der Schreck! Der Doktor kam, ließ ihm zur Ader – was weiß ich! Genug haben sie den alten Mann gequält. Aus dem Bett ist er nicht mehr gekommen, aber das Warten auf dich hörte auf, denn er glaubte, du seist da. Sehen konnte er nicht mehr recht; so sprach er denn immer mit dir. Was hat er dir in den letzten Tagen nicht alles erzählt! Er wollte dich unterhalten: ›Rosa – Kind‹, sagte er, ›du langweilst dich. Hör, wie ich noch beim Theater war‹, dann kamen seine gottlosen Theatergeschichten. Dabei wurde ihm das Sprechen schwer. In seiner Brust kochte es nur so. Heute vor acht Tagen lag er den Tag über wie in einer Ohnmacht. Der Doktor sagte, es geht zu Ende. Um zehn Uhr regte er sich, verlangte zu trinken, fragte: ›Wo ist Rosa?‹ – ›Das ist sie ja‹, sagte ich; was sollte ich denn sagen? – ›So – so‹, antwortete er und erzählte wieder etwas; ich hab es nicht verstanden, seine Stimme war so schwach. Wie er mit der Geschichte zu Ende ist, sagte er: ›Kind, warum lachst du nicht?‹ – ›Sie lacht ja‹, sagte ich. ›Nein – nein!‹ jammerte er. ›Sie lacht nicht; sie kennt die Geschichte schon!‹ Das waren seine letzten Worte. Nachher lag er still da und seufzte, bis der Tod kam. Recht anständig haben wir ihn bestattet, die Leute aus der Stadt waren alle dabei. Dir schrieb ich von alldem nichts. Ich dachte mir, du hältst soviel Not auf einmal nicht aus. Ach Gott! So jung und soviel Bitteres erleben zu müssen.«
Rosa, die ihr Gesicht in die Kissen gedrückt hatte, richtete sich auf und sagte: »Ja, sehr viel Bitteres. Du hast das Kind nicht gekannt. Du weißt nicht, wie es mich liebte, mich kannte, wie es nur bei mir sein wollte.«
Während Rosa von ihrem Kinde erzählte, nahm Agnes eine strenge Miene an. Sie hielt den Tod dieses Kindes für kein Unglück. »Schlaf, Kind«, unterbrach sie Rosas Bericht. »Wir werden alle unsere Kräfte nötig haben.«
Am Vormittage des folgenden Tages saß Rosa, wie sie es liebte, im Garten auf der Schaukelbank und betrachtete die sonnenbeschienenen Narzissenbeete. Am geöffneten Fenster des Wohnzimmers saßen Frau Böhk und Agnes, steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Ab und zu drang ein lauter gesprochenes Wort bis zu Rosa – eine Zahl oder Frau Böhks mit süßer Stimme abgegebener Protest. »Nein, Schwester, nein. Ich hab’s so wohlfeil wie möglich eingerichtet.« – »Sie berechnen sich«, dachte Rosa.
Jetzt erzählte Agnes etwas, nickte mit dem Kopfe, wischte sich die Augen. »Wenn wir die Sachen auch verkaufen«, hörte Rosa sie sagen, »wieviel kann denn doch dabei herauskommen? Bei all diesen Krankheiten können wir Gott danken, dass wir nicht in Schulden hineingeraten sind. Nun – und wenn ich auch mit ihr hierherziehe – dort kann sie natürlich nicht bleiben –, auch dann reicht das Geld nicht. Ich habe nicht viel, sie hat wenig. Gott – Gott, wie soll das werden!«
»Wie ist das?« sagte sich Rosa, bog den Kopf zurück, blinzelte in die Sonne und überlegte: »Ich habe kein Geld, und Agnes will mich erhalten, so meint sie es doch? Ja, das darf aber nicht sein; natürlich nicht!… Was dann?« Die Bonne der Schank war die einzige Aushilfe, das war klar. »Morgen fahren wir heim«, beschloss Rosa. Ein Bedürfnis zu handeln ergriff sie. Sie ging in das Wohnzimmer und sagte: »Morgen, Agnes, fahren wir heim.«
»Morgen?« riefen die beiden Schwestern erstaunt aus.
