Dafür und Dagegen

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Dafür und Dagegen
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Eckhard Lange

Dafür und Dagegen

Roman nach Motiven der Artus-Sage

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Inhaltsverzeichnis

Titel

DIE NACHRICHT

1.Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

DIE GRENZE

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

DIE WOHNUNG

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

DER FRIEDHOF

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

DIE TRAUERFEIER

DIE ZELLE

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

DAS VERHÖR

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

DAS ANGEBOT

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

DIE FAHRT

DAS GRAB

27. Kapitel

28. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

DER RUF

32. Kapitel

EIN NACHTRAG: DIE ARTUS-SAGE

Impressum neobooks

DIE NACHRICHT

Regen! Seit drei Tagen Regen – Regen überall, ständig, ergiebig. Er fällt aus einem grauen Himmel herab, aus tief sich bettenden Wolkenkissen, die jede Hoffnung auf einen Sonnenstrahl zu verbieten scheinen. Er feuchtet die verwitterten, grau gewordenen Dachpfannen, tropft aus ebenso grauen, verbogenen und durchlöcherten Rinnen auf den grauen Zement des Fußwegs, benetzt die grau gerahmten Fensterscheiben. Es scheint, als gäbe es keine Farbe mehr in dieser Stadt, als würde sie von diesem regennassen Grau überzogen wie von einer Tarnkappe, von dem Grau der Häuser, der Straßen, des Himmels, von dem Grau des Daseins überhaupt, das die Stadt und das ganze Land auszeichnet in den Augen vieler, die dort zu leben gezwungen sind, seit eine ebenso graue Mauer aus ragenden Betonteilen jene Insel inmitten der Stadt umschließt, jenes nun weltenferne Eiland der Farben, der nächtlich herüberflackernden bunten Lichter, der geschäftigen Lebensfreude, der aufbegehrenden, respektlos gewordenen Jugend. Und selbst der farblose Regen erscheint hier grau, diesseits der Mauer.

Artur Penn steht am Fenster und starrt durch die herabrinnenden Tropfenbahnen hindurch auf all das Grau vor seinen Augen. In der Hand hält er das Schreiben, ebenfalls aus grauem Papier, das ihm jene seit längerem erwartete und nun doch so unangemessen überraschende Nachricht übermittelte: „Ihr Vater ist heute gegen 7.30 Uhr in seiner Wohnung tot aufgefunden worden. Wegen der näheren Begleitumstände und mit Blick auf die nun zu treffenden Maßnahmen erbitten wir baldmöglichst Ihr persönliches Erscheinen nach vorheriger Terminabsprache.“

Nun ist er also tot, der alte Herr, der ja noch gar nicht so alt war und doch uralt, was seine Welt, seinen Lebensinhalt betraf. Und er, Artur, muss sein Erbe antreten, das er so oft verleugnet hatte und das ihn doch tiefer prägte, als er sich je eingestehen konnte. Er muß diesen Mann beerdigen, der ihn gezeugt und dann doch verleugnet hatte – zwar nicht offiziell, aber doch mit alledem, was er nach jener lustvollen Nacht mit der Frau eines anderen, damals, vor dreißig Jahren, mit Blick auf deren Folgen angeordnet hatte. Und vielleicht war das sogar ein Segen für diesen Sohn, weil er dadurch nicht in jene untergehende Welt hineingewachsen ist, die sich so grauenvoll selbstgerecht und selbstverliebt gebärdet hatte und die dann noch viel grauenvoller endete, wie der abgesplitterte Putz, die unübersehbaren Einschusslöcher an den Häusern gegenüber noch immer erzählen.

Er muß diesen Mann beerdigen und irgendwie auch beerben, und er würde unvermeidbar jener vergangenen Welt begegnen müssen – all den Menschen, die in ihr gelebt haben und mit ihr untergingen, obwohl sie noch irgendwie am Leben sind. Er würde wohl auch seiner Schwester begegnen, Tochter seiner Mutter aus vorangegangenen Zeiten, die ihm fremd ist, die er nur einmal als Kind gesehen hat bei einem Besuch mit der Mutter in Schweden, zu der er auch später nie Kontakt aufgenommen hatte in einer merkwürdigen Scheu. Und doch: Irgendetwas verbindet uns, bindet uns aneinander, das ahnte er mehr als dass er es wusste, und es ist nicht die gemeinsame Mutter.

