Herr Herz schöpfte die Suppe vor und zerlegte sehr gewandt den Braten, dabei war er eifrig um die Unterhaltung bemüht. »Heute«, sagte er und legte Rosa ein Stück Braten auf den Teller, »während ich draußen im Hof Unterricht erteilte, sah ich eine verdeckte Kutsche den Weg hinabfahren. Du hast wohl nichts gehört?«
»Nein. Jemand vom Lande?« bemerkte Rosa.
Herr Herz schüttelte ungläubig den Kopf: »Um diese Zeit! Weiß es Gott! Ich muss später zu Klappekahl hinüber, der wird es wissen.«
Rosa war schweigsam. Ihr Vater bemerkte das wohl und fragte nach der Veranlassung, aber Rosa erwiderte, es sei nichts; sie dächte über die Kutsche nach. »Ja, merkwürdig!« plauderte Herr Herz fort. »Wie ich aus der Schule komme, begegnet mir Lanin.« Herr Herz schaute seine Tochter erwartungsvoll an, als müsste diese Nachricht Eindruck auf sie machen; Rosa jedoch bemerkte nur trocken: »So! Sprach er von seiner dummen Tochter?«
»Dummen Tochter! Rosa, wie du sprichst!« Herr Herz lachte, als wäre das ein guter Witz gewesen. »Nein«, fuhr er dann fort, »er teilte mir aber mit, dass nächstens ein junger Mensch, ein Verwandter von ihm, in das Geschäft kommt.«
»Noch einer? Hat er denn mit dem Korinthen-Konrad nicht genug?«
»Mit diesem hat es seine Bewandtnis. Der junge Herr scheint ein wenig wild gewesen zu sein…«
»Ah, was hat er getan?«
»Gott, in der Jugend, da kommt manches vor! Genug, er soll hier gebessert werden. Als ich vorhin dort am Fenster stand, dachte ich darüber nach, ob Lanin bei der ganzen Geschichte nicht etwas für seine Tochter im Sinn hat, für die Sally.«
»Die!« rief Rosa und lachte, weil jedem jungen Mädchen jeder Heiratsplan außer ihrem eigenen lächerlich erscheint. »Du vergisst, Vater, dass Sally schielt.«
»Pah!« meinte Herr Herz, »ich habe manche Schönheit gekannt, die schielte. Viele lieben das sogar.«
»Es wäre ein Glück für die arme Sally; aber ich zweifle…« sagte Rosa und hob die Tafel auf. Während sie voran in das Wohngemach schritt, wandte sie sich in der Türe um und fragte mit einem gleichgültigen Zucken der Augenbrauen: »Vater! Wie soll denn dieser neue Korinthen-Konrad heißen?«
»Ambrosius Tellerat. Er ist ein Brudersohn von ihr – der Lanin. Die Frau Lanin ist eine geborene Tellerat, wie du weißt.«
»Ach ja!«
Als Vater und Tochter im Wohngemach auf den breiten Sesseln nebeneinander saßen, bemerkte Rosa nachdenklich: »Ich glaube nicht, dass dieser – Ambrosius sie nimmt.« – »Ja, ja«, erwiderte Herr Herz darauf, ohne dass es schien, als dächte er sich etwas dabei. Bequem rückte er seinen Kopf auf der Lehne des Sessels zurecht und schloss die Augen zu seinem Nachmittagsschlummer. Die Sonne badete das kleine Gesicht des alten Mannes in gelbem Feuer, entzündete in den greisen Augenbrauen leuchtende Pünktchen und wärmte die eingefallenen Wangen, dass sie zu glühen begannen wie die Wangen eines schlafenden Kindes. Die Fliegen trieben im Gemach ihr lautes Wesen und stießen ärgerlich summend gegen die Fensterscheiben. Lange Staubsäulen zogen ihre trüben Bänder durch das Zimmer.