»Ja, Agnes – es muss etwas geschehen.«
Da blickten sich die beiden Frauen verständnisinnig an und meinten: »Recht hat das Kind.«
Siebentes Kapitel
Rosa hatte geglaubt, die Rückkehr in ihre Heimatstadt würde sie ergreifen. Als sie jedoch bei einbrechender Dunkelheit durch die wohlbekannten Straßen fuhr, fühlte sie keinerlei Erregung. Alles war unverändert. Ein jedes stand auf seinem alten Platz, und Rosa schaute ruhig darauf hin, als wäre sie nie fort gewesen.
In der Herzschen Wohnung war eine dumpfe, heiße Luft eingeschlossen. Der Lehnstuhl am Tisch stand ein wenig schief, als hätte jemand ihn eben verlassen, auf dem Fensterbrett lag ein Taschentuch. Nur eins war ungewöhnlich. Im Flur und im Wohnzimmer lagen Tannennadeln über den Fußboden verstreut. Agnes hatte vergessen, sie nach der Leichenfeier fortzukehren, nun verbreiteten sie einen scharfen Duft, der Rosa mit Unbehagen erfüllte. Sie ging in ihr Zimmer hinüber. Auf dem Tisch, dem Bett, dem Rosenstock am Fenster lag Staub; der traute Raum schaute sie heute so tot und nichtssagend an und machte sie traurig; es war jedoch keine Traurigkeit, die uns weinen lässt, sondern ein missmutiges, ödes sich in sich selbst Verkriechen. Agnes war viel gerührter. Mit feuchten Augen sah sie Rosa an und klagte: »Ach Kind, wenn ich denke, dass du wieder hier bist und dass dein Papa das nicht mehr erlebt! Wie hübsch hätten wir drei wieder beieinander gelebt. Nun ist alles aus!«
»Ach ja!« erwiderte Rosa, aber der Schmerz um ein anderes Gut war noch zu mächtig in ihr, als dass sie um die stillen Tage der Vergangenheit trauern konnte.
Denselben Abend noch schrieb Rosa an Fräulein Schank und bat sie, ihr beizustehen. Fräulein Schank antwortete, sie wolle sich nach etwas Passendem umschauen und es Rosa dann melden.
Rosa wartete geduldig mehrere Tage. Eines Abends ging sie zum Friedhof hinaus, um das Grab ihres Vaters zu besuchen. Die Stadt hatte das bunte, lustige Aussehen der Sommerabende. In der Lindenallee, die zum Friedhof führte, begegnete Rosa vielen Menschen, die langsam mit bestaubten Schuhen, die Hände voller Feldblumen, heimzogen. Auch das Ehepaar Toddels ging an Rosa vorüber. Sally trug ein helles Sommerkleid und einen rosaseidnen Hut. Sie schielte zu Rosa hinüber und drängte sich schüchtern an ihren Mann heran, als fürchtete sie sich. Dieser wusste nicht recht, was er tun sollte, und küsste flüchtig und linkisch den rosaseidnen Hut.
Auf dem Friedhof war es so still, dass man die Schritte der wenigen Besucher deutlich auf dem Kies knirschen hörte. Über dem Grabe des Ballettänzers erhob sich ein schwarzes Kreuz, und viele Astern blühten dort. Nachdenklich stand Rosa davor. Endlich kniete sie nieder und betete; sie konnte aber nicht weinen, und das missfiel ihr. Hatte sie denn ihren Vater nicht geliebt? Wie sie jedoch so vor dem Grabhügel kniete, ergriff sie ein tiefes Mitleid ihrer selbst, sie beugte ihre Stirn in die Astern hinein und weinte bitterlich über sich selbst. –
Endlich eines Tages beschied Fräulein Schank Rosa zu sich. Rosa fand sich pünktlich ein. Fräulein Schank hatte soeben zu Mittag gegessen und eilte ihrer früheren Schülerin mit roter Nase und gerötetem Kinn entgegen.
»Guten Tag. Komm, bitte, hier herein«, sagte sie hastig und aufgeregt und führte Rosa in das Wohnzimmer.
In einer Ecke dieses Zimmers saß auf einem geräumigen Lehnsessel Fräulein Schanks Mutter, eine sehr alte, gelähmte Frau. Mit trüben gelben Augen starrte sie vor sich hin und verzog die Unterlippe, was ihrem Gesicht einen bösen, höhnischen Ausdruck verlieh.