Er wird sich nun auch wieder den eigenen Erinnerungen stellen müssen, die manchmal ungewöhnlich verzerrt und mit anderen Bildern durchtränkt seine Träume bestimmen – Erinnerungen etwa an den efeuberankten Schloßbau, den ein Großvater errichtet haben soll und in dem der Vater wohnte, an den großen Park mit oft unbekannten Bäumen, der in die weite Schleife des Flusses eingebettet ist; undeutliche Erinnerungen auch an einen abseits gelegenen Wirtschaftshof, auf dem Kinder Holzscheit um Holzscheit einen hohen Turm aufschichteten zur Versorgung der Kamine im Schloß, auf dem ihre Väter Wildschweinen das Fell abzogen, um es ausgespannt unter das vorstehende Schuppendach zu hängen. All das sind Bilder, deren Sinn sich ihm damals nicht erschließen wollte und die darum seine Träume in fantastische Welten verwandelten – manche davon bis in diese graue Gegenwart hinein.

Artur Penn blickt noch immer hinaus in all das Grau ringsherum. Hat er diese Bilder je in Farbe geträumt? Er weiß es nicht, und er glaubt es auch nicht. Auch sie werden wohl immer nur Grau geblieben sein. War nicht auch das Schloß unter dem Efeu grau verputzt? Ach, das Schloß! Er hat es vor einigen Jahren einmal wiedergesehen, als er mit einer Delegation nach Kolobrzeg reisen musste – in die alte pommersche Hansestadt Kolberg an der Persante mit ihrem Hafen, ihrem gotischen Rathaus und den vielen Trümmern, die der Krieg auch dort hinterlassen hatte.

Er hatte sich an einem tagungsfreien Nachmittag von einem redseligen Taxichauffeur für wenige Zloty dorthin fahren lassen, um seine Erinnerungen zu überprüfen. Seine Herkunft hat er dort vorsorglich niemand verraten, noch war damals die Furcht groß, es könne jemand Besitzansprüche anmelden auf ehemaliges Eigentum, selbst wenn die Regierung des sozialistischen Bruderlandes DDR solche Bestrebungen weit von sich wies. Aber er war eben Deutscher, er war, was er sonst abgelegt hatte mit seinem neuen Namen, ein Pendragon, und er war geboren in eben diesem Schloß, das nun als Kinderheim diente. Dabei war es für den Knaben damals nicht zum Heim geworden, früh hatte der Vater ihn fortgegeben, und nur aus wenigen Besuchen kamen die Bilder seiner Erinnerung zusammen. Doch der Park, seit dem Weggang der freiherrlichen Familie verwildert, hatte noch immer jenen Zauber, den er als Kind empfunden hatte, wenn er unter den herabhängenden Zweigen eines mächtigen Baumes ein Versteck suchte oder sich trotz Verbot einen Weg durch den verschilften Ufersumpf bis zum Fluß hin bahnte.

 

Platikow, das Schloß und der Park, die Burgruine dicht daneben – es wurde für den Knaben zum Paradies, weil es so unerreichbar blieb, weil irgendein Engel mit flammendem Schwert es bewachte und nur gelegentlich für ein paar Ferientage den Weg dorthin freigab, bis das Flammenschwert auch all die anderen vertrieb, die – anders als er – dort Wohnrecht hatten, sei es seine schöne und doch so fremde Mutter, seien es jene barfüßigen Kinder, denen immerhin der Wirtschaftshof für ihre Spiele blieb, auch wenn ihnen der Park verschlossen war.

