INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Zwei

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»Ist das alles?« Becker hatte sich auf seinem Stuhl nach hinten gelehnt und die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt. Ihm war deutlich anzusehen, dass er das, was Michael von sich gab, für Schutzbehauptungen oder neue Täuschungsmanöver hielt, und es als pure Zeitverschwendung betrachtete, in andere Richtungen zu ermitteln, wo sie den Täter längst in sicherem Gewahrsam hatten.



»Im Prinzip schon. Aber eine Frage habe ich noch an Sie.«



Becker nickte. »Nur zu, fragen Sie. Ich kann Ihnen allerdings nicht versprechen, dass Sie eine Antwort bekommen. Sie kennen das ja selbst, Institoris, schließlich waren Sie einmal einer von uns.«



Michael ließ sich von dieser neuerlichen Provokation nicht aus der Reserve locken. Ganz egal, was Becker sagte, er war noch immer Inquisitor, auch wenn er aufgrund der Anschuldigungen vorübergehend suspendiert war. »Sagen Sie, wie konnten sich die Luziferianer so ungestört im ganzen Gebäude bewegen und ihre Fähigkeiten uneingeschränkt zur Anwendung bringen? Dies sollte doch ausgeschlossen sein, weil das Hauptquartier von hochwirksamen Bannern geschützt wird?«



»Das sollten gerade Sie am besten wissen, Institoris«, entgegnete Becker und grinste humorlos. »Die Banner wurden natürlich zerstört. Andernfalls hätten die Dämonendiener weder die unterirdischen Stockwerke verlassen noch ihre Kräfte anwenden können. Wir gehen davon aus, dass dieselbe Person, die den Wachmann und Inquisitor König tötete und die Luziferianer befreite, vorher die Bannsprüche beseitigte.«



»Aber wie ist so etwas möglich? Ich nahm an, die Banner wären fest in die Substanz des Hauses integriert und damit unzerstörbar, solange man nicht das ganze Gebäude in die Luft sprengt.«



Becker verzichtete diesmal darauf, seinen Unglauben über die von Michael demonstrierte Ahnungslosigkeit zum Ausdruck zu bringen, sondern beantwortete stattdessen sachlich Michaels Frage: »In einem Raum im Dachgeschoss wurde eine weitere Leiche entdeckt. Dort wurden ein Menschenopfer dargebracht und ein finsteres Ritual durchgeführt, mit dessen Hilfe sämtliche Bannsprüche in den Fundamenten und Mauern des Hauses im Prinzip ausradiert wurden. Im Moment ist unser Hauptquartier ebenso ungeschützt wie nahezu jedes andere Gebäude in dieser Stadt. Es kann Wochen dauern, den Schutz komplett zu erneuern und den alten Zustand wiederherzustellen. In der Zwischenzeit könnte jeder Luziferianer ungestört hereinmarschieren und mithilfe seiner Fähigkeiten größtes Unheil anrichten. Aus diesem Grund wird seit heute früh jeder, der den Glaspalast betreten will, genauestens kontrolliert und Unbekannten grundsätzlich kein Zutritt gewährt.«



»Der Leichnam im Dachgeschoss – handelte es sich dabei ebenfalls um einen Mitarbeiter der Inquisition?«



»Nein. Vermutlich war es eine Prostituierte. Niemand weiß, wie sie ins Gebäude gelangte. Vielleicht hätte uns der diensthabende Wachmann mehr darüber sagen können, aber bedauerlicherweise ist er dazu nicht mehr in der Lage. Und alle Aufzeichnungen der Überwachungskameras im Gebäude wurden gelöscht. Die Haustechniker sind noch damit beschäftigt, die Anlage wieder in Gang zu bringen, aber das kann noch eine Weile dauern.«