Rosa lag in ihrem Sessel zurückgelehnt da, ganz überdeckt von stetigen Lichtfunken, die der Sonnenstrahl in ihrem Haar, ihren Augenbrauen und Wimpern erweckte. Die Augen halb geschlossen, träumte sie ihren altgewohnten Traum.
Er war mit ihr herangewachsen. Jeden Morgen erwachte er mit ihr, um ihr neugestärkt zu folgen. Er ging mit ihr in die Schule, mischte sich in alles, was sie vornahm. In der Nacht kam er oft, mit dem seltsamen Narrentand unserer Träume angetan. Er war immer zur Hand! Wovon er sprach? Das ist das schwer zu lösende Geheimnis liebender Herzen, die nie geliebt, opfermutiger Seelen, die nie ein Opfer gebracht haben. Eines nur wiederholte er immer wieder: »Bald, bald muss etwas geschehen, muss etwas erlebt werden. Bald, sonst versäumst du’s.«
Nachdem Rosa eine Weile ihrem treuen Gefährten zugehört hatte, seufzte sie, erhob sich und ergriff Hut und Mantel, um auszugehn.
Die Straße war leer, kein Lufthauch regte sich. Gerüche von Fleisch und Gemüse strömten aus den geöffneten Fenstern. Papierfetzen und alte Schuhsohlen lagen auf dem Pflaster und sonnten sich.
Rosa ging zum Marktplatz hinab. Die Hände in die Taschen ihres Mantels gesteckt, wiegte sie sich lässig hin und her und blickte auf die Häuser und in die Fenster, mit der gleichgültigen Zerstreutheit, die wir gewohnten Dingen entgegenzutragen pflegen, wenn unsere Blicke an ihnen haften, ohne sie zu sehen.
Am Ausgang der Straße und Eingang des Marktplatzes lag das Geschäft »Firma Lanin und –«, Verkauf von Kolonialwaren jeder Art. Das Geschäft Lanin war von größter Wichtigkeit für das Städtchen; lange schon war es die Hauptquelle für die Bedürfnisse der Haushaltung, und mehrere Generationen hatten den Namen Lanin zugleich mit den Worten Zucker, Rosinen und so weiter aussprechen gelernt. Herr Lanin saß im Rat, wie sein Vater und Großvater vor ihm dort gesessen. Herr Lanin spielte eine bedeutende Rolle bei der Feuerwehr, der Armenpflege und Sparkasse. Herr Lanin war eine so große Persönlichkeit, dass die bescheideneren Bürger der Stadt nicht zu protestieren wagten, wenn die Firma ihnen doppelte Rechnungen machte oder schimmeligen Käse verabfolgte. »Firma Lanin und –« stand über der Türe. Dieses »und« war eine Huldigung für die Tochter der Firma, für Fräulein Sally. Der künftige Schwiegersohn sollte Kompagnon werden; das war sicher; so legte die ganze Stadt dieses »und –« aus; bis Fräulein Sally aber ihre Wahl getroffen, musste das »und –« allein stehen bleiben und warten.
Die Firma war sich ihres Wertes viel zu sehr bewusst, um auf äußeren Glanz etwas zu geben; dieserhalb war das Geschäftslokal ein enges, finsteres, unreinliches Zimmer. Das abgeriebene, von der Sonne gebleichte Schild vor der Türe zeigte einen entsetzlichen Neger, der einen weißen Zuckerhut in den Armen hielt.
Rosa öffnete die niedrige Glastüre, die in das Laninsche Verkaufslokal führte, und setzte dabei eine heisere Glocke in Bewegung. Ein starker Geruch von Orangen, Fisch, feuchtem Stroh schlug ihr entgegen. Fässer und Kisten türmten sich bis zur Decke auf; schwarz angestrichene Holzleisten liefen an den Wänden hin und trugen mächtige Pakete, in blaues, gelbes, graues Papier gehüllt, halb von Dämmerung und Staub verborgen. Hinter dem Ladentisch stand Konrad Lurch, der Diener der Firma. Sein langes, sehr schmales Gesicht war über und über mit Sommersprossen bedeckt. Seine Augen hatten die matte, gelbliche Farbe des Gesichtes und schienen mit diesem ineinandergeflossen. Er trug einen weiten Rock von glänzendem Sommerstoff, wie schwarzes Packpapier, und rotgelbe Beinkleider, die in der Farbe mit dem Papier Ähnlichkeit hatten, in das man Stearinkerzen packt – acht auf ein Pfund.
»Ah, Fräulein Rosa!« sagte er leise, als Rosa eintrat.
»Guten Tag, Herr Lurch«, erwiderte sie. »Wie geht es Ihnen? Ist Sally zu Hause?«
Lurch blickte nicht auf und kaute an einem Bindfaden, der von der an der Decke befestigten Rolle niederhing. »Guten Tag, Fräulein Rosa«, sagte er, »mir geht es gut; ich hoffe, Ihnen gleichfalls, Fräulein Rosa? Was Fräulein Sally betrifft, so war sie die ganze Zeit über hier. Sie sehen noch dort auf der Reiskiste das Buch, in dem sie las. Plötzlich ging sie hinaus; warum, weiß ich Ihnen nicht zu sagen; ich vermute, sie wird gleich wieder hier sein.«
»Also Sie meinen, ich soll hier warten? Wie?«
»Ja, Fräulein Rosa, das wird das beste sein. Sie setzen sich unterdessen vielleicht dort auf die Heringstonne?«
»Ich danke, wenn Sie keinen besseren Platz haben. Ich sitze nicht gern auf Heringstonnen.«
»Ja so! Natürlich! Es ist auch nicht angenehm, obgleich das ein seltener Artikel ist! Schottische Fett- oder Königs-Heringe. Aber dort die Lichtkiste? Sie ist vielleicht nicht ganz rein? Nehmen Sie mein Taschentuch und setzen Sie sich darauf.«
Lurch bot Rosa ein ganz klein zusammengeballtes Tuch an. Sie lehnte es jedoch mit dem schrillen, kurzen Lachen siebzehnjähriger Mädchen ab und setzte sich auf die Lichtkiste.
»Sollten Sie nicht einige Korinthen nehmen, Fräulein Rosa?« begann Lurch nach einer Pause.
»Nein, ich mag mir nicht immer von Ihnen Korinthen schenken lassen.«
»Oh! Fräulein Rosa – Korinthen, Korinthen –« Lurch war sichtlich verlegen. »Korinthen sind doch nur ganz kleine Rosinen.«
»Das macht nichts«, versetzte Rosa energisch; dann fügte sie sanfter hinzu: »Herr Lurch! Gestatten Sie es nicht, dass wir Sie Korinthen-Konrad nennen?«
»Gewiss, Fräulein Rosa! Wenn der Name Ihnen gefällt; ich hoffe, er ist keine Verhöhnung meines Berufes; ich denke, er ist es nicht?«
»Durchaus nicht! Nur der Korinthen wegen, wissen Sie.«
»Oh, dann – warum nicht?« Ja, Lurch schien der Name sogar zu gefallen, denn ein öliges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesichte.
Endlich trat Sally Lanin durch eine Hintertüre des Ladens ein.
»Ach Rosa! Liebes Herz! Du bist es!« rief sie in allerliebster Freude aus, hüpfte auf Rosa zu, küsste sie auf die Lippen, setzte sich mit einer flinken, schmiegsamen Beweglichkeit auf die Kiste und schlang ihren Arm um Rosas Taille. »Wie gut, dass du kamst!«
Sally Lanin trauerte um einen geliebten Onkel und trug daher ein schwarzes Kleid und eine schwarze Halskrause. Auf den Schulterblättern saßen zwei weiße Kalkflecken, und auch sonst war an dem Kleide viel von dem Staub der Kisten hängen geblieben, was dem Ganzen ein etwas schäbiges Aussehen verlieh. Eigentlich hübsch war Fräulein Lanin nicht; einige kleine Fehler störten den Eindruck des Gesichtes; so schielten die schönen, vanillebraunen Pupillen der Augen ein wenig, und die Nase war oft an der Spitze rot.