Artur Penns Gedanken verirren sich, er wendet sich vom Fenster ab, legt den Brief auf den Schreibtisch, der voller Papiere und Bücher den Raum fast ausfüllt.Er wird die Reise beantragen müssen, eigentlich kein Problem für ihn angesichts seiner Stellung im Staat und angesichts dieses Anlasses, der es auch anderen erlauben würde, das Land für angemessene Zeit zu verlassen. Auch sonst hat er das kapitalistische Ausland, zu dem auch die andere Hälfte Deutschlands gerechnet wird, zu Lesungen oder Kongressen besuchen können, es ist ihm nicht fremd, und doch befällt ihn jedes Mal das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Und dieses Mal wird das Gefühl wohl stärker sein als je zuvor: Kann er sich sonst hinter seinem Werk verbergen, mit vorgegebener Wortwahl die offiziellen Gastgeber auf Distanz halten – den Kontakt zum breiten Publikum findet er schon dank seiner natürlichen Zurückhaltung selten und dann nur höchst oberflächlich – morgen muß er Menschen begegnen, keinen Funktionären, keinen Berufskollegen drüben, und er muß mit Gefühlen rechnen, bei den anderen ebenso wie vielleicht auch bei sich selbst; Gefühlen, die er in Büchern zwar routiniert beschreiben kann, die ihn selber jedoch unsicher und ratlos machen. Er weiß das. Und er fürchtet das auch.

1.Kapitel

Sie hatten sich zum Abschied alle auf dem Platz unter dem Uhrenturm, zwischen den Seitenflügeln des Schlosses, in bekannter Rangfolge aufgestellt: die beiden Hausdiener in ihrer Livree, die Köchin mit ihren beiden Hilfskräften, der herrschaftliche Kutscher, der Gärtner, der Forstbedienstete, und gegenüber die Verwalter der zwölf freiherrlichen Güter und ihre Vertreter. Vorne, neben der Tordurchfahrt, warteten dann auch noch die Knechte vom Wirtschaftshof, die Mützen in der Hand, die Mägde im Sonntagskleid und die größeren Kinder. Draußen endlich, wo der Torweg in die gepflasterte Straße zur Stadt hin mündet, denn seit langem ist Platikow mit Stadtrecht begabt, standen die Honoratioren, angeführt vom Bürgermeister, danach der Landarzt und der Apotheker, der Forstmeister und der Postmeister; standen auch die Schüler der Stadtschule mit schwarzweißroten Fähnchen wie zu Kaisers Geburtstag, und der Schulmeister summte aufgeregt immer wieder den ersten Ton des Liedes, das die Knaben und Mädchen gleich anstimmen sollten.

Dann endlich war es soweit: Ulrich von Pendragon, Sohn des Freiherrn und Gutsbesitzers, trat in Begleitung seiner Eltern aus dem Portal. Allerdings nicht in der Paradeuniform eines Ulanenfähnrichs, sondern in schlichtem Feldgrau. Und niemand hielt ihm sein Pferd bereit, sondern der Vater höchstselbst würde ihn mit dem Automobil, das er sich als erster der Junker in dieser Gegend zugelegt hatte, zum Bahnhof chauffieren. Man schrieb das Jahr 1914, und es war ein herbstlich schöner Septembertag, an dem der junge Herr als Offiziersanwärter ins Feld ziehen würde, das frisch erworbene Patent in der Rocktasche. Er hatte sich freiwillig gemeldet, zum frühest möglichen Termin, um den Sieg an der Westfront nicht noch zu verpassen.

Die Menschen, die ihm dort zum Abschied zuwinkten, hatten kaum eine Vorstellung von dem, was ihn in den nächsten Jahren erwarten würde. Die wenigen Veteranen des deutsch-französischen Krieges, die einst im preußischen Heer in den Kampf um Mars la Tour und Metz gezogen waren, hatten in all den Jahren mit Sedanfeiern und Heldengedenktagen längst ihre Erlebnisse verklärt oder vergessen. Und dort, im hinterpommerschen Junkerland, auf den Gütern, in den Dörfern und Landstädten, wusste man wenig von der großen Politik, für die man nicht zuständig war und die Adel und höhere Beamte planten und beschlossen. Und weil die Junker, die Gutsherren, seit eh und je das Geschick des Landes bestimmten, wusste man sich meist auch in guten Händen.

