Geist & Leben 4/2018

Text
Author:
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

3 Ebd., 51.

4 S. Muldoon / T. Muldoon, Six Sacred Rules for Families. Notre Dame 2013, 2.

5 Ebd., 6.

6 K. Rahner, Espiritualidad antigua y actual, en: Escritos de Teología VII. Madrid 1969, 28.

7 J. A. García, Ventanas que dan a Dios. Santander 2011, 243.

8 G. Boyle, Tatuajes del corazón. Nueva York 2010, 191.


Christian M. Rutishauser SJ | Zürich

geb. 1965, Dr. theol., Provinzial der Schweizer Jesuiten, Studienleitung der Lehrgänge zu christlicher Spiritualität und zur Exerzitienleiterausbildung des Lassalle-Hauses in Bad Schönbrunn (CH)

provinzialat.hel@jesuiten.org

Erotik, Sexualität und die Beziehung zu Gott

Der Mensch ist nach den Texten der Hebräischen Bibel nicht die Krone der Schöpfung. Diese kulminiert bekanntlich im Sabbat, dem siebten Tag. Doch der Mensch wird besonders ausgezeichnet, auch wenn damit all das Gemeinsame mit den anderen Geschöpfen und vor allem den Tiefen nicht geleugnet wird: Im Bild Gottes ist er geschaffen, Gott ähnlich soll er sein. (Gen 1,26 f.) Im gleichen Atemzug wird dieser Mensch auch als geschlechtliches Wesen bestimmt: „Männlich und weiblich schuf er sie“, wie nun die revidierte Einheitsübersetzung korrekter wiedergibt und das „als Mann und Frau“ ersetzte. Seit alters her wird diese Auszeichnung als Aufgabe und Bestimmung gelesen. Es ist eine Aufgabe, ein Bild Gottes und ihm ähnlich zu werden: „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“, klingt es durch die Tora. (Lev 19,2) „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“, beschließt Jesus die exemplarische Auslegung der Gebote in der Bergpredigt. (Mt 5,48) Auch die Gestaltung der Geschlechtlichkeit und die Formung der Sexualität gehört zu dieser Bestimmung: Keine Personwerdung ohne Auseinandersetzung mit und Humanisierung der eigenen Sexualität, keine Beziehungsfähigkeit ohne ein Einüben von Nähe und Distanz, Berührung und Körper- lichkeit.1 Sowohl ein Blick in die Bibel wie auch in die Geschichte der christlichen Spiritualität zeigt, wie Erotik und Sexualität, Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit im religiösen Vollzug immer eine grosse Rolle gespielt haben. Ohne in diesem Beitrag auf die aktuelle Genderdebatte eingehen zu können, werfen wir in diesen Zeilen einen Blick auf den Menschen als „être sexué“.

Die Bejahung des Menschen und seiner Sexualität

Die grundlegende Bejahung der Leiblichkeit des Menschen ist im Neuen Testament eine Selbstverständlichkeit, wenn der christliche Glaube von der Inkarnation, der „Fleischwerdung Gottes“ in Jesus Christus spricht. „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“, eröffnet der Prolog im Johannesevangelium programmatisch (Joh 1,14). In Jesus von Nazareth findet das Abbild-Gottes-Sein seinen vollendeten Ausdruck. Obwohl sich seine Gottebenbildlichkeit in erster Linie auf sein Handeln und seine Lebensweise bezieht, ist dabei seine Leiblichkeit und Sexualität eingeschlossen. Gott offenbart sich in ihm nicht als androgynes Ganzheitssymbol, sondern konkret als Mann. Nicht dass dadurch die Frau abgewertet wäre und Jesu „weibliche“ Seite geleugnet würde. Doch in der Partikularität wird die Begrenzung anerkannt, die zu jedem Geschöpf gehört. In der Begrenztheit des Jesus aus Nazareth wird für jeden Mann und jede Frau je exemplarisch sichtbar, wie die eigene Sexualität zu bejahen ist; in ihrer Komplexität und als Ort der Erkenntnis kann ergänzt werden. In diesem Zusammenhang kommt der Beschneidung Jesu (Lk 2,21) eine besondere Bedeutung zu. Am männlichen Glied wird die Sexualkraft symbolisch beschnitten und begrenzt, aber auch in eine Beziehungsstruktur mit Gott eingeordnet. Die Beschneidung des Mannes ist Zeichen für den Bund Gottes mit seinem ganzen Volk (Gen 17). Nach Paulus müssen geistlich alle Herzen beschnitten werden (Röm 2,29). Die Herrlichkeit Gottes aber scheint auf dem Angesicht Christi auf (2 Kor 4,6). Das Angesicht ist nicht nur durch die Berührung und den Tastsinn eine Öffnung im Menschen, sondern durch das Zusammenspiel aller Sinne, des Schmeckens, Riechens, Sehens, Hörens und des Berührens. Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas bezeichnet das Antlitz treffend als den „nacktesten Teil“ des Menschen. Jesus aus Nazareth wendet sich als Mann mit allen Sinnen der Welt zu, hört das Leid der Menschen, teilt ihre Konflikte, sieht die Kranken und weiß die Freuden des Lebens zu genießen. Im Gegensatz zu Johannes dem Täufer in der Wüste ist er kein Asket. „Fresser und Säufer“ wird er genannt. (Mt 11,16–19) Er hat keine Berührungsängste gegenüber Frauen, selbst wenn es Prostituierte sind, was den Evangelisten erwähnenswert erscheint. (Lk 7,36–49; Mk 2,16 ff.) Der Kirchenvater Tertullian bringt den Inkarnationsglauben denn auch auf den Punkt, wenn er schreibt: „Das Fleisch ist der Angelpunkt des Heils.“2