Fräulein Lanin legte ihr Köpfchen auf die Schulter ihrer Freundin und seufzte: »Liebste Rosa! Ich habe dir viel zu erzählen.«
»Wirklich? Erzähl doch!« drängte Rosa mit großer Teilnahme. »Ich habe wohl davon gehört – aber…«
»Ja, ja –« sagte Sally bewegt. Dann rief sie träumerisch: »Lieber Lurch!«
»Fräulein Sally!« erwiderte dieser.
»Lieber Lurch! Geben Sie auf einen Augenblick die Büchse mit den trocknen Pflaumen her.«
»Ja, Fräulein Sally. Es ist jedoch nicht viel mehr darin.«
»Die trocknen Pflaumen, Lurch«, wiederholte Sally bestimmt.
»Gewiss, Fräulein Sally; warum auch nicht? Hier!« Und er hielt ihr eine hohe Büchse hin.
»Ja Rosa, du hast von uns gehört«, begann Fräulein Sally, ohne die Büchse anzusehen, in die sie ihre Hand tief versenkte.
»Der Vater sprach von euch, ich hörte aber nicht recht hin. Was ist es denn?« fragte Rosa.
Sally brachte jetzt eine Pflaume zum Vorschein, betrachtete sie und erwiderte dann: »Ein zweiter junger Mensch kommt ins Geschäft.« Dann steckte sie die Pflaume in den Mund.
»Ein Verwandter von dir?«
»Lieber Lurch«, unterbrach Sally ihre Freundin, »stellen Sie die Büchse her und gehen Sie ein wenig in den Hintergrund. Ich habe mit meiner Freundin zu sprechen.«
Lurch gehorchte und rief aus der Dunkelheit kläglich hervor: »Ist es so weit genug, Fräulein Sally?« – »Ja, Lurch! Ich danke. Siehst du, Rosa«, nahm sie das Gespräch wieder auf, »er ist ein schlechter junger Mensch.«
»Du meinst natürlich den Neuen«, schaltete Rosa ein.
»Ja, der Neue. Er hat Schulden gemacht. Er liebt eine Zigeunerin, oder Kunstreiterin, ich weiß es noch nicht genau. Nun wird der arme junge Mensch von der Geliebten getrennt und soll vergessen, soll sich bessern und das Geschäft erlernen. Sehr wüst soll er sein. Ob er sich bessern wird? Gott gebe es!«
»Wie alt ist er denn?«
»Zwanzig Jahre, sehr jung, nicht wahr? Die Person, die ihn verführt hat, weißt du, muss keine gute sein, und er vergisst sie wohl.«
»Wer kann das wissen!« meinte Rosa mit einem sehr verständigen Gesicht. »Die Frauen von der Bühne bestricken die Männer ganz seltsam.« Fräulein Lanin wollte das nicht wahrhaben und schüttelte ihren Kopf mit den vielen Löckchen, denn zwei Pflaumen in ihrem Munde hinderten sie am sprechen. »Weißt du noch«, sagte Rosa, »in dem Roman ›Anna-Liese, die Männerhasserin‹ ist’s auch eine Tänzerin, die den jungen Golo unglücklich macht.« Fräulein Sally schluckte heftig und breitete die Arme aus; sie wollte etwas sehr Wichtiges vorbringen. »Und«, fuhr Rosa eifrig fort, »wenn er ein Wüstling ist, dann wird das Leben hier ihm fade erscheinen.«
»Nein, mein Herz«, begann Sally, sobald die Pflaumen es gestatteten. »Nein, nein!« Und sich plötzlich unterbrechend, rief sie: »Lieber Lurch, können Sie etwas hören?«
»Ein wenig, Fräulein Sally«, verlautete die freundliche Stimme aus der Ecke. »Ich kann es nicht leugnen; ab und zu höre ich doch einiges.«
»Dann halten Sie sich die Ohren zu. Seien Sie so gut, ja?« – »Ohne weiteres, Fräulein Sally. Nur fürchte ich, wenn jemand käme und wollte etwas kaufen, so würde ich’s nicht hören.«
»Seien Sie unbesorgt! Ich werfe Sie dann mit einem Pflaumenkern.«
»Danke, Fräulein Sally. So, jetzt höre ich nichts mehr.«
»Nun denn«, nahm Sally ihre Erörterung wieder auf. »Du bedenkst nicht, liebe Rosa, dass das Familienleben, die Gesellschaft des Papa und dann, weißt du, der Umgang mit gebildeten, feinfühlenden Mädchen ihm guttun wird.«
»Meinst du?« warf Rosa zerstreut hin.