Noch war niemand aus Platikow und von den umliegenden Gütern gefallen, und die beiden Verwundeten, die irgendwo in Belgien in einem Lazarett lagen, schrieben vaterländisch stolze Briefe nach Hause. Man war nicht kriegsbegeistert dort zwischen den Wäldern und Seen des pommerschen Hügelrückens, so wie in Berlin und den anderen großen Städten des Reiches, nein, das wird niemand behaupten können, man nahm ihn hin als notwendiges Schicksal, und der Kaiser würde schon wissen, was dem Reich nützt.

Daß der junge Herr nun so fröhlich und siegesbewusst in den Krieg zog, das war er schließlich seinem Stand schuldig: Waren die Freiherrn von Pendragon nicht stets Offiziere gewesen, im Dienst der Preußenkönige und nun eben des Kaisers, hatten sie nicht die Pflicht, das Vaterland zu schützen, so wie sie ihre Untertanen schützen sollten – auch wenn das ja genau genommen längst nicht mehr ihre Untertanen waren. Aber diese Erkenntnis war auf den Gütern des Herrn noch nicht so recht angekommen: Herr von Pendragon, der Herr Baron, wie er allseits genannt wurde, war nun einmal der Gutsbesitzer, ihm gehörte das Land, die Äcker und Wiesen, der Wald und das Holz darin, ihm gehörten die Ställe und Scheunen und auch die Insthäuser, in denen die Gutsarbeiter wohnten.

Und wenn er ein guter Herr war, dann ließ er die Dächer flicken und die Zäune herrichten, dann sorgte er für einen ordentlichen Schulunterricht und wählte einen Pastoren, der den Leuten tatsächlich aufs Maul schauen konnte, dann beschenkte er seine Leute an den Festtagen und hielt auch ein paar Häuser vor für diejenigen, die alt und gebrechlich waren oder durch einen Unfall zum Krüppel wurden. Das war seine Christenpflicht, und die Freiherren von Pendragon hielten sich zugute, dass sie ordentliche Christenmenschen waren. Und darum war es auch billig, dass der junge Herr nun auszog in diesen großen Krieg.

Der Abschied am Bahnhof war kurz und nicht ohne Herzlichkeit: Der Herr Baron umarmte noch einmal seinen Ältesten, schlug ihm leicht auf die Schulter und wünschte ihm Glück und Gottes Beistand. Und als der junge Herr ins Coupé kletterte, salutierte der Bahnhofsvorsteher, ehe er das Signal zur Weiterfahrt gab. Gemeinsam blickten die beiden dem Zug nach, der in einer weiten Kurve in Richtung Stettin dampfte, dann sagte der Beamte leise: „Möge er heil und gesund zurückkommen, der junge Herr!“ Der Baron nickte ihm zu: „Wollens hoffen, Pritzkoleit. Es steht alles in Gottes Hand.“ Und dann drehte er sich rasch dem Wagen zu.

Er wusste es besser als all die andern hier: Dies war keine Fahrt ins Manöver, dies war der Beginn eines Krieges, in dem Haubitzen und Mörser und vielleicht sogar Giftgas das Geschehen bestimmten. Und es konnte jeden treffen, jeden. Er war stolz auf seinen Sohn, der sich so früh freiwillig gemeldet hatte, selbstverständlich, aber er hätte es dennoch lieber gesehen, Ulrich hätte noch ein wenig gewartet. Als Vater durfte er das denken, mein Gott ja, als Vater durfte man das. Jedenfalls, wenn seine Mutter nicht dabei war, die sich sowieso allzu große Sorgen um den Jungen machte.

2. Kapitel

Ulrich von Pendragon war 22 Jahre alt, als er aus diesem unseligen Krieg nach Platikow zurückkehrte. Er hatte ihn bis auf eine kleinere Verwundung, die ihn zwei Zehen am linken Fuß kosteten, körperlich unversehrt überstanden. Aber er war wie manche seiner Kameraden zutiefst verbittert über den Ausgang dieses vierjährigen Ringens, und er lastete ihn nicht der Heeresleitung, sondern den Machenschaften in Berlin an, die in der Ausrufung einer Republik gipfelten. Er empfand es als Schmach, wie ein geschlagener Krieger zurückkehren zu müssen, obwohl er mit seiner Kompanie die Stellung jahrelang gehalten hatte. Dass dies nicht ausreichen konnte für einen Sieg, dass das Land erschöpft war, die Ressourcen aufgebraucht, die Menschen kriegsmüde, diese Erkenntnis verschloß sich seinem Gehirn.

Er kannte die Schrecken des Trommelfeuers, das Stöhnen der Verwundeten, das ganze Leiden der Frontkämpfer; die Nöte einer hungernden Bevölkerung, die Sorgen der Mütter, die die Männer in den Fabriken ersetzen mussten und dennoch ihre Kinder nicht satt bekamen, die Wut der gemeinen Soldaten, die sich als Kanonenfutter für fremde Interessen sahen – das galt ihm nichts. So kehrte er zurück, wie er aufgebrochen war: als Herr auf seinen Gütern, als Angehöriger eines Standes, der ein Recht darauf hatte, dem Land seinen Stempel aufzudrücken.

Was er aber vorfand, war ein Gutsbetrieb, der sich zunehmend verschuldet hatte. Die Privilegien des Kaiserreichs waren nun ebenfalls verschwunden, der wirtschaftliche Konkurrenzkampf jedoch war ungewohnt. Und nach und nach hatten auch die Sozialisten Fuß gefasst bei den Landarbeitern und Deputanten. Nein, es war nicht mehr seine Welt, in der er jetzt notgedrungen leben musste. Und solange der Vater versuchte, das jahrhundertealte Erbe am Leben zu erhalten, war er in Platikow überflüssig. Nur die alten gesellschaftlichen Konventionen zu bedienen, Jagden zu veranstalten, Pferde zu züchten, bei den Soireen auf den umliegenden Gütern plaudernd auszuschauen nach einer standesgemäßen Braut – das alles widerstrebte ihm zutiefst. Und obwohl er alles Revolutionäre zutiefst verabscheute, war er doch selbst zu einem heimlichen Revolutionär geworden, genauso entwurzelt wie die vielen einfachen Soldaten, genauso enttäuscht vom Leben, genauso auf der Suche nach einer neuen Idee.

Ulrich von Pendragon hatte sich in die beiden großen Zimmer zurückgezogen, die am linken Ende des Hauptflügels ihm und seinem jüngeren Bruder als Schlafräume dienten. Der Bruder war zur Zeit auf einem der väterlichen Güter, um den praktischen Teil seiner Ausbildung zu absolvieren. So stand Ulrich allein am Fenster und schaute auf den Park hinaus, in dem die zwei früher mit ein paar Gleichaltrigen aus den höheren Ständen der Stadt Räuber und Gendarm gespielt hatten und in dem er später mit seiner braunen Stute Wilhelmina für die Parforcejagd trainiert hatte.

Die alten Bäume verfärbten ihr Laub wie eh und je, und in die beginnende Dämmerung hinein klang der erste Schrei eines Kauzes, der ihm als Kind oft einen Schrecken eingejagt hatte, weil ihre alte Kinderfrau so unheimliche Geschichten zu erzählen wusste von diesen nächtlichen Jägern. Und doch: Wie wunderbar geborgen hatte er sich damals fühlen können in einer überschaubaren Welt, in der jeder seinen Platz hatte und seine Aufgabe zu erfüllen, und der Vater hatte ihn gelehrt, den eigenen Platz selbstsicher, aber nie hochmütig zu bewahren, weil alle ihre Leute Anteil hatten am Ertrag der Ernte und darum auch Anrecht auf Versorgung und Schutz vor jeglicher Willkür, zu der mancher Verwalter immer noch neigte. Aber auch wenn der Baron seit langem nicht mehr Gerichtsherr war auf seinen Gütern – für Recht zu sorgen war ihm von Gott aufgetragen, und allein Gerechtigkeit erhöht ein Volk, wie geschrieben steht.

Jetzt aber saß der Vater manchen Tag über seinen Büchern, um zu rechnen, jetzt musste er mit Bankiers verhandeln und um Kredite feilschen, damit er die Zeit bis zur nächsten Ernte überbrücken konnte und den Leuten ihren Lohn auszahlen, der nun in vielen Dingen an die Stelle von Naturalien getreten war. Und dann waren da diese selbsternannten Arbeiterführer, die aus Stettin herüberkamen und überall die Leute aufwiegelten mit ihren abstrusen Ideen vom Klassenkampf und einer proletarischen Revolution. Bei den Alten ernteten sie meist nur ungläubiges Kopfschütteln mit ihren Reden, doch die Jungen, die aus dem Krieg Zurückgekehrten waren anfällig geworden für das, was sie Sozialismus nannten.

 

Ulrich von Pendragon musste lächeln: Es geschahen schon merkwürdige Dinge hier in der tiefsten Provinz. Da war er doch kürzlich in eine solche Versammlung hineingeraten, und etliche jüngere Gutsarbeiter ereiferten sich so sehr, dass sie dem Sohn des Gutsherrn gegenüber nahezu handgreiflich zu werden drohten. Doch dann hatte er sich als Leutnant vorgestellt, und prompt fielen sie zurück in militärischen Gehorsam: Jawoll, Herr Leutnant! Zu Befehl, Herr Leutnant! Das saß ihnen noch in den Knochen nach vier Jahren Krieg. Aber wie lange würde dieses Gefühl noch dauern?

Der junge Baron trat ins Zimmer zurück, sein Blick fiel auf den mächtigen Eichenschrank, der nicht nur die Kleider der beiden Brüder bewahrte, sondern tief genug war, um als Höhle zu dienen bei ihren Spielen. Er öffnete die Tür: Tatsächlich, da waren noch die Einstichlöcher ihrer selbstgebastelten Pfeile, mit denen sie auf eine handgemalte Scheibe an der Innenseite gezielt hatten. Wie oft hatten sie den Türflügel rasch zugeschlagen, wenn einer der Hausdiener ins Zimmer trat oder gar der Vater, um mit unschuldsvollem Gesichtsausdruck nach ihren Schulheften zu greifen.

Der jüngere Bruder war übrigens der geschicktere Schütze, seine Pfeile saßen meist näher an der Mitte. Heute hätte ich wohl mehr Übung, dachte Ulrich. Wie viele Male hatte er in all diesen vier Jahren den Abzug seines Revolvers durchgedrückt, da draußen im Graben, wenn der Feind zum Angriff antrat. Und wie oft mochte er getroffen haben, irgendeinen Franzosen oder Engländer, einen dieser armen Teufel, die für ihr Vaterland ins Feld gezogen waren genau wie er. Dabei hatten sie doch alle ihr Vaterland, Freund wie Feind, fest umgrenzt, unbestritten. Und dann hatte er sich gefragt: Wieso bin ich hier eigentlich in diesem fremden Land? Wem diene ich damit – meinem Kaiser, meinem Volk, meiner Heimat?

Ja, es waren revolutionäre Gedanken, die Ulrich von Pendragon, dieser pommersche Landedelmann, Glied einer uralten Adelsfamilie, auf den Gütern rings um Platikow ansässig seit Jahrhunderten, blaublütig und standesbewußt, plötzlich in den Sinn kamen angesichts des tausendfachen Sterbens um sich herum – Gedanken, die er sich in aller Eile wieder selbst verbot zu denken. Aber die sich nie ganz verdrängen ließen, die ihn umtrieben, belasteten, unsicher machten, und die er so manches Mal nur mit kräftigen Schlucken aus einer gewissen Flasche vertrieben hatte.

Und jetzt, da sein Vaterland diesen Krieg verloren gegeben hatte und alle Ordnung in Frage gestellt war, jetzt, da all dieses Kämpfen und Sterben vergeblich erschien – jetzt stellten sich diese Fragen drängender als je zuvor. Und eines war ihm plötzlich bewusst geworden: Hier in Platikow, in der pommerschen Provinz, würde er niemals eine Antwort finden. Die Kreise, in denen er verkehrte, verkehren musste, wussten sie nicht, weil sie schon die Fragen nicht verstanden. Plötzlich sah Ulrich es klar und deutlich: Er musste fort, dorthin, wo darüber geredet und gestritten wurde.