»Rosa Herz, Mutter«, meldete Fräulein Schank. »Nimm Platz, Rosa«, fuhr sie in strengem Gouvernantenton fort, ihre gelblichen Wangen wurden jedoch ganz rot, und sie wollte die Unterredung durch eine zwecklose Geschäftigkeit noch hinausschieben. Das Erscheinen ihrer früheren Schülerin machte sie verlegen. Statt der durchtriebenen Rosa stand eine Frau vor ihr, die weder zerknirscht noch demütig aussah, sondern nur ernst und sehr schön, mit ihrer vollen Gestalt im schwarzen Kleide, mit den leuchtendroten Lippen im bleichen Gesicht und den feuchten großen Augen, die tiefer in das Leben hineingeschaut hatten als Fräulein Schank – trotz ihrer dreißig Jahre keuscher Schulweisheit.
»So – so! Du sitzt schon? Ich bin auch da«, sagte sie und setzte sich gerade auf ihrem Stuhl; dabei versuchte sie die betrübte, missbilligende Miene anzunehmen, die sie aufzusetzen pflegte, wenn eine Schülerin »wieder nicht präpariert« war; sie gelang ihr jedoch nicht. Mit ihren spitzen roten Bäckchen sah Fräulein Schank so befangen und hilflos aus, dass Rosa sich fragte: Was hat sie nur?
»Du siehst angegriffen aus«, begann Fräulein Schank und strich sich ihr Bandeau glatt. »Nicht wahr, Mutter, die Rosa sieht angegriffen aus?«
»Ja – ja«, erwiderte die Alte, »das ist die Streber.«
»Rosa Herz, Mutter – Herz –« verbesserte Fräulein Schank, die wieder ihre scharfe Art fand.
»Gute Tochter«, entgegnete die Alte und verzog höhnisch die Unterlippe, »ich weiß ja, dass der Streber weglief. Als ob ich das nicht wüsste!«
Fräulein Schank zuckte die Achseln, sie wollte ihre Mutter lieber gar nicht beachten.
»Um auf unser Geschäft zu kommen«, wandte sie sich an Rosa, »so habe ich eine Stelle für dich. Sie ist aber weit von hier – in Moskau, und du müsstest gleich abreisen.«
»Ja – Fräulein Schank, ich danke Ihnen sehr.«
»Und der Streber schreibt gar nicht mehr?« warf die Alte ein und neigte ihr schiefes, höhnisches Gesicht auf die Schulter.
»Die Bedingungen sind gut«, fuhr Fräulein Schank fort. »500 Rubel Gehalt und das Reisegeld. Zwei Kinder sind da. Ein vornehmes, reiches Haus. Ich glaube, es dürfte dir konvenieren?«
»Gewiss! Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Wird denn der Kerl bis nach Russland gelaufen sein?« rief die alte Schank dazwischen.
»Ich hoffe«, schloss Fräulein Schank mit klagender Stimme, »du wirst dich dort einleben.« Tränen traten ihr in die Augen, und sie umarmte Rosa. »Gott behüte dich! Ich habe getan, was ich konnte.«
Als Rosa der alten Schank die Hand küssen wollte, hielt diese sie fest. »Adieu, liebe Streber, machen Sie sich nichts daraus, dass er Ihnen durchgegangen ist. Die Rosalie ließ auch so einer sitzen. Wir warten auf den Kerl heute noch. Wie heißt er doch – Rosalie? – Deiner? Du musst das wissen.«
»Mutter!« fuhr Fräulein Schank gereizt auf, »Rosa Herz ist’s – Rosa Herz.«
»Ach Gute! Ich weiß wohl, was ich sage. Ich kenne eure schmutzigen Geschichten ganz genau, nur der Name ist mir entfallen. Du hast aber deine Heimlichkeiten; das kenn ich schon!«
Somit war es entschieden, Rosa reiste ab. Weinend packte Agnes die Koffer. Um den Zug zu erreichen, musste Rosa um neun Uhr abends die Stadt verlassen. Der Postwagen hielt vor der Türe, und der Hausknecht band die Koffer auf. Agnes nahm Rosa noch einmal in die Arme und flüsterte ihr gute Lehren ins Ohr: »– und dann, Kind, nimm dich in acht. Die Russen sind gottlose Leute, und du weißt, wie hübsch du bist. Warte, bis einer dich recht lieb hat und bis du ihn auch liebhaben kannst, dann heirate ihn. Aber warte; glaube mir, Kind, das ist besser.«
»Ja, Agnes, das ist besser.«
Der Gedanke, sie könnte noch einmal jemand recht liebhaben, machte dieses liebesdurstige Frauenherz für einen Augenblick ganz warm, und Rosa lächelte.