Michael nickte nachdenklich, während er diese Informationen verarbeitete. Es wunderte ihn zwar, dass sich der Hauptinquisitor plötzlich so auskunftsfreudig gab, doch er gedachte, diesen Umstand auszunutzen, solange er anhielt. »Ich war nicht allein, als ich ins Hauptquartier zurückkehrte. Wissen Sie, was mit meiner Begleiterin geschah?«



»Sie meinen die Italienerin?«



Michael nickte. Da er in Begleitung einer einzigen Frau gewesen war, war eigentlich jede Verwechslung ausgeschlossen. Außerdem dürfte es aufgrund der verschärften Sicherheitsmaßnahmen nicht viele Fremde geben, die sich derzeit im Gebäude aufhielten.



»Die Frau wird in Verhörraum 4 von einem Kollegen vernommen.«



»Warum? Sie hat mit der ganzen Sache nichts zu tun, ist selbst nur ein Opfer der Luziferianer. Hören Sie zu, Becker! Sie ist unschuldig! Lassen Sie sie bitte laufen.«



»Ob die Frau unschuldig ist oder nicht, wird sich bei der Befragung herausstellen. Apropos unschuldig: Bleiben Sie bei Ihrer Aussage oder möchten Sie nicht doch ein vollumfassendes Geständnis ablegen? Vielleicht würde es die Freilassung Ihrer Begleiterin beschleunigen, wenn Sie uns überzeugen könnten, dass die Frau tatsächlich nichts mit alldem zu tun hat.«



Michael seufzte und schüttelte entschlossen den Kopf. »Wann kapieren Sie es endlich, Becker? Es gibt nichts zu gestehen! Ich habe weder König noch den Wachmann ermordet. Und ich bin auch kein Verräter, der mit den Dämonen und ihren Handlangern paktiert. Ganz im Gegenteil: Letzte Nacht war ich ihnen ständig auf den Fersen, bis ich ihre Spur verlor. Ich tötete eine große Zahl Luziferianer und einen Besessenen, sodass der Dämon in die Hölle fahren musste. Offensichtlich sehen die Gegner in mir eine ernsthafte Bedrohung für ihre Pläne, sodass sie jetzt alles daransetzen, mich aus dem Verkehr zu ziehen, indem sie mir Morde und andere Straftaten in die Schuhe schieben, weil es ihnen zahlreiche Male misslang, mich zu töten. Und wenn Sie mir weiterhin nicht glauben und mich gefangen halten, dann spielen Sie dem Feind nur in die Hände, Becker. Ich beschwöre Sie, lassen Sie mich gehen! Gemeinsam wird es uns gelingen, meine Unschuld zu beweisen und die Verschwörung aufzudecken.«



Becker lachte humorlos und schüttelte den Kopf. »Netter Versuch, Institoris, das muss ich Ihnen lassen. Fast möchte man Ihnen Ihre Unschuldsbeteuerungen abnehmen, so überzeugend hören Sie sich an. Aber eben nur fast. Die Beweise, die das Gegenteil von dem sagen, was Sie uns die ganze Zeit vorbeten, wiegen schwerer. Deshalb werde ich den Teufel tun und Sie laufen lassen. Abgesehen davon, dass unsere Vorgesetzten das nicht billigen und mich ans Kreuz nageln würden. Nein, Institoris! Sie bleiben schön hier, wo wir Sie unter Kontrolle haben, und können sich erst einmal in Ruhe Gedanken darüber machen, ob Sie nicht Ihr Gewissen entlasten und mit der Wahrheit herausrücken, bevor es für strafmildernde Absprachen zu spät ist.«



Damit war die Vernehmung vorerst beendet. Becker erhob sich von seinem Platz, knöpfte sein Jackett zu und strich den Stoff glatt, bevor er Steinbach mit Handzeichen aufforderte, ihm zu folgen. Dieser stieß sich gehorsam von der Wand ab, gegen die er stumm gelehnt hatte. Er steckte Fernseher und Videorekorder aus, rollte die Kabel zusammen und schob den fahrbaren Tisch zur Tür.