Die christliche Theologie bekennt diesen Jesus als den Messias, in allem den Menschen gleich, außer der Sünde3, also auch gleich in Leiblichkeit und Sexualität, in der erotisch-sexuellen Strebekraft, die das Menschsein prägt. Die mittelalterliche Kunst hat dies im Bild der Maria lactans, die ihre Brust zur Schau stellend Jesus nährt, und im nackten Jesuskind visualisiert. Die Renaissancekunst und frühe Barockmalerei hat aus dieser religiösen Überzeugung Jesus Christus nackt, sehr körperlich und erotisch dargestellt. Bei Michelangelo, Caravaggio, Rubens und anderen ist dies bis heute zu betrachten, auch wenn in der Moderne diese Nacktheit als anstößig empfunden und zurückgedrängt wurde. Die Mühe mit der Beschneidung Jesu ist ebenso ein modernes Phänomen, wurde diese in der röm.- kath. Kirche doch bis ins 20. Jh. hinein als Hochfest am 1. Januar gefeiert und auf zahlreichen Altarbildern dargestellt.4 Die Vorhaut Jesu wurde in einzelnen Fällen sogar als eine Art „Reliquie“ verehrt.

In diesem Zusammenhang muss auch auf die Wundmale des gekreuzigten Jesus hingewiesen werden. Sie wurden in der mittelalterlichen Passionsfrömmigkeit vom Körper losgelöst dargestellt, wobei ihre Form von einer Vulva kaum zu unterscheiden ist. Solche Darstellungen dienten der Erbauung, zierten Gebetsbücher und waren verehrungswürdige Bilder.5 Sie schufen intime, geistige Berührung und Vereinigung mit dem Gekreuzigten und verhalfen zur Heilung des eigenen Leidens gemäß dem homöopathischen Grundsatz, dass Ähnliches mit Ähnlichem geheilt wird, wie dies bereits der Prophet Jesaja formuliert hatte: „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,5) Gesundung zu neuem Leben entsteht bekanntlich nur in der ganzheitlichen Bejahung der Offenheit, der Nähe und der Verletzlichkeit, wie sie der Wunde aber auch dem weiblichen Geschlechtsorgan eigen ist. Besonders in der Brautmystik haben sich dann aber Spiritualität und Sexualität verbunden, wie wir noch sehen werden. So sind in der Frömmigkeit wie in der Kunst erotische Darstellungen und Symbole immer auch Mittel, sich mit Christus und mit Gott in Beziehung zu setzen. Rosen und Bänder, Schmuck und Gewänder drücken die erotische wie die geistliche Sehnsucht und Liebe aus. Die Gebete und Texte von Brautmystikerinnen sind denn auch von Minnegesang und Liebesliedern in Form und Inhalt kaum zu unterscheiden. Spiritualität ergreift den ganzen Menschen existentiell und drückt sich leiblichkeitsaffin aus, so dass erotisch-sexuell Beziehungsintimität und die geistig-geistliche Beziehung ineinandergreifen.