»Gewiss! So etwas verfehlt nie seinen Eindruck auf Männerherzen. Er sieht gut aus, sehr gut.« –
»So; braun?«
»Ja, goldbraunes Haar in Locken; große Augen.« Sally beschrieb mit dem Finger einen Kreis um ihr halbes Gesicht.
»In drei Tagen, denke ich, wird er hier sein. Dann lege ich die Trauer ab; es sind schon volle sechs Monate her, dass der arme Onkel starb. Papa sprach von einem Tanzabend. Du verstehst, um ihn zu zerstreuen. Ambrosius heißt er.«
»So hörte ich«, erwiderte Rosa und erhob sich, »begleitest du mich vielleicht?«
Nein, Sally mochte nicht spazierengehen, sie musste einen Roman zu Ende lesen, eine sehr spannende Erzählung: »Emmas Schmerz«. Sie fürchtete, ihre Heldin stehe im Begriff, sich das Leben zu nehmen. So – dann wollte Rosa allein gehen; es war zu warm im Zimmer. Sie küssten sich und standen noch einen Augenblick beieinander, dieses und jenes zu erörtern. Eine rote abendliche Sonne drang durch die trüben Fensterscheiben, blitzte auf den Blechbüchsen, erweckte in den Flaschen und Gläsern bunte Lichter, schlüpfte in die Ecken und Löcher, um farbige Punkte auf die staubigen Papiere zu streuen, suchte Lurch in seinem entlegenen Winkel auf und malte einen großen blau und roten Fleck auf seine bleiche Stirn.
»Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen, mein Herz« – dann lachten sie, wie junge Mädchen bei Abschied und Wiedersehen es zu tun pflegen – und Rosa ging hinaus.
Die drückende Schwüle war vorüber, und die Straßen belebten sich. Alte Herren mit breitrandigen Strohhüten standen mitten auf dem Marktplatz und disputierten laut miteinander. Aus den Fenstern beugten sich Mägde, um Teppiche auszustäuben. Auf den Treppen saßen Frauen ohne Hut und strickten. In langen Reihen zogen die Gymnasiasten, Arm in Arm, die Gasse entlang. Über all dem stand ein blassblauer Himmel von schmalen, rosenroten Wolken durchzogen. – Leicht und fröhlich ging Rosa dahin. Sie grüßte die Vorübergehenden mit verbindlichem Kopfnicken und lächelte dabei ihr stets bereites, ausgelassenes Lächeln. Das Gefühl, dass der Sommerabend auch ihr, wie allem rings um sie, gut ließ, stimmte sie heiter.
»Ich habe die Ehre!« Klappekahl war es. Er zog vor Rosa seinen hohen Strohhut und blieb stehen. »Schönes Wetter! Wie geht es dem Papa?« Ein süßes Lächeln, das er ganz besonders für Damen bereithielt, umspielte seinen langen Mund. Er trug einen weißen Sommeranzug, eine rote Nelke im Knopfloch und ein Stöckchen, mit dem er nachlässig an seine Beine schlug.