»Wir lassen Sie für eine Weile allein, Institoris. Ich werde in der Zwischenzeit Ihre Angaben überprüfen, soweit sie nachprüfbar sind. Ich will mir hinterher nicht nachsagen lassen, ich hätte einseitig ermittelt und nicht alle Spuren verfolgt. Ihnen empfehle ich, die Zeit ebenfalls zu nutzen und noch einmal ernsthaft darüber nachzudenken, ob Sie Ihre Aussage nicht der Beweislage anpassen wollen.«



Nach diesem letzten Appell an Michaels Vernunft wandte Becker sich grußlos ab, öffnete die Tür und verschwand nach draußen. Steinbach schob den Rolltisch hinterher. Hinter ihm schloss sich die Tür mit einem dumpfen Knall, der eine Endgültigkeit signalisierte, die Michael ein leichtes Schaudern bescherte. Mit einem knirschenden Laut, den der Inquisitor stets von der anderen Seite wahrgenommen hatte und dem er bislang wenig Beachtung geschenkt hatte, wurde der Riegel von außen vorgeschoben. Er war erneut allein und noch immer gefangen.





7. Kapitel



Er blieb etwa zwanzig Minuten völlig reglos sitzen. Die Ellbogen hatte er auf die Tischplatte aufgestützt und die Finger der erhobenen Hände vor dem Gesicht verschränkt. Sein Kopf war leicht gesenkt, der Blick auf die frische Narbe im Holz der Tischplatte gerichtet, sodass es für einen Beobachter aussehen mochte, als wäre er im Gebet versunken.



Doch Michael betete nicht. Stattdessen ließ er sich alles, was er in den letzten Stunden erlebt und gehört hatte, erneut durch den Kopf gehen, brachte scheinbar unzusammenhängende Ereignisse in einen neuen Kontext, ordnete frische Informationen ein und versetzte dadurch andere Details in einen logischen Zusammenhang. Dies tat er eher zum Zeitvertrieb, während er in Wahrheit auf den richtigen Zeitpunkt zum Handeln wartete.



Denn obwohl er allein im Vernehmungsraum war, den er nicht verlassen konnte, weil seine Kollegen die Tür von außen versperrt hatten, fühlte er sich beobachtet. Beinahe körperlich konnte er die Blicke spüren, die durch den Einwegspiegel aus dem kleinen Beobachtungszimmer auf ihn gerichtet waren und ihn nicht aus den Augen ließen. Als dieses Gefühl nach zehn Minuten nicht verschwand, erfasste ihn zum ersten Mal leichte Unruhe und Unsicherheit, obwohl er sich bemühte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Täuschte er sich? Wurde er gar nicht beobachtet und bildete sich die Blicke eines unsichtbaren Beobachters nur ein? Oder hatten Becker und Steinbach einen Aufpasser zurückgelassen, der achtgeben sollte, dass Michael keinen Unsinn anstellte? Aber wozu? Tisch und Stühle waren fest mit dem Boden verschraubt, und der Metallschrank war verschlossen und zu schwer, um ihn umzustoßen oder hochzustemmen. Außerdem waren ihm mit Ausnahme seiner Kleidung, seiner Uhr und der Geldbörse alle persönlichen Dinge abgenommen worden, die er hätte benutzen können, um sich etwas anzutun oder einen Ausbruchsversuch zu unternehmen. Und selbst wenn er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Spiegelscheibe werfen würde, brächte das rein gar nichts, da es sich um verstärktes Sicherheitsglas handelte. Er hätte allenfalls seinen Kopf unablässig gegen eine der Wände oder den Fußboden rammen können, um sich auf diese umständliche und ungemein schmerzhafte Weise erbärmlich langsam umzubringen. Doch er glaubte nicht, dass seine Kollegen ernsthaft befürchteten, er könnte sich etwas antun. Wozu dann ein Aufpasser?