Auch in der offiziellen Liturgie der Kirche und in der Spendung der Sakramente spielt das Sinnlich-Erotische eine große Rolle: Altarbilder und Musik, Farben und Gewänder, Weihrauch und symbolische Berührungen. Das barocke Messgewand des Priesters (die sogenannte „Bassgeige“), ist vom Schnitt her jenem Rock nachempfunden, den der Mann jener Zeit beim Tanzen eines Menuetts trug. Bis heute gehört der Priesterkuss von Altar, Evangelienbuch und Stola zum festen Ritual der römischen Messe. Dass sich diese sinnliche Tradition durch alle Jahrhunderte hindurch gegenüber asketischen Bewegungen als Wesen des christlichen Kultes halten konnte, verdankt sich der Inkarnationstheologie. Dies wird im Vergleich mit jüdischer oder muslimischer Liturgie besonders deutlich.

Heilung erkrankter Sexualität in der Bibel

Personwerdung, zu der sexuelles und spirituelles Reifen gehört, ist ein sensibler Prozess. Geistliches Wachstum und Integration der Sexualität beeinflussen sich nicht nur im Positiven gegenseitig, sondern können sich auch gegenseitig blockieren, so dass es zu ernsthaften Erkrankungen kommt. Religion, Glaube und Spiritualität können sich so ausschließlich am Geistigen und an Idealen orientieren und mit der Ablehnung von Leiblichkeit und Sexualität einhergehen, dass sexuelle Dysfunktionen die Folge sind. Im Kleid des frommen Suchens ist diese schädliche Spiritualitätsform nicht immer leicht zu erkennen. Auch eine starre, internalisierte Norm- und Regelfrömmigkeit kann zu Sklerotisierung und Zwanghaftigkeit führen. Religiös-archaische Vorstellungen von Heiligkeit, verbunden mit Sehnsucht nach unbefleckter Reinheit, können eine lebendige Entwicklung verhindern. Oft steckt dahinter eine traumatische Erfahrung, die durch religiöses Verhalten in Schach gehalten wird. Sigmund Freud hat die neurotische Funktion von Religion bekanntlich meisterhaft durchschaut, in seiner Religionskritik dann allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Auch die Bibel thematisiert solche Formen der Erkrankung, zeigt aber Wege der Heilung auf, die gerade durch eine vertiefte Gottesbeziehung und ein spirituelles Leben gelingen können.

 

Da ist einerseits das Buch Tobit, das nach katholischer Auffassung zum Alten Testament gehört. Es ist als Heilungsnovelle zu lesen: Tobias wird von seinem alten kranken Vater Tobit, der in erstarrter Gesetzesfrömmigkeit erblindet ist, mit dem Auftrag fortgeschickt, ein Erbe auszulösen. Unterwegs begegnet Tobias einem Engel mit Namen Raphael, was so viel bedeutet wie „Gott heilt“. Dieser führt ihn zur jungen Sara, die an völlig verstörter Sexualität leidet: Schon sieben Mal hat ihr Vater, ein Bruder Tobits, sie einem Mann zur Frau gegeben, und immer ist ihr der Mann in der Hochzeitsnacht beim ehelichen Vollzug gestorben. Nun soll Tobias mit ihr die Ehe eingehen. Raphael rät Tobias, einen Fisch zu fangen, dem er Galle, Herz und Leber entnehmen soll. Mithilfe von Leber und Herz werde er in der Hochzeitsnacht die Männer tötende Sara heilen und mit der Galle seinen blinden Vater wieder sehend machen können. In der tiefenpsychologischen Deutung, in der ich hier Eugen Drewermann folge, ist der Fisch ein Phallussymbol.6 Er steht im Text für die gezügelte Sexualkraft des jungen Tobias. Dieser heiratet Sara, bringt aber getreu Raphaels Rat erst die Organe des Fisches als Rauchopfer dar und bittet Gott inständig um seinen Segen, ehe er mit Sara schläft – nicht aus Begierde, sondern aus Liebe, wie er betont. Diese humanintegrierte Sexualitätdes Tobias, zusammen mit dem Gottvertrauen in den Engel Raphael, wirkt umfassend heilsam. Seine Schwiegereltern, die während der Hochzeitsnacht bereits das Grab für ihn geschaufelt haben, sind am nächsten Morgen überrascht, dass er lebt und ihre Tochter Sara geheilt ist. Auch als Tobias mit seiner Frau zum Vater Tobit zurückkehrt, wird dieser von seiner Blindheit geheilt. Die junge Sara und der alte Tobit sind in der Novelle als aneinander Erkrankte zu sehen: Die junge Frau kann ihre Sexualität nicht leben, weil sie von Tobit, ihrem Onkel, in einem religiös zwanghaften Familiensystem gefangen ist, das ihn selbst krank gemacht hat. Die 14 Kapitel des Buches Tobit beschreiben also mit legenden- und märchenhaften Motiven die Heilung einer Frau durch Gottvertrauen, Gebete und Ritual, die in einer religiös-erstarrten Familie ihre Sexualität verloren hat.