»Ich danke«, erwiderte Rosa, »ich ließ ihn beim Nachmittagsschlaf.«
»So, so! Und die Tochter treibt sich derweil ein wenig herum. Ha – ha – junges Blut. Sie werden aber mit jedem Tage hübscher, Rosette.« Neckend legte er seine Hand auf den Arm des Mädchens. »Ohne Scherz! Ich sagte noch gestern zu meiner Tochter: ›Rosette Herz ist zu hübsch für unser Nest; die gehört in eine Weltstadt.‹ Auf Ehre, das sagte ich.« Rosa errötete und meinte, sie käme gern in eine große Stadt. Der Apotheker glaubte das wohl; er nickte, drückte Rosa die Hand und ging weiter, um zwei Schritte davon den Dr. Holte anzuhalten und mit dem Kopfe nach Rosa hindeutend zu sagen: »Ein hübsches Mädchen, Doktor, was? Aber kokett, ich sage Ihnen, wenn die in eine große Stadt kommt – ich stehe für nichts! Guten Abend, Doktor!«
Vor Steinings Konditorei saß Herweg mit einigen Kameraden, sorgsam hinter mageren Oleanderbüschen verborgen. Als er Rosa erblickte, grüßte er, und sie nickte ernst zum grünen Laubgitter hinein. Kaum aber war sie weitergegangen, als sie Herwegs schweren Schritt hinter sich vernahm. Sie wusste, so musste es sein; so war es jeden Abend. Treulich folgte er ihr lange Stunden, zuweilen eine Schwenkung machend, um ihr zu begegnen und sie immer wieder zu grüßen. Das war der Ausdruck seiner Liebe.
Am morschen Geländer des Flussufers machte Rosa Halt. Herweg kam heran und lehnte neben ihr. Ein stetes Gemurmel sandte der Fluss empor. Im Strudel, den das Wasser hier bildete, schwammen bewegliche Lichtfetzen. Ein flaches, gelbes Land dehnte sich auf dem entgegengesetzten Ufer aus. Große Sandgruben lagen voll roten Lichtes, und hinter der Wellenlinie der niedrigen Sandhügel ging die Sonne groß und rot unter.
»Das ist schön, Rosa, nicht?« rief Herweg und deutete zur Sonne hinüber. Rosa nickte, die Blicke nachdenklich in den Glanz verloren. »Schauen Sie dort das Feld!« fuhr Herweg fort. »Es ist ganz rot. So rot habe ich’s noch nie gesehen.«
In der Tat! Ein grelles Purpurlicht badete das Land. Es schien zu beben und zu flackern. Dann ward es blasser und erlosch. Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden. Ein milderes Scheinen klomm den Himmel hinan, ein blasses, gewässertes Gold, wie an alten Meßgewändern. Eine Schar winziger Wölkchen flatterte in einem fast weißen Himmel, viele rosige Schleier, kleine Flügel, eine Schar ausgelassener Cherubim. Weiter oben schien der Himmel unermeßlich hoch und veilchenblau. Schweigend standen die beiden Kinder vor diesem Farbenwunder. »Rosa«, fragte Herweg endlich leise, in seinen guten Augen stand ein weicher, zärtlicher Glanz. »Rosa! Warum sagen Sie nichts? Gefällt es Ihnen nicht?«
»Doch«, meinte Rosa ernst.
»Nicht wahr?« begann Herweg wieder und griff nach Rosas Hand, »so etwas… Sie wissen, Rosa, wenn ich so etwas sehe, bin ich wie bekneipt!«
»Lassen Sie, Kollhardt«, sagte Rosa; dann setzte sie verständig hinzu: »Es war sehr poetisch.«
Herweg empfand das wohl. Er küsste Rosas Hand, als hätte sie das Schauspiel geschaffen, und flüsterte: »Rosa! Ich bin Ihnen wirklich gut.« Rosa musste erröten, und es trieb sie nach Hause.