Als sie aber im Wagen saß und durch die Stadt fuhr, weinte sie doch. Sie beugte sich vor, um noch einen Blick auf das Stück Leben zu werfen, mit dem sie nun vollends abschloss.
Über dem Rathaus hing der Mond. Der Marktplatz war so hell beschienen, dass man die Pflastersteine hätte zählen können. An den Häusern entlang trippelte eine zierliche Gestalt mit einem breitrandigen gelben Strohhut. Sie machte einige Schritte und schaute sich um, ging weiter und schaute sich wieder um. War das nicht Marianne Schulz? Ja! Und ihr auf dem Fuß folgte breitschultrig und behäbig Herweg Kollhardt.
ENDE
Wellen
Vous êtes tous les deux ténébreux et discrets:
Homme, nul n’a sondé le fond de tes abîmes,
O mer, nul ne connaît tes richesses intimes,
Tant vous êtes jaloux de garder vos secrets.
Baudelaire
Erstes Kapitel
Die Generalin von Palikow und Fräulein Malwine Bork, ihre langjährige Gesellschafterin und Freundin, kamen in das Wohnzimmer. Sie wollten sich ein wenig erholen. Die Generalin setzte sich auf das Sofa, das frisch mit einem blanken, schwarz und roten Kattun bezogen war. Sie war sehr erhitzt und löste die Haubenbänder unterm Kinn. Das lila Sommerkleid knisterte leicht, die weißen Haarkuchen an den Schläfen waren verschoben und sie atmete stark. Sie schwieg eine Weile und schaute mit den ein wenig hervorstehenden grellblauen Augen kritisch im Zimmer umher. Das Zimmer war weiß getüncht, wenig schwere Möbel standen an den Wänden umher und über die Bretter des Fußbodens war Sand gestreut, der in der Abendsonne glitzerte. Es roch hier nach Kalk und Seemoos.
»Hart«, sagte die Generalin und legte ihre Hand auf das Sofa.
Fräulein Bork neigte den Kopf mit dem leicht ergrauten Haar auf die linke Schulter, blickte schief durch die Gläser ihres Kneifers auf die Generalin, und das bräunliche Gesicht, das aussah wie das Gesicht eines klugen älteren Herrn, lächelte ein nachdenkliches, verzeihendes Lächeln. »Das Sofa«, sagte sie, »natürlich, aber man kann es nicht anders verlangen. Für die Verhältnisse ist es doch sehr gut.«
»Liebe Malwine«, meinte die Generalin, »Sie haben die Angewohnheit, alles gegen mich zu verteidigen. Ich greife das Sofa gar nicht an, ich sage nur, es ist hart, das wird man doch noch dürfen.«
Fräulein Bork erwiderte darauf nichts, sie lächelte ihr verzeihendes Lächeln und schaute schief durch ihren Kneifer jetzt zum Fenster hinaus auf den kleinen Garten, der davor lag. Salat und Kohl wuchsen dort recht kümmerlich, Sonnenblumen standen da mit großen schwarzen Herzen und über alledem lag ein leichter blonder Staubschleier. Dahinter der Strand grell orange in der Abendsonne, endlich das Meer undeutlich von all dem unruhigen Glanze, der auf ihm schwamm, von den zwei regelmäßigen weißen Strichen der Brandungswellen umsäumt. Und ein Rauschen kam herüber eintönig, wie von einem schläfrigen Taktstock geleitet.