Das Johannesevangelium wiederum erzählt in nur gerade 19 Versen ganz verdichtet, wie Jesus einer Frau begegnet, die bereits mit dem sechsten Mann zusammenlebt. (Joh 4,7–26) Ihrer Sexualkraft ist offensichtlich die Beziehungs- und Bindungsfähigkeit abhanden gekommen. Daher ist sie auch sozial ausgegrenzt. Sie kommt in der Mittagshitze allein zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen, was Frauen sonst normalerweise gemeinsam am Morgen und Abend tun. Als Jesus ihr in Aussicht stellt, dass in ihrem Inneren eine geistige Quelle sprudeln könnte, will sie diese sofort haben. Ihre Sehnsucht ist groß. Da aber fragt Jesus sie nach ihrem Intimleben. Sie wird gleichsam auf die Couch gelegt und muss erzählen. Sie sagt nicht alles, doch was sie sagt, ist in „Wahrheit“ gesagt, wie Jesus hervorhebt. Diese Aussprache in Zweisamkeit ist Voraussetzung für ihre Heilung. Sie wird ihre erotisch-sexuelle Strebekraft nicht weiter von Mann zu Mann schweifen lassen, sondern richtet sich spirituell-religiös aus. So beginnt sie mit Jesus über interreligiöse und Glaubensfragen zu sprechen: Wo muss man anbeten, in Jerusalem oder auf dem Garizim? Auch hier geht es um „Geist und Wahrheit“ und um Gebet. Dabei wird ihr klar: Vor ihr steht in Jesus die „persönliche“ wie „allgemeine“ Wahrheit, der siebte Mann wie der von Gott Gesalbte. Er sagt zu ihr: „Ich bin es, ich der mit dir spricht.“ (Joh 4,26)

Die Frau findet durch ihn zu Wahrhaftigkeit im Leben und findet zugleich Antworten auf ihre Glaubensfragen. Auch in dieser Erzählung sind die Zahlen symbolisch zu lesen. Die Frau findet im siebten Mann ihre Fülle. Dass es um eine Liebesbeziehung geht, wird durch die Szene am Brunnen expliziert. Seit Rebekka, die Frau für Isaak, am Brunnen gefunden wurde (Gen 24), besteht der literarische Topos der Liebesbegegnung am Brunnen in der hebräischen Literatur. In Joh 4 ist die Bewegung vom Erotisch-Sexuellen auf das Erotisch-Spirituelle hin eindeutig, wobei es bis zuletzt um eine innige Beziehung zwischen Jesus und der Frau geht. Jesus zeigt sich in diesem Text zugleich als Therapeut, welcher der Frau hilft, über ihr sexuelles Leben zu sprechen, und als spiritueller Begleiter, der existenzielle Glaubensfragen anspricht. Wie an mehreren Stellen im Johannesevangelium erweist sich das Wasser als Heilmittel, wenn es im Sinne Jesu, des neuen Jakob geistlich erfasst wird.7