 



Aber dann, nach fünfzehn endlosen Minuten, spürte er erleichtert, wie das Kribbeln zwischen seinen Schulterblättern von einem Moment zum anderen verschwand. Also hatte er sich nichts eingebildet, sondern war die ganze Zeit über aus dem Verborgenen beobachtet worden. Doch jetzt war der Beobachter offenbar verschwunden.



Michael wartete noch ein paar Minuten, um auf Nummer sicher zu gehen. Als er dann immer noch das Gefühl hatte, unbeobachtet zu sein, beschloss er, zu handeln. Vielleicht war der andere zur Toilette oder eine Zigarette rauchen gegangen und würde in wenigen Minuten zurückkommen. Also musste Michael rasch handeln, wollte er seine Vermutung endlich überprüfen.



Er erhob sich. Zum Glück hatten Becker und Steinbach darauf verzichtet, ihn erneut mit Handschellen an den Tisch zu fesseln. Rasch überwand er die kurze Distanz bis zum Schrank, ließ sich daneben auf die Knie sinken und beugte sich nach vorn, um in den Spalt unter dem Schrank zu spähen. Er sah nichts, und die Enttäuschung ließ sein Herz rascher klopfen. Aber er hatte nur den vorderen Bereich einsehen können, der vom Licht der Deckenlampen erhellt wurde. Der hintere Teil, unmittelbar vor den Wänden und in der Ecke, lag in schattenerfüllter Finsternis, die er mit Blicken nicht durchdringen konnte. Er schob rasch die linke Hand in den Spalt, während er sich mit der anderen am Boden abstützte, und tastete umher.



Während der größte Teil seiner Aufmerksamkeit auf seinen Tastsinn gerichtet war, ließ er seine Umgebung dennoch nicht außer Acht. Er lauschte intensiv auf Schritte im Gang und darauf, ob der Riegel zurückgeschoben wurde. Sobald er Anzeichen entdeckte, dass Becker und Steinbach zurückkehrten, musste er sich noch mehr beeilen, um seine voraussichtlich einzige Chance, hier rasch und unbeschadet herauszukommen, nicht zu verspielen. Darüber hinaus achtete er weiterhin auf seine Intuition und ließ sie wie einen Radarstrahl kreisen, damit sie ihm sofort mitteilte, falls er erneut durch den Einwegspiegel beobachtet wurde.



Er schob die Hand in den dunklen Bereich unter dem Schrank, bis er gegen die hintere Wand stieß, und bewegte sie zur Seite. Er spürte eine dichte Staubschicht und grobkörnigeren Dreck unter seinen Fingern. Zum Glück war der Spalt breit genug, sodass er nicht mit dem Unterarm stecken blieb. Staubflocken, die vermutlich seit Jahren kein Licht mehr gesehen hatten, wurden aufgewirbelt und von ihm eingeatmet. Er kämpfte vehement gegen den Drang an, niesen zu müssen, und gewann das Duell, obwohl seine Augen zu tränen begannen. Er war unmittelbar vor der Ecke, wo die Dunkelheit am tiefsten war und ein Bein des Schranks auf dem gekachelten Boden ruhte. Mutlosigkeit und Verzweiflung begannen ihre Fühler auszustrecken, um über ihn herzufallen, sollte seine Suche sich als Fehlschlag erweisen. Da stießen seine tastenden Fingerkuppen auf ein Hindernis, das sich kalt und hart anfühlte. Seine Hand zuckte zurück, als hätte er etwas Ekliges oder Gefährliches berührt, das ihn mit scharfen Zähnen packen und seine Finger abreißen könnte. Aber das war selbstverständlich Unsinn! Unter dem metallenen Schrank konnte nichts Bösartiges lauern. Stattdessen musste er auf den Gegenstand gestoßen sein, dem seine verzweifelte Suche gegolten hatte.