Die Generalin hatte den Bullenkrug für den Sommer gemietet, um hier an der See ihre Familie um sich zu versammeln. Vor drei Tagen war sie mit Fräulein Bork, Frau Klinke, der Mamsell,1 und Ernestine, dem kleinen Dienstmädchen, hier angelangt, um alles einzurichten. Es erforderte Arbeit und Nachdenken genug, für alle diese Menschen Platz zu schaffen und nicht nur Platz, »denn«, pflegte die Generalin zu sagen, »ich kenne meine Kinder, bei allem, was ich gebe, sind sie kritisch wie ein Theaterpublikum.« Heute nun war die Tochter der Generalin, die Baronin von Buttlär, mit den Kindern, den beiden eben erwachsenen Mädchen Lolo und Nini und dem fünfzehnjährigen Wedig, angelangt. Der Baron Buttlär sollte nachkommen, sobald die Heuernte beendet war, und Lolos Bräutigam Hilmar von dem Hamm, Leutnant bei den Braunschweiger Husaren, wurde auch erwartet.
»Werden sie auch heute Abend alle satt werden?« begann die Generalin wieder. »Die Reise macht hungrig.« – »Ich denke«, erwiderte Fräulein Bork, »da sind die Fische, die Kartoffeln, die Erdbeeren, und Wedig hat sein Beefsteak.«
»So, so«, meinte die Generalin, »übrigens der Junge wird es im Leben nicht leicht haben, wenn er immer sein Beefsteak haben muss.«
Fräulein Bork zuckte mit den Achseln und sagte entschuldigend: »Er ist so zart.« Aber das ärgerte die Generalin: »Gewiss, ich gönne ihm sein Beefsteak, Sie brauchen ihn nicht zu verteidigen. Nur finde ich, liebe Malwine, dass Sie keinen rechten Sinn haben für das, was man allgemeine Bemerkungen nennt.« Dann schwiegen die beiden Damen wieder.
Draußen von der Holzveranda tönte Lärm herüber, Tellergeklapper und hohe Stimmen. Ernestine deckte dort den Tisch für das Abendessen und stritt dabei mit Wedig. Auch Lolo und Nini waren erschienen, sie lehnten an der Holzbrüstung der Veranda schmal und schlank in ihren blauen Sommerkleidern. Der Seewind fuhr ihnen in das leichte rote Haar und ließ es hübsch um die Gesichter mit den fast krankhaft feinen Zügen flattern. Die Mädchen zogen ein wenig die Augenbrauen zusammen und schauten mit den blanken braunroten Augen unverwandt auf das Meer und öffneten die Lippen, als wollten sie lächeln, aber das große bewegte Leuchten vor ihnen machte sie schwindelig. Auch Wedig hatte sich nun zu ihnen gesellt und schaute auch schweigend hinaus. Das kränkliche Knabengesicht verzog sich, als täte all dieses Licht ihm weh.
»So«, sagte die Generalin drinnen zu Fräulein Bork, »das war ein angenehmer stiller Augenblick. Ich höre, meine Tochter kommt die Treppe herunter, nun kann es wieder losgehen.«
Frau von Buttlär hatte ein wenig geschlafen, trug ihren Morgenrock und hüllte sich fröstelnd in ein wollenes Tuch. Sie mochte früher das hübsche überzarte Gesicht ihrer Töchter gehabt haben, jetzt waren die Wangen eingefallen und die Haut leicht vergilbt. Aufgebraucht von Mutterschaft und Hausfrauentum war sie sich ihres Rechtes bewusst, kränklich zu sein und nicht mehr viel auf ihr Äußeres zu geben.
Man setzte sich auf der Veranda zur Abendmahlzeit nieder an den Tisch, über den das rote Abendlicht hinflutete und der Seewind an dem Tischtuch und den Servietten zerrte. Das machte die Gesellschaft schweigsam, so das Meer vor sich, war es, als sei man nicht allein, nicht unter sich.
»Ich habe mir das Meer größer gedacht«, erklärte Wedig endlich.
»Natürlich, mein Sohn«, meinte die Generalin. »Du willst wohl für dich ein Extra-Meer.«
Frau von Buttlär lächelte gerührt und sagte leise: »Er hat so viel Fantasie.« Fräulein Bork sah Wedig schief durch ihren Kneifer an und meinte: »An die Fantasie des Kindes reicht selbst das Weltmeer nicht hinan.«
Nun begann Frau von Buttlär mit ihrer Mutter ein Gespräch über Repenow, ihr Gut, über Dinge, die sie anzuordnen vergessen hatte, von Gemüsen, die eingemacht werden sollten, und Dienstboten, die unzuverlässig waren, lauter Sachen, die seltsam fremd und unpassend in das Rauschen des Meeres hineinklangen, dachte Lolo. Aber unten am Tisch war ein Streit entstanden zwischen Wedig und Ernestine. »Ernestine«, sagte Fräulein Bork streng, »wie oft habe ich es dir nicht gesagt, du darfst beim Servieren nicht sprechen. Oh! Cette enfant!«2 setzte sie hinzu und seufzte. Die Generalin lachte. »Ja, unsere Bork hat es mit Ernestines Erziehung schwer, denkt euch, heute Mittag entschließt sich das Mädchen zu baden. Sie geht ins Meer nackt wie ein Finger, am hellen Mittag.« – »Aber Mama!« flüsterte Frau von Buttlär, die Mädchen beugten sich auf ihre Teller nieder, während Wedig nachdenklich Ernestine nachschaute, die kichernd verschwand.