Treue im Dienste sexueller Reifung

In beiden biblischen Texten geht es darum, Beziehungen wiederherzustellen, sei es unter Menschen, sei es mit Gott. Bekanntlich sehen Judentum wie Christentum die Ehe als Rahmen für sexuelle Beziehungen, auch wenn ihre Ausformungen unterschiedlich sind. Gemäß röm.-kath. Lehre und Kirchenrecht dient die Ehe nicht mehr nur der Zeugung von Kindern. Sie steht auch im Dienst sexuell gelebter Liebe.8 Auf das frei gesprochene Ja-Wort wird deshalb viel Wert gelegt, ebenso auf die Treue. Für die Frage nach persönlicher sexueller und spiritueller Entwicklung ist beides fundamental: die Partnerschaft auf Augenhöhe aus freiem Konsens und das treue Zueinanderstehen in „guten wie in schlechten Tagen“, wie es im Eheschließungsritus heißt. Die Institution der Ehe soll Rahmen und Schutz sein, die den unumgänglich lustvollen, aber auch konfliktreichen inneren Wachstumsprozess eines Paares ermöglicht. Sie hilft in Ernüchterung und Krise nach der idealisierenden Verliebtheitsphase und gibt Halt, so dass auch gegenseitig die Abgründe und dunklen Seiten angenommen werden können. Jede Idealisierung aber schadet der Ehe. Es geht nicht ohne Umwege. Versöhnung gehört auch nach Untreue immer dazu. So will die Ehe ein heilsamer Rahmen sein, um täglich aneinander zu wachsen, auch was die Sexualität betrifft. Die Sehnsucht nach erfüllter Liebe lässt ein Paar auch in der Ehe über sich hinaus auf eine Gottesbeziehung hin wachsen. So kann die Beziehung von Mann und Frau auf die Beziehung mit Gott verweisen bzw. die Liebe Gottes zum Menschen erst vergegenwärtigen. Daher spricht die Kirche vom Ehesakrament. Die gelebte Ehe stellt also einen spirituellen Übungsweg dar. Treue steht letztlich im Dienst einer ganzheitlichen, erotisch-sexuellen, spirituellen und persönlichen Reifung des Ichs am Du, am mitmenschlichen wie am göttlichen Du. Das Christentum ist eine Beziehungsreligion. In Beziehung tritt der Mensch aber immer mit seiner ganzen Leiblichkeit und seinem Begehren, aus sich herauszutreten, sich hinzugeben und einem ebenso offenen Gegenüber zu begegnen. Zu dieser Schöpfungswirklichkeit der Beziehung gehört Erotik und Sexualität. Im Wachsen der Beziehungswirklichkeit zwischen zwei liebenden Menschen und im Sich-Hingeben ohne sich zu verlieren, scheint die Beziehung zur Transzendenz und zu Gott durch. Die Beziehung zu Christus und die Liebesbeziehung mit Gott stellen aus christlicher Perspektive zudem den metaphysischen Horizont und den asymptotischen Punkt für menschliches Beziehungsstreben dar.

Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe

In allen religiösen Traditionen aber gibt es Menschen, deren erotisch-sexuelles Begehren primär geistig-geistlichen Ausdruck sucht und sich spirituell äußern will. Die sexuell gelebte Beziehung tritt dann ganz hinter die Sehnsucht nach der absoluten Liebe und der letzten Transzendenz zurück. Diese ist so zentral und dominant, dass zwischenmenschliche Sexualität wenig Attraktivität ausstrahlt. Besteht die Klippe der Paarbeziehungen darin, im Körperlich-Triebhaften oder in vitaler Selbstbehauptung steckenzubleiben, so jene der vergeistigten erotischsexuellen Strebekraft im Verachten und Ablehnen des Leiblichen als Ganzes. Verdrängte Sexualität kann sich aber als blinde Kraft und Gewalt zurückmelden oder sogar pathologische Formen annehmen. Regredierende religiöse Persönlichkeiten und von der sexuellen Lust gerittene Philosophen hat die Geschichte immer wieder gesehen. Wo die geistig-spirituelle Beziehung mit Gott oder der transzendenten Welt jedoch in einer geglückten Form zur absoluten Liebe gelingt, mag das Sexuelle ganz in den Hintergrund rücken, weil es in die geistige Beziehung eingebunden ist. Das Begehren findet seine Form in religiöser Ekstase sowie in der Intimität und Liebe zu Gott und der geistigen Wirklichkeit. Diese wird durch sinnlich erfahrbare Symbole, ritualisierten Vollzug und gestaltete Leiblichkeit erlebt. Das Erotische und Leibliche spielt dabei oft eine zentrale Rolle und findet auf dem spirituellen Weg Ausdruck in Gebet und Meditation, Gottesdienst und Liturgie, Kunst, Musik und Gesang. Eine zölibatäre Lebensform, wie sie zum Beispiel das Ordens- und Mönchsleben in verschiedenen religiösen Traditionen darstellt, setzt die Pflege einer intensiven transzendenten Beziehung voraus. Sie nährt sich aus einer kontemplativen und ästhetischen Kultur, die in Gemeinschaft gepflegt sein will. Dass die sexuellen Ausdrucks- und die spirituell-religiösen Kulturformen sich überlagern und durchdringen, ist offensichtlich. Dies hat mit der Einheit der vital-geistig-spirituellen Strebekraft im Menschen zu tun, die sich auf ein menschliches Gegenüber als geistiges Wesen und auf Gott ausrichtet, aber auch die Zuneigung zu anderen Geschöpfen, Dingen und zu sich selbst einschließt.9

Gottesliebe und erotische Liebe

Die Bibel beschreibt das Verhältnis des Volkes Israel zu Gott, von dem kein Bild gemacht werden darf, nicht umsonst als Liebesbeziehung. Die Sprache ist dabei erotisch-sexuell, wenn Hosea von „menschlichen Fesseln“ und „Banden der Liebe“ spricht (Hos 11,4), durch die Gott sich mit seinem Volk verbindet. Gott sehnt sich wie ein eifersüchtiger Liebhaber nach seinem Volk. Wie ein roter Faden zieht sich dann der Vorwurf der Unzucht und der sexuellen Untreue Israels gegenüber seinem Gott durch dieses Prophetenbuch. Auch das Hohelied der Liebe, eine Sammlung erotischer Liebeslieder, hat in die Bibel Aufnahme gefunden. Darin wird nicht allein die sexuelle Liebe gepriesen, denn nichts kann besser die Beziehung zu Gott beschreiben als diese Liebeslyrik. Rabbi Akiva beschreibt das Hohelied als das wichtigste Buch der Torah.10 Dabei sind diese Liebeslieder mit ihrer Bildsprache vom Hirten und König, von Schönheit und Geruch, von Stimme und Berührung des Geliebten, gerade nicht eine Allegorie oder ein Bild für die Gottesliebe. Sie beschreiben die Gottesliebe, wie Franz Rosenzweig ausführt, weil sie auf den realen Ort verweisen, wo die Beziehung mit Gott erfahrbar wird.11

Aus der christlichen Mystik des Mittelalters ist die Tradition des Hohenliedes und seiner Fortschreibung nicht wegzudenken. Es sei nur an die umfangreichen Predigten zum Hohelied des Bernhard von Clairvaux erinnert, worin er zum Beispiel Küsse spirituell deutet. Auch Johannes vom Kreuz hat spanische Liebeslyrik vom Schönsten hervorgebracht, sei es in seiner (Nach-)Dichtung des Hohelieds oder in seinen geistigen Liebesliedern. Teresa von Avila wiederum beschreibt ihre mystische Verlobung und Vermählung in unüberhörbar sexuell klingenden Bildern. Brautmystik ist aber vor allem in Frauenklöstern des Spätmittelalters anzutreffen. Ihre Texte sprechen von einer Beziehung mit Gott oder Christus, deren Beschreibung wörtlich auf menschliche Beziehungen übertragen werden könnte. Die intime Beziehung von Maria Magdalena zu Jesus und die Johannes-Minne, die sich auf den Jünger beruft, den Jesus liebte und der beim Abendmahl an seiner Brust lag, sind zwei weitere Topoi, um die spirituelle Beziehung zu Christus in erotischer Weise auszudrücken. Schließlich ist der Liebeshymnus von Paulus aus dem Korintherbrief zu nennen, der heute oft in Brautmessen vorgetragen wird. (1Kor 13) Paulus selbst war bekanntlich nicht verheiratet und auf eine sexuelle Beziehung verzichtete er. (1 Kor 7,7) In seinem Hymnus aber schaut er Lieben, Erkennen und Erkannt-Werden zusammen und bindet sie in einen Wachstumsprozess ein. Damit steht er in altbiblischer Tradition. Seine eigene Liebe zu Christus, von der ihn niemand trennen kann (vgl. Röm 8,35), ist von einer existenziell-erotischen Mystik getragen. Die Liebe Christi hat ihn mit allen Sinnen und in seiner ganzen Leiblichkeit erfasst.

Um zusammenfassend zu schließen: Viele Mystiker(innen) sind grosse Erotiker(innen). Sie sind durch die vitale, sexuelle Kraft über sich hinaus auf die absolute Liebe hin getrieben und von ihr überwältigt. Das Gefühl, Raum und Zeit zu überschreiten, in einem sinnerfüllten Augenblick geborgen und von wahrnehmbarer Liebe bejaht zu sein, ist der sexuellen wie der mystischen Erfahrung eigen. In beiden geht es um ein schmerzvoll-trostreiches Erleben von Hingabe, Tod und Leben zugleich. Dass sich auf dem Meditationsweg und in der Suche nach mystischer Erfahrung die sexuell-erotische Kraft besonders zeigt, ist jedem/jeder bekannt, der/die Menschen auf dem inneren Weg begleitet. Die Grenzen zwischen geistig-geistlicher, erotisch-körperlicher, emotionaler und sexueller Strebekraft sind fließend. Ihr Zusammenspiel variiert in einzelnen Biographien und Lebensphasen enorm. Vergleicht man mystische Texte von Gotteserfahrungen mit der Sehnsucht nach der absoluten Liebe in Paarbeziehungen, wie dies der Paartherapeut Jürg Willi getan hat, sind die Analogien offensichtlich.12 Nicht wenige der Männer und Frauen, die als herausragende Mystiker und Mystikerinnen gelten, hatten denn auch sexuelle Erfahrungen oder intensive Freundschaften.13 Andere lebten aus ihrer erotischen Liebesbeziehung mit Gott, die sie in sexualitätsaffine Bilder und Sprache brachten. Für sie ist die geistig-geistliche Beziehung und Vereinigung mit Gott prägende Realität, die ihren Körper bis in die tiefste, emotionale Erregung durchdrungen hat. Sie alle stimmten dem berühmten Augustinuswort zu: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in Dir.“14

 

1 C. Rutishauser, Sexualität und spirituelles Wachstum, in: Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer (2/2018), 4-10.

2 Hier zitiert nach dem Katechismus der röm.-kath. Kirche, Nr. 1015.

3 Viertes Hochgebet der röm.-kath. Kirche.

4 C. Rutishauser, Das Fest der Beschneidung Jesu. Ein Plädoyer für dessen Rückgewinnung, in: Ders., Christlichen Glauben denken. Im Dialog mit der jüdischen Tradition (Forum Christen und Juden, Bd. 15). Münster – Wien – Zürich 2016, 233–248.

5 Vgl. G. Toussaint, Das Passional der Kunigunde von Böhmen. Bildrhetorik und Spiritualität. Paderborn – München – Wien – Zürich 2003, 181–185.

6 S. dazu E. Drewermann, Die Tobit-Legende: Eros, Repression und Befreiung, in: H. A. Kick (Hrsg.), Eros und Grenzsituation. Von der Verliebtheit zur Beziehungskultur (Affekt-Emotion-Ethik, Bd. 4). Münster 2006,127-152.

7 Auch wenn Joh 4,7–26 heute als einheitlicher Text mit biblischen intertextuellen Verweisen gelesen wird, fehlt die hier vorgelegte therapeutisch-spirituelle Sichtweise fast gänzlich. Vgl. J. Beutler, Das Johannesevangelium. Kommentar. Freiburg – Basel – Wien 22016, 155–163.

8 Gaudium et Spes Nr. 50; CIC 1055 §1.

9 Vgl. das hilfreiche Schema von William R. Stayton, vorgestellt in: J. H. Timmerman, Sexuality and Spiritual Growth. New York 1992, 56 ff.

10 Mishna Yadaim, 3,5.

11 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M. 1990, 221–228.

12 „liebeskrank” – Die Sehnsucht nach der absoluten Liebe. Audio CD. Auditorium Netzwerk 2004.

13 E. Pahud de Mortanges, Unheilige Paare? Liebesgeschichten, die keine sein durften. München 2011; s. auch: H. Wohlgschaft, Unsterbliche Paare. Eine Kulturgeschichte der Liebe. Von der Antike bis zur Renaissance. Bd. 1. Würzburg 2015.

14 Augustinus, Bekenntnisse. Buch I, 1.1.

You have finished the free preview. Would you like to read more?