Michael spürte instinktiv, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Jedes weitere Zaudern würde den Erfolg seines Vorhabens ernsthaft gefährden. Er ließ jede gefühlsmäßige Vorsicht sausen und griff beherzt zu. Seine Hand kam auf der vertrauten Griffschale einer Handfeuerwaffe zu liegen. Er schloss die Finger um den Griff und zog die Pistole unter dem Schrank hervor. Rasch richtete er sich auf und sah sich seinen Fund im Licht an. Sein Ärmel, die Hand und die Schusswaffe waren staubbedeckt, doch das würde ihre Funktionstüchtigkeit nicht beeinträchtigen. Er erkannte, dass es tatsächlich die Waffe war, mit der Schott auf ihn geschossen hatte. Wie sollte es auch anders sein? Die Chance, dass noch eine andere Pistole unter dem Schrank des Verhörraums lag, war praktisch ausgeschlossen. Es handelte sich um eine SIG Sauer P 226, ein Modell, das Michael vom Schießunterricht kannte. Die schwarz eloxierte, matt glänzende Waffe hatte ein Magazin mit 15 Patronen vom Kaliber 9 mm Para.



Mit flinken und geübten Handgriffen entnahm der Inquisitor das Magazin, prüfte die Anzahl der Patronen – es waren noch zwölf Stück vorhanden – und schob es wieder in das Griffstück, bis es hör- und spürbar einrastete. Zusammen mit der im Lauf enthielt die SIG Sauer also dreizehn Kugeln. Allerdings ging es ihm nicht darum, möglichst viel Munition zur Verfügung zu haben, da er es hier nicht mit einer Horde blutrünstiger Luziferianer, sondern mit Kollegen und Mitmenschen zu tun hatte. Er wollte ausnahmsweise kein Blutbad anrichten, nicht einmal jemanden ernsthaft verletzen, sondern sich lediglich aus der ungerechtfertigten Gefangenschaft befreien. Die Pistole war daher eher als Druckmittel gedacht denn als tödliche Waffe.



Michael war kaum mit der Überprüfung der Automatik fertig geworden, da hörte er, wie sich auf dem Gang vor der Tür Schritte näherten, die erschreckend rasch lauter wurden. Nach dem, was sein Gehör ihm mitteilte, musste es sich um die Schrittfolge einer einzelnen Person handeln, die so geräuschvoll ging, dass ihre Schritte trotz des dünnen Teppichbelags laut und deutlich zu hören waren. Dies konnte zweierlei bedeuten: Entweder kam einer der beiden Inquisitoren zurück, um ihn aus dem Verhörzimmer zu holen, oder es handelte sich um jemand anderen – möglicherweise um den heimlichen Beobachter, der von seiner Zigaretten- oder Pinkelpause zurückkehrte –, dessen Ziel nicht dieser Raum war und der an der Tür vorbeigehen würde. Doch Michael wollte auf jeden Fall vorbereitet sein, falls sich im nächsten Moment die Tür öffnete. Außerdem glaubte er sich an diese Schritte zu erinnern und hatte eine bestimmte Person im Sinn, von der sie seiner Meinung nach stammten.



Blitzschnell sprang er auf und rannte zur Tür, wozu er den Tisch und die Stühle in der Mitte des Raumes umrunden musste. Dies kostete aber zum Glück kaum Zeit, denn er konnte hören, wie die Schritte unmittelbar vor der Tür verstummten. Sekundenlang herrschte atemlose Stille, während Michael sich bemühte, so rasch, aber auch so lautlos wie möglich die wenigen letzten Schritte bis zur Tür zurückzulegen. In Gedanken sah er vor sich, wie der Mann auf dem Flur die Hand hob und an den Riegel legte. Und tatsächlich wurde im selben Moment knirschend der Verschluss zurückgeschoben. Zur gleichen Zeit erreichte Michael die Tür und drückte sich unmittelbar neben dem Türrahmen mit dem Rücken gegen die Wand. Während er den Blick auf die Stelle fixierte, wo der andere sichtbar werden musste, und mit der SIG Sauer in dieselbe Richtung zielte, bemühte er sich, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen und lautlos durch den leicht geöffneten Mund zu atmen. Als die Tür geräuschlos aufschwang, hielt Michael den Atem an. Er wartete, alle Muskeln angespannt und zum Sprung bereit.



Wie Michael aufgrund der charakteristischen Schrittgeräusche vermutet hatte, schob sich Inquisitor Steinbachs leicht übergewichtige Gestalt durch die Türöffnung.



»Aufstehen, Institoris«, polterte Steinbach, noch bevor er ganz hereingekommen war und einen Blick auf den Gefangenen richten konnte. »Wir machen einen kleinen Ausflug in …«



Weiter kam er nicht. Michael ließ ihm keine Gelegenheit, von sich aus zu entdecken, dass der Gefangene nicht länger am Tisch saß. Steinbach hatte sämtliche Sicherheitsaspekte außer Acht gelassen, als er so unbedacht und sorglos das Vernehmungszimmer betreten hatte, in dem ein nicht gefesselter Gefangener saß. Möglicherweise war er in Gedanken versunken gewesen oder hatte von einem Kollegen keinen überraschenden Angriff aus dem Hinterhalt erwartet. Doch genau dem sah er sich jetzt ausgesetzt.



Bevor Steinbach realisieren konnte, was mit ihm geschah, hatte Michael ihn mit der freien Hand am Oberarm gepackt, zerrte ihn vollständig in den Raum und stieß ihn so heftig gegen die Wand, dass er mit dem Hinterkopf dagegen krachte. Michael hatte keine Zeit und wenig Lust, sich um das Wohlergehen seines Kollegen unnötige Gedanken zu machen. Der Aufprall würde Steinbach schon nicht umbringen. Und wenn er dadurch ein wenig benommen war, war das umso besser, da es Michael die Gelegenheit gab, sich Klarheit zu verschaffen, ob Steinbach allein gekommen war. Während Michael Steinbachs Schulter losließ und den Mann stattdessen am Hals packte, ohne fest zuzudrücken, richtete er die Pistole in Richtung Tür, die noch halb offen stand. Aber wie er erwartet hatte, kam niemand anderes herein. Im Flur herrschte eine Stille, die Michael davon überzeugte, dass sich keine weitere Person in unmittelbarer Nähe aufhielt. Lediglich aus der Ferne, möglicherweise aus einem der anderen Vernehmungsräume, war eine gedämpfte, unverständliche Stimme zu hören.



Steinbach überwand seine Überraschung und die leichte Benommenheit aufgrund des Zusammenpralls mit der Wand rasch. Er riss instinktiv die Hände nach oben und griff nach Michaels Arm, um sich der locker um seine Kehle liegenden Finger zu entledigen. »Institoris, was tun Sie denn? Sind Sie verrückt geworden?«



Michael bezweifelte, dass Steinbach schon bemerkt hatte, dass der Gefangene eine Waffe hatte. Er wollte ihn aber sogleich darauf aufmerksam machen, um ihn von verrückten Verzweiflungstaten abzuhalten. Also drückte er die Mündung der Pistole gegen Steinbachs fleischige, linke Wange, sodass dieser sie auf alle Fälle spüren, aber auch sehen konnte, wenn er mit dem linken Auge nach unten schielte.



»Keine Bewegung, Steinbach! Ich bin bewaffnet und mittlerweile verzweifelt genug, die Pistole zu benutzen, wenn Sie mir keine andere Wahl lassen. Also hören Sie auf, sich zu wehren, und tun Sie gefälligst, was ich Ihnen sage! Verstanden?«



Steinbach, der, wenn auch erfolglos, damit begonnen hatte, an Michaels Arm zu zerren, stellte seine Bemühungen augenblicklich ein, nachdem er den Blick nach unten gerichtet und in das grimmige Mündungsloch der SIG Sauer geblickt hatte.



»Machen Sie keinen Blödsinn, Institoris! Sie verschlimmern Ihre Situation dadurch nur. Und aus dem Gebäude kommen Sie sowieso nicht raus. Alle Ein- und Ausgänge werden bewacht.«



»Das werden wir ja noch sehen«, antwortete Michael. »Und Sie tun nichts, bevor ich es Ihnen nicht ausdrücklich erlaube! Haben Sie mich verstanden?«



Steinbach nickte. »Ich tue alles, was Sie sagen. Aber nehmen Sie bitte die Knarre aus meinem Gesicht.«



»Alles zu seiner Zeit, Steinbach. Im Moment fühle ich mich so wesentlich wohler. Sind Sie bewaffnet?«



Steinbach bestätigte mit einem weiteren Nicken, während er den Blick wie gebannt auf die Mündung der Pistole gerichtet hielt. Der Schweiß brach ihm aus, stand ihm nicht nur in dichten Perlen auf der Stirn, sondern durchnässte sein Hemd in den Achselhöhlen und vor der Brust, wie Michael feststellte, nachdem er die Hand von Steinbachs Hals genommen und die Jackenaufschläge zurückgeschoben hatte, um nach seiner Dienstwaffe zu suchen. Er fand die Pistole – eine Heckler & Koch USP Mark 23, die vom US-Special Operations Command als Dienstwaffe benutzt wurde – in einem Holster am Gürtel. Erst jetzt nahm er den Lauf der SIG Sauer von Steinbachs Wange, wo sie einen deutlichen Abdruck hinterlassen hatte.



Michael steckte Steinbachs Pistole in die Seitentasche seiner Jacke. Anschließend lief er, den Blick und die Mündung seiner Waffe weiterhin auf den anderen gerichtet, rasch zur Tür und machte sie zu, weil es früher oder später jemandem auffallen konnte, wenn die Tür zu einem der Vernehmungsräume längere Zeit offenstand. Gegenwärtig konnte sich Michael jedoch die ungewollte Aufmerksamkeit weiterer Kollegen nicht leisten.



Nachdem sie jetzt ungestört waren, bedeutete er seinem Kollegen mit einem Schwenk der Waffe, von der Wand – gegen die er sich drückte, als könnte er in sie einsinken und so der unangenehmen Situation entfliehen – weg und zum Tisch zu gehen. »Setzen Sie sich!«



Steinbach gehorchte anstandslos. Gewiss war er erleichtert, die Pistolenmündung nicht länger auf der bloßen Haut spüren und aus kürzester Distanz in die tödliche Öffnung sehen zu müssen. Dennoch hatte er noch große Angst. Aus seiner Warte mochte diese Angst durchaus berechtigt sein, da er der Überzeugung sein musste, einen kaltblütigen, mehrfachen Mörder vor sich zu haben. Michael würde sich hüten, ihm zu sagen, dass er ihm auf keinen Fall etwas antun wollte, denn das wäre in dieser Situation kontraproduktiv. Steinbachs Todesangst war eine wesentlich bessere Stimulanz für dessen Kooperation und Gehorsam als jede Kugel aus der Pistole.

 



Der junge Inquisitor, dem der Schweiß mittlerweile in breiten Bahnen über das Gesicht und den Hals lief, wo es im Kragen seines nass geschwitzten Hemdes versickerte, setzte sich. Er legte die Ellbogen auf den Tisch und verschränkte die Finger ineinander, als wollte er beten. Ohne es zu wollen oder zu ahnen, nahm er zufälligerweise eine ähnliche Haltung ein wie Michael Institoris kurz zuvor. Steinbach sah seinen Kollegen, der ständig die Waffe auf ihn gerichtet hielt, aus geweiteten Augