Das Tagebuch

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Das Tagebuch
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Eckhard Lange

Das Tagebuch

Erzählung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

26. August:

28. August

31. August

1. September

4. September

5. September

6. September

9. September

12. September

16. September

19. September

21. September

26. September

28. September

3. Oktober.

5. Oktober

6. Oktober

10.Oktober

11. Oktober

12. Oktober

14. Oktober

21. Oktober

24. Oktober

28. Oktober

30. Oktober

3. November

4. November

7. November

8. November

13. November

15. November

16. November

Impressum neobooks

26. August:

Ich beginne mit dem Schreiben. Ich beginne, weil etwas in mir sagt: Schreib es auf! Ich kenne diese Stimme nicht. Aber sie ist mächtig. Übermächtig. Deshalb muß ich schreiben. Nein, ich bin kein Schriftsteller, und ich werde es kaum jemals werden. Ich bin ein Schreiber. Bloß ein Schreiber. Schriftsteller wissen, was sie schreiben. Sie wissen, was geschehen soll, sie haben ein Ziel vor Augen. Ein Roman muß ein Ende haben. Sonst wäre es keiner.

Ich weiß nichts. Alles, was ich schreiben werde, ist Zukunft, ist Zufall: Das, was auf mich zukommt; das, was mir zufällt. Ich kenne es nicht. Noch nicht. Es geschieht erst, wenn ich es schreibe. Es hat kein Ziel. Oder besser: Es hat ein Ziel, das ich nicht kenne, das ich nicht plane. Ich weiß nicht, ob es ein logisches Ende haben wird, damit ein Leser das Geschriebene befriedigt, vielleicht sogar beglückt, aber jedenfalls beruhigt zur Seite legen kann. Ich schreibe überhaupt nicht für Leser. Ich schreibe für mich. Ich schreibe, damit meine Erinnerung mich nicht betrügen kann, wie Erinnerungen es so gerne tun. Später, wenn ich es einmal lese, werde ich wissen, was tatsächlich einmal geschehen ist. Weil ich es aufgeschrieben habe. Und vielleicht werde ich dann auch ein Ende finden, ein Ziel entdecken, einen Sinn ausmachen. Vielleicht. Später. Nicht jetzt, wenn ich schreibe.

Ich sitze am Küchentisch, vor mir liegt mein Tagebuch. So will ich es nennen, auch wenn es wohl keines wird. Ich habe den Stift in der Hand, und ich blicke aus dem Fenster, über den Blumenkasten hinweg. Ein Kind spielt vor dem Nachbarhaus. Ich beobachte es oft, dabei kenne ich nicht einmal seinen Namen. Manchmal ist es ein Junge, viel öfter aber ein Mädchen. Ich kann es nicht unterscheiden. Ist das wichtig? Vielleicht. Wenn es größer wird, muß es sich entscheiden.

Warum schaue ich diesem Kind zu? Aus Neugier? Aus Langeweile? Oder sehe ich dort etwas anderes, etwas, was lange zurückliegt? Blicke ich in einen Spiegel? Da sitzt ein Kind in einem Sandkasten. Es hat Häuser geformt aus dem feuchten Boden, sie an Straßenzüge gereiht, es hat Bäume gepflanzt mit kleinen Stöckchen. Es hat eine Welt erschaffen, nun will sie belebt sein. Unsichtbare Fahrzeuge nutzen die Straße, Motoren brummen, Bremsen quietschen, Hupen ertönen. Unsichtbare Menschen treten aus den Häusern, grüßen einander, reden miteinander.

Eine Stimme hinter mir sagt: „Er führt schon wieder Selbstgespräche!“ Ich werde diesen Satz nicht mehr los. Ich werde ihn nie loswerden. Er verletzt mich. Nicht ich rede, die Menschen reden. Menschen, die dieser Beobachter hinter mir nicht sieht. Nicht sehen kann. Und die doch da sind. Gibt es denn mehr als die eine Welt? Ich sehe etwas, was andere nicht sehen. Warum ist das so? Habe ich etwas zu viel? Oder hat jener Beobachter etwas zu wenig? Und was ist dieses Etwas? Ist es wichtig, oder eher lästig? Das Kind damals hat lange gebraucht, darüber nachzudenken. Eigentlich bis heute. Gehört diesem Etwas vielleicht die Stimme, die gesagt hat: Schreib es auf?

28. August

Muß ich das schreiben? Ja, ich muß. Die Stimme, ich weiß. Aber diese Stimme, das bin ich – ich selbst. Selbstgespräche! Ich befehle mir zu schreiben. Doch warum kann ich mir nicht befehlen, nicht zu schreiben? Obwohl ich das doch manchmal möchte. Weil es nutzlos scheint. Weil ich nicht weiß, warum etwas geschieht – so geschieht. Aber weiß ich das jemals; weiß das überhaupt irgendwer?

Am Nachbartisch sitzt ein Ehepaar. Sie sind vierzig Jahre verheiratet. Mindestens. Woher ich das weiß? Ich weiß es nicht, ich sehe es. Sie sagen nichts, schweigend essen sie ihren Krustenbraten mit Beilage. Beim Essen soll man nicht reden, hat man mir eingeschärft. Auch sie werden es so gelernt haben. Aber sie haben auch vorher nicht gesprochen, als sie auf die bestellten Teller gewartet haben. Sie haben geschwiegen, ohne sich dabei anzuschauen, so wie es manchmal Verliebte tun. Für Verliebte ist allein der Anblick des anderen schon so erregend, daß er sie sprachlos macht.

Sie haben sich auch nicht umgeschaut wie Menschen, die Neues entdecken wollen, um nachher darüber zu reden. Sie haben vor sich hin geschaut, irgendwo auf den leeren Tisch. Vielleicht war dort ja ein Kaffeefleck, irgend etwas, das dem Auge einen Halt gewährte. Oder es gab gar nichts zu sehen, und sie wollten auch nichts sehen. Schon gar nicht den anderen; denn den kannten sie ja, in- und auswendig, würde man wohl sagen. Glauben sie jedenfalls. Warum also sollten sie sich anschauen? Und worüber sollten sie reden?

Dabei gäbe es so viel zu sagen, so viele Gedanken, die durch den Kopf gehen. Doch wenn man vierzig Jahre verheiratet ist, muß man sie verschweigen. Ich aber errate sie. „Ich könnte dich umbringen,“ denkt sie. Der Wunsch kam langsam, seit Jahren schon. Eigentlich grundlos, denn er hat ihr nichts getan. Oder war eben das der Grund? Nun ist er da, und bei solchen Augenblicken kommt er ihr in den Sinn. Einfach so, ohne Haß, ohne Verachtung, ohne Wut. Nur wegen der vierzig Jahre. Wegen so vieler verlorener Jahre. Irgendwann wird sie es tun, vielleicht nach weiteren zehn Jahren. Ich sehe es. Ich schreibe es auf, jetzt, hier, damit ich es später beweisen kann, wenn ich es in der Zeitung lese.

Aber es wird nicht in der Zeitung stehen. Jedenfalls nicht als Totschlag, sondern höchstens als schwarzgeränderte Mitteilung, daß jemand tiefe Trauer trägt um den geliebten und fürsorglichen Ehemann. Solche Taten bleiben unentdeckt, ungesühnt. Es war ja kein Gift im Spiel, kein Hammer und kein Küchenmesser. Es hat gereicht, daß sie ihm schweigend gegenüber saß. Weitere zehn Jahre. Das hat ihn getötet, langsam und qualvoll. Es hätte auch umgekehrt sein können. Denke ich jedenfalls. Hier gilt nicht Mann noch Frau, hier sind sie sich ganz einig in ihrem Denken. Es wird ein Wettstreit werden, wer in diesem Schweigen sich als der Stärkere erweist, wer im Blick auf den Kaffeefleck obsiegt.

Jetzt trinkt er. Er greift nach dem Glas, führt es zum Mund. Ohne sie anzusehen, ohne das Glas zu erheben auf irgendetwas. Das ist seine Waffe. Einfach nur trinken, weil er Durst hat. Oder weil der Braten zu trocken war. Nur darum. Nur er für sich. Weil es sie gar nicht gibt. Vielleicht wird er es sein, der ihr zuvorkommt, der als erster töten wird. Ich muß es notieren, es ist wichtig für später. Ich muß über das Schweigen reden, nur für mich. Und nur mit mir. Damit ich mich nicht mit meinem eigenen Schweigen umbringe. Ich schreibe gegen den Suizid – meinen Suizid. Denn zum Schweigen braucht es kein Gegenüber, es reicht der Spiegel. Wenn man nicht mehr hineinschaut, weil der Anblick nur noch quält. Auch solch wegblickendes Schweigen tötet. Darum muß ich es aufschreiben, jetzt, hier. Es könnte sonst zu spät sein.

 

31. August

Es ist bereits 13 Uhr, und die beiden sind seit mindestens einer halben Stunde überfällig. Warum kommen sie nicht? Werden sie heute ganz ausbleiben? Eine interessante Frage, eine wichtige Frage. Ich muß mich ihr stellen, muß eine Antwort finden. Ist einer der beiden erkrankt, gestürzt, verletzt, und wer von ihnen wird es sein? Sind sie vielleicht eingeladen, essen woanders, gemeinsam mit jemand anderem? Die Frage wirft neue auf, zieht ungeheure Mengen an Vermutungen nach sich. Bejahe ich sie, dann bedeutet das: Sie leben nicht allein in ihrem Gefängnis des Schweigens; es gibt noch andere Menschen – Kinder, Verwandte, vielleicht sogar Freunde. Aber dann müssten sie reden, ihr Schweigen brechen, antworten, erzählen, vielleicht sogar einander widersprechen. Ist das denkbar? Oder – ich zögere, es niederzuschreiben – hat sie das Schweigen nun umgebracht, beide? Ist der tägliche Gedankenmord zur Wirklichkeit geworden – und wer ist dann der Mörder, wer das Opfer?

Es fällt mir schwer, das eigene Essen in Ruhe zu verzehren, die Last ungelöster Fragen erdrückt mich. Jetzt weiß ich es sicher: Es wird meine Aufgabe sein, alle Rätsel zu lösen, damit ich sie niederschreiben kann. Ich bin jetzt zum Protokollanten ihres Lebens geworden. Ich bin verantwortlich dafür, ihr Schicksal festzuhalten, damit einmal darüber geurteilt werden kann. Nun weiß ich also, warum ich schreibe. Ich werde Nachforschungen anstellen müssen, Fragen klären, Geheimnisse aufdecken.

1. September

Sie sind wieder da, sitzen wie eh und je an ihrem angestammten Platz, schweigen und warten, essen und schweigen. Soll ich sie fragen, warum sie gestern ausgeblieben sind? Die Antwort interessiert mich brennend, ich gebe es zu. Aber die Frage würde mich verraten, weitere Beobachtungen unmöglich machen. Sie wären gewarnt, daß es einen gibt, der ihr Dasein niederschreibt. Sie könnten sich entziehen, und ich könnte nicht über sie schreiben.

Komme ich deshalb täglich an diesen Platz zurück? Es gibt doch auch anderes, was geschrieben werden muß. Ich könnte meine Erinnerungen notieren, wenn sie durch irgendetwas geweckt werden. Nur die beiden dort wecken keine Erinnerungen. Dabei hätte ich doch genug zu berichten. Schließlich war ich ja nicht ein Leben lang allein, habe ebenso an einem Tisch gesessen, einem anderen Menschen gegenüber. Merkwürdig, daß ich mich nicht erinnern kann, ob wir damals auch geschwiegen haben. Aber ich habe nicht auf einen Kaffeefleck geblickt und auch nicht aus dem Fenster geschaut. Ich habe sie angesehen, das weiß ich genau. Und doch ist da kein scharfes Bild mehr in meiner Erinnerung.

Warum sind es immer die unangenehmen Dinge, an die ich mich erinnere? Sie haben sich ins Gedächtnis gebrannt, lassen mich aus dem Schlaf aufschrecken, werden durch nichtige Anlässe wieder lebendig. Muß man denn immer nur an die Kränkungen zurückdenken? Es wird doch so oft gesagt, daß die Zeit alles Erinnern vergoldet, daß die Vergangenheit zum Paradies wird, aus dem wir vertrieben wurden. Aber mir wird die Erinnerung zum Stachel im Fleisch, lässt mich eher ins Vergessen flüchten. Dabei gibt es sicher so viele schöne Dinge, irgendwo tief im Gedächtnis abgespeichert. Warum kehren sie nicht zurück, warum muß ich sie mühsam suchen und zweifeln, ob sie auch einmal Wirklichkeit waren?

Habe ich mich deshalb entschlossen zu schreiben, weil ich das Schöne dokumentieren will, um es nicht zu vergessen? Damit es schwarz auf weiß zu lesen ist, unabänderlich festgehalten, mit akribischem Geist niedergeschrieben. Nur erlebe ich solche Stunden plötzlich nicht mehr, bleibt das Schöne mir fern, gibt es nichts zu notieren.

Verändert Schreiben Wirklichkeit? Entflieht alles Zarte, Wunderbare, Angenehme, sobald ich es in Worte fassen will? Schreiben ist ein nüchternes Geschäft, erfordert genaue Beschreibung, exakte Formulierung – da hat das Zauberische nichts verloren. Nein, da geht es verloren. Ist es nicht so? Das Zauberische braucht Farben, Töne, Melodien, keine groben Worte. Die Buchstaben sind stets die gleichen, ob sie nun das Grauen oder das Wunder beschreiben sollen, das Sterben oder die Liebe. Wie sollen sie da dem Unbeschreiblichen zu Diensten sein? Schon die Worte verraten es: Was man in tausend Farbtönen malen, mit den zarten Schwingungen einer Saite zum Klingen bringen kann, ist unbeschreiblich – unschreibbar, entzieht sich dem Wort.

4. September

Heute haben die beiden Rouladen gegessen, Kohlrouladen, genauer gesagt, mit Salzkartoffeln. Ich habe es längst bemerkt: Stets essen beide das gleiche, obwohl es doch drei Gerichte zur Auswahl gibt. Ist es Gewohnheit? Oder hat eins von beiden das Vorrecht der Auswahl, und der andere muß gehorchen? Ich hätte es gern gewusst. Ich hätte überhaupt so vieles gewusst, seit sich meine Aufmerksamkeit auf die beiden fokussiert. Warum eigentlich? Es ist mir einfach so zugefallen, weil die beiden stets am gleichen Tisch sitzen. Doch tue ich das nicht auch? Gewohnheiten lassen sich so schwer ändern, weil man sie selber überhaupt nicht als Angewohnheit erkennt.

Ich gebe es zu: Auch ich suche mir einen Platz in einem engen Radius. Er umfasst etwa vier Tische, kleine Tische. Einer von ihnen ist meistens unbesetzt. Wenn ich ihn wähle – manchmal unter zwei oder auch drei leeren Tischen – wie setze ich mich, wohin blicke ich, wem möchte ich gerne den Rücken zukehren? Alles Entscheidungen, die ich Tag für Tag treffe, und doch entziehen sie sich meinem Willen. Es reizt mich, Beobachtungen anzustellen. Aber ich benötige dafür ausreichend Abstand. Habe ich Angst, es würde sonst auffallen? Mich würde es jedenfalls stören, angestarrt zu werden. Nein, niemand würde hier einen anderen anstarren. Aber da gibt es diese heimlichen Blicke, diese wachsamen Augen, die sich verstohlen auf dich richten, die dich zwingen, aufrecht zu sitzen, nicht mit der Gabel zu zittern, damit sie nichts von dem verliert, was sie gerade deinem Mund zuführt. Und dann zittert deine Hand, unausweichlich zittert sie, allein wegen der Möglichkeit, jemand könnte sie beobachten, ihren Weg vom Teller bis zu den Lippen verfolgen. Nein, es ist nicht Morbus Parkinson, es ist nackte, aber unbewußte Angst vor dem anderen, der herüberschaut. Niemand könnte sagen, ob es ein rein zufälliger Blick ist, ob der andere an dir vorbei schaut, oder ob er dich im Visier hat, dein Verhalten registriert, seine Beobachtungen speichert, um sie gegen dich zu verwenden.

Niemand weiß das, aber ich, ich weiß es. Weil es mein eigener Blick ist, der eben dies versucht. Ich frage mich: Spüren die beiden Alten, daß ich über sie Buch führe? Noch nie haben sie aufgeblickt, hierher geblickt. Mag sein, es würde sie auch nicht interessieren, weil sie nichts mehr interessiert. Aber vielleicht registrieren sie dennoch meine Aufmerksamkeit. Auch ohne Blick. Mit einem anderen Sinn. Das würde meine Beobachtungen verfälschen. Nur wer nicht weiß, daß fremde Blicke auf ihm ruhen, gibt sich so, wie man es sich wünscht. Ich muß also vorsichtig sein, sehr vorsichtig.

Jetzt stehen sie auf und gehen. Ich habe mich entschlossen, ihnen zu folgen – unauffällig und in gebührendem Abstand, wie das ein heimlicher Beobachter tun soll. Sie sind zu Fuß gekommen, so kann ich ruhigen Schrittes hinterher gehen, wie sie dort die Straße entlang schlurfen. Darf man das sagen? Ist das ein korrekter Ausdruck, oder ist er diskriminierend? Aber sie heben beide die Fußsohlen nur ganz geringfügig über das Pflaster. Es ist einfach so.

Sie gehen, ohne sich zu berühren, Seite an Seite. Nein, das ist falsch. Er ist ihr stets einen halben Schritt voraus. Man sieht es deutlich, wenn man sie exakt im rechten Winkel, von der Gangrichtung her gesehen, beobachtet. Es gibt doch Paare, alte, grauhaarige Paare, die einander beim Gehen an den Händen halten. Vielleicht ist es nur Gewohnheit, vielleicht aber auch jahrelang eingeübte Zuneigung. Doch die Finger meiner beiden Probanden verschränken sich nicht, sie zucken eher zurück, wenn sie einander zufällig berühren. Auch ihre Hände sind schweigsam geworden, haben einander nichts mehr zu sagen.

Nun treten sie in einen Hausflur. Ich bleibe stehen. Mein Blick schweift über die Fassade. Es ist ein Haus, etwa so alt wie die beiden, mit hohen, verwitterten Fenstern in einer grau verputzten Wand. Wo mögen sie wohnen? Da öffnet sich ein Fenster im ersten Stock. Sie schaut einen Augenblick auf die Straße, ehe sie sich ins Zimmer zurückzieht. Aber es war kein Späherblick, nur die Macht der Gewohnheit, einfach hinauszuschauen. Nein, sie hat mich nicht wahrgenommen, und sie hätte mich sicher nicht erkannt als den Tischnachbarn. Aber ich kann hier nicht einfach stehenbleiben und hinaufstarren, das würde irgendjemand sicher auffallen. Ich schlendere weiter, bis zum nächsten Gebäude, betrachte dort die Auslagen eines Frisiersalons. Sind es Auslagen? Verblichene Kartons, ein paar Reklameschilder, und als Blickfang eine museale Seifenschale mit Rasierpinsel darin.

Ich gehe langsam zurück, umrunde eine Straßenecke, um sofort wieder dem Haus zuzustreben. Zwei-, dreimal wiederholt sich das Spiel. Ich achte sehr auf das offene Fenster. Es bleibt still dahinter. Was erwarte ich denn? Daß sich die beiden lauthals streiten? Warum sollten sie! Die Zeit des Streitens ist nun schon lange Vergangenheit, jetzt ist die Zeit des Schweigens. Ob nun am Esstisch oder am Couchtisch. Vielleicht gehört das Fenster ja auch zum Schlafzimmer, und das dürfte jetzt leer sein.

Ob sie getrennt schlafen? Jüngere Paare würden das tun, doch die beiden werden ihre Ehebetten haben, vor vierzig oder fünfzig Jahren gemeinsam erworben und seitdem gemeinsam genutzt. Vielleicht ist sie früher einmal mit ihrem Federbett für zwei oder drei Tage ins Wohnzimmer gezogen, wenn es Streit gegeben hatte. Doch zum Schweigen muß man nicht fortgehen, schweigen kann man nebeneinander. Ob sie einander noch Gute Nacht wünschen, ehe einer das Licht löscht? Gewohnheiten überdauern vieles, selbst die Zeit des Schweigens.

Ehe ich gehe, studiere ich die Namensschilder neben der Haustür. Es sind neun Klingeln dort, drei für jedes Stockwerk. Das schränkt die Auswahl ein. Ein Schild enthält zwei Nachnamen. Das wird ein junges Paar sein, das dort billigen Wohnraum gefunden hat. Dem zweiten Namen sieht man den Migrationshintergrund so deutlich an, daß auch er ausscheidet. Bleibt also nur das dritte Schild: „Mayburg“ ist da ein wenig verwaschen zu lesen – ohne Vornamen. Die brauchte man damals nicht; wer einen gemeinsamen Namen trug, gehörte eben zusammen – bis der Tod sie scheidet. Oder das Schweigen. Aber das ist nur ein anderer Name für Tod.

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