Der dumpfe Gong schallte durch die Flure, der wie stets zum Abendessen in den Speisesaal rief, wo sich unter den strengen Blicken der Vorfahren, die aus ihren geschnitzten, goldgefassten Rahmen auf die Lebenden herabblickten, die Familie und einige Auserwählte um den mächtigen Eichentisch versammelten, der schon Generationen der Pendragons zu ihren Mahlzeiten gedient hatte. Jeder hatte dort seinen angestammten Platz, und jeder erhielt sein Essen nach festgelegter Rangfolge, wie es die Ordnung gebot.

Geordnet war auch alles andere: Wer zu welcher Zeit das Wort ergreifen durfte, ehe das allgemeine und zwanglose Gespräch freigegeben wurde, wenn der letzte Gang mit einem letzten Trunk beschlossen worden war. Da konnte Ulrich dann endlich aussprechen, was er soeben beschlossen hatte: „Ich werde ein Studium beginnen.“ Erstaunen ringsum, fragende Blicke. „Es scheint mir wichtig, dass jemand in unserer Familie sich zum Juristen ausbilden lässt. Du weißt selbst, Vater, wie schwer es heute geworden ist, einen Betrieb wie den unseren ohne den Rat von Anwälten zu führen. Mein Bruder hat inzwischen beste Kenntnis vom Wirtschaften hier auf den Gütern, er kann das sicherlich weit besser als ich.“

Und als ob er den Einwand des Vaters erspürte, ergänzte Ulrich: „Ich weiß – die Leitung von Platikow steht dem Erstgeborenen zu. Aber was spricht dagegen, den Besitz gemeinsam zu verwalten – der eine mit den Kenntnissen des Juristen, der andere mit dem Wissen um die Landwirtschaft. Du kennst deine Söhne, Vater. Wir streiten uns zwar gelegentlich, aber wir reden miteinander, und wir hören auch aufeinander, wenn es um die besseren Argumente geht. Doch noch bist du hier Herr auf Platikow, und das hoffentlich noch recht lange.“

Der Vater sah ihn aufmerksam an, und er musste sich eingestehen, dass er juristischen Rat schon oft genug hätte gebrauchen können. „Und wohin willst du gehen?“ „Ich sehe da eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Königsberg oder Berlin. Und ich wähle die letztere. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, wird es im Osten Gebietsveränderungen geben. Die Polen werden Zugang zur Ostsee erhalten, das melden alle Gazetten. Dann liegt Königsberg außerhalb des Reiches. Was nützt mir dann eine ehemals ruhmreiche Fakultät! Nein, ich bevorzuge Berlin. Und außerdem: In der Reichshauptstadt wird auch in Zukunft über Deutschland entschieden, hier kann man Verbindungen knüpfen, die auch uns in der Provinz zugute kommen. Und ich will nicht nur studieren. Wie auch immer das Reich aussehen wird, irgendwer muß es regieren.“

Der alte Baron lächelte: „Und das wirst du dann sein? Gut, auch Bismarck hat einmal als Landjunker angefangen. Aber das waren andere Zeiten.“ Ulrich lächelte zurück: „Erst einmal würde es mir reichen, ein Studium erfolgreich abzuschließen. Das ist Ziel genug für die nächste Jahre. – Du bist also einverstanden?“ Der Vater nickte. „Fast alle unserer Vorfahren dienten als Offiziere. Aber werden wir nach diesem Krieg noch eine Wehrmacht haben, noch Offiziere brauchen? Beamte aber brauchen wir immer, und bislang stellte der Adel auch die höchsten Staatsbeamten. Und das sind nun einmal vor allem Juristen. Nein, deine Pläne sind einsehbar. Ich werde dir nicht im Weg stehen.“ Und damit war alles entschieden.