Das Abendlicht legte sich jetzt plötzlich ganz grellrot und unwahrscheinlich über den Tisch und Fräulein Bork schrie auf: »Seht doch!« Alle fuhren mit den Köpfen herum. An dem blassblauen Himmel standen riesige kupferrote Wolken und auf dem dunkelwerdenden Meer schwamm es wie große Stücke rotglänzenden Metalls, während die am Ufer zergehenden Wellen den Sand wie mit rosa Musselintüchern überdeckten. Wedig blinzelte mit den roten Wimpern und verzog wieder sein Gesicht, als schmerzte es ihn. »Das ist allerdings rot«, meinte er. Die Generalin jedoch war unzufrieden: »Sie haben mich erschreckt, Malwine, Sie haben eine Art, auf Naturschönheiten aufmerksam zu machen, dass man jedes Mal zusammenfährt und glaubt, eine Wespe sitze einem irgendwo im Gesicht.«
Die Mahlzeit war zu Ende, die Mädchen und Wedig stellten sich an die Verandabrüstung, um auf das Meer zu starren. Frau von Buttlär hüllte sich fester in ihr Tuch und sprach mit leiser, besorgter Stimme von ihren häuslichen Angelegenheiten.
Die gewaltsamen Farben am Himmel erloschen jäh. Die farblose Durchsichtigkeit der Sommerdämmerung legte sich über das Land und das Meer, jetzt lichtlos, schien plötzlich unendlich groß und fremd. Auch das Rauschen war nicht mehr so geordnet eintönig und taktmäßig; es war, als ließen sich die einzelnen Wellenstimmen unterscheiden, wie sie einander riefen und sich in das Wort fielen. Klein und dunkel hockten die Fischerhäuser auf den fahlen Dünen, hie und da erwachte in ihnen ein gelbes Lichtpünktchen, das kurzsichtig in die aufsteigende Nacht hineinblinzelte. Auf der Veranda war es still geworden. Das seltsame Gefühl, ganz winzig inmitten einer Unendlichkeit zu stehen, gab einem jeden für einen Augenblick einen leichten Schwindel und ließ ihn stillehalten, wie Menschen, die zu fallen fürchten.
»Wer wohnt denn dort?« begann Frau von Buttlär endlich und wies auf eines der Lichtpünktchen am Strande.
»Das dort«, erwiderte die Generalin, »das ist das Haus des Strandwächters. Eine verwachsene Exzellenz hat sich bei ihm eingemietet. Du kennst ihn auch, den Geheimrat Knospelius, er ist bei der Reichsbank etwas, er unterschreibt, glaube ich, das Papiergeld.«
Ja, Frau von Buttlär erinnerte sich seiner: »So ein Kleiner mit einem Buckel. Recht unheimlich.«
»Aber so interessant«, meinte Fräulein Bork.
»Und die anderen Häuser?« fragte Frau von Buttlär weiter.
»Das sind Fischerhäuser«, erklärte Fräulein Bork, »das größte dort ist das Anwesen des Fischers Wardein und dort, ja, dort wohnt sie doch.«
»Sie?« fragte Frau von Buttlär, beunruhigt davon, dass Fräulein Bork ihre Stimme so geheimnisvoll dämpfte.
»Nun ja«, flüsterte Fräulein Bork, »sie, die Gräfin Doralice, Doralice Köhne-Jasky, die wohnt dort mit – nun ja, sagen wir mit ihrem Manne.« Frau von Buttlär verstand noch nicht ganz.
»Doralice Köhne, die Frau des Gesandten, das ist doch die, die mit dem Maler – die wohnt hier, das ist ja aber schrecklich, man kennt sich doch.«
Doch die Generalin ärgerte sich: »Was ist dabei Schreckliches, man hat sich gekannt, man kennt sich nicht mehr. Der Strand ist breit genug, um aneinander vorüberzugehen, eine fremde Frau Grill, nichts weiter. Ihr Maler heißt jawohl Hans Grill.«
»Sind sie wenigstens verheiratet?« klagte Frau von Buttlär.
»Ja, sie sagen, ich weiß es nicht«, meinte die Generalin, »das ist auch gleich. Sie wird das Meer nicht unrein machen, wenn sie darin badet. Es ist kein Grund, liebe Bella, ein Gesicht zu machen, als seiest du und deine Kinder nun verloren.«
»Und er ist ein ganz gewöhnlicher Mensch«, jammerte Frau von Buttlär weiter.
»Ja«, sagte Fräulein Bork, sie sprach noch immer leise, aber ihre Stimme nahm einen zärtlichen, feierlichen Klang an, als rezitiere sie ein Gedicht: »es ist traurig und doch wieder in seiner Art schön, wie der alte Graf das Talent des armen Schulmeistersohnes entdeckt, er ihn ausbilden lässt, wie er ihn auf das Schloss beruft, damit er die junge Gräfin malt, ja und dort – müssen sie sich eben lieben, was können sie dafür. Aber sie wollen nicht die Heimlichkeit und den Betrug. Sie treten zusammen vor den alten Grafen hin und sagen: Wir lieben uns, wir können nicht anders, gib uns frei, und er, der edle Greis …«
»Der alte Narr«, unterbrach sie die Generalin. »Wer sagt Ihnen denn, dass es so gewesen ist, wer ist denn dabei gewesen? Wahrscheinlich sind nicht die beiden zu dem Alten gekommen, sondern der Alte ist zu den beiden hereingekommen, das sieht denn anders aus. Köhne war immer ein Narr. Wenn man dreißig Jahre älter als seine Frau ist, lässt man seine Frau nicht malen und spielt man nicht den Kunstfreund. Und diese Doralice, ich habe ihre Mutter gekannt, eine dumme Gans, die nichts zu tun hatte im Leben, als Migräne zu haben und zu sagen: ›Meine Doralice ist so eigentümlich!‹ Ja, eigentümlich ist sie geworden, gleichviel, da ist nichts, um die Augen gen Himmel zu schlagen und zu sagen: Wie schön! Lassen Sie die Grill Grill sein, liebe Malwine, wenn Sie sie mit Ihren Fantasien zur Heldin des Strandes machen, verdrehen Sie den Kindern den Kopf. Ernestine läuft ohnehin alle Augenblicke zum Strande hinunter, um die fortgelaufene Gräfin zu sehen, das verbitte ich mir. Seien Sie so gut und halten Sie mit Ihrer Poesie an sich.«
»Schrecklich, schrecklich«, seufzte Frau von Buttlär. Fräulein Bork aber schien das Schelten der Generalin nicht zu hören, verträumt schaute sie in die Dämmerung hinein, sah, wie die Dämmerung sich sachte aufhellte, der Mond war aufgegangen, Silber mischte sich in das Dunkel der Wellen und der Strand lag hell beleuchtet da.
»Da sind sie!« schrie Fräulein Bork auf.
Erschrocken fuhren alle herum. Am Rande der Düne zeichneten sich gegen den hellen Himmel deutlich die Figuren eines großen Mannes und einer Frau ganz nahe beieinander ab. »Dort stehen sie jeden Abend«, flüsterte Fräulein Bork geheimnisvoll.
Frau von Buttlär starrte angstvoll zu dem Paare auf der Düne hinüber, dann rief sie erregt: »Kinder, ihr seid noch da, warum geht ihr nicht schlafen? Ihr seid müde, nein, nein, geht, gute Nacht«, und beruhigte sich erst, als die Kinder fort waren. Da sah sie sich noch einmal das Paar an da drüben, das jetzt eng aneinander geschmiegt den Strand entlang ging, seufzte tief und sagte kummervoll:
»Das ist allerdings unerwartet, unerwartet fatal. Wenn ich mich auf etwas freue, kommt immer so etwas dazwischen. Schon der Kinder wegen ist es mir unangenehm.«