Im Wohnzimmer war noch immer die bedrückende Glut der Mittagsstunden eingeschlossen. Rosa öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus, um in das langsame Herabdämmern auf die Häusergiebel hineinzugehen. Sie fühlte sich erregt, erwartungsvoll und dennoch missgelaunt. Er war schön gewesen, der große, leuchtende Abendhimmel, das seltsam stille Verglühen. Gewiss, sehr schön! Und doch – was war es? Sollte sie das glücklich machen? Konnte das etwas an der Nüchternheit ihres Lebens ändern? Sonnenuntergang – Gott ja, sehr gut; aber wenn sie es recht bedachte, fügte er nichts zum Leben hinzu. – Herweg hatte ihr gefallen, der gute Junge! Wie er sie angeblickt, wie stürmisch er ihr die Hand geküsst hatte: »Rosa, ich bin Ihnen wirklich gut«, das klang rührend.
Die Straße unten war schon ganz in das Helldunkel der Sommernacht gehüllt. Vereinzelte Spaziergänger schritten langsam über das Pflaster, den Hut in der Hand, ein Lied trällernd oder eine Weise vor sich hinpfeifend. Waren es zwei oder mehr, so klangen abgerissene Unterhaltungen zu Rosa empor – über das Wetter – Bruchteile einer Erzählung. ruhige, gleichmäßig berichtende Stimmen. Aus den geöffneten Fenstern schollen Laute: ein Schelten – Lachen – Gähnen – Tellergeklapper – ein vernehmliches »Gute Nacht«.
Das ganze innerste Hausleben drang in die Sommernacht hinaus und ließ sich unter dem Sternhimmel ebenso behaglich gehen wie unter der niedrigen Zimmerdecke. Hin und wieder raschelte ein niederfallender Tautropfen im Laub, und die feuchten Blätter begannen stark und wohltuend zu duften.
Weiter die Straße hinab, vor der Kirche, traten die Bäume dichter zusammen, und unter ihren Ästen war es ganz finster, dennoch vermochte Rosa von ihrem Fenster aus hie und da ein weißes Mädchenkleid zu erspähen, oder eine brennende Zigarre leuchtete wie ein roter Stern. Helles Mädchenlachen erscholl, hohe ausgelassene Noten in die Stille rufend. So manche Dienstmagd mochte sich dort mit ihrem Schatz der lauen Nacht freuen. Rosa nahm Interesse daran. Jene Bäume schienen etwas Geheimnisvolles, Süßes und Lustiges zu bergen, etwas, das sie in ihr armes Leben herüberwünschte, etwas von jenem Gefühlvollen, das der schöne Abend sie ersehnen ließ. Ach Gott, ja – etwas…
Im Nebenzimmer regte es sich. Das war Agnes Stockmaier. Sie wird sogleich in das Zimmer treten und die Lampe bringen. Die Lampe mit ihrem blau und weißen Porzellanfuß wird, wie jeden Abend, dort auf der roten Tischdecke stehen und ihren gelben Lichtkreis auf die Zimmerdecke werfen. Ja, und der Vater wird heimkommen und von Klappekahl, Lanin und dem Doktor erzählen; und sie, Rosa, wird verstimmt und unfreundlich gegen ihren Vater sein – und wieder ist ein Tag ihres Lebens verloren. Das musste geändert werden! – Gut, morgen wollte sie Herweg sagen, er solle sie unten am Fluss um neun Uhr abends erwarten. Ein wahres, echtes Stelldichein sollte das werden, wie die Bäume drüben es verdeckten. Herweg war heute gut und poetisch gewesen, da konnte sie ihm wohl etwas zuliebe tun. Auf diese Weise würde sie doch auch einmal teilhaben an der Sommernacht und ihrem Gemunkel. Der Gedanke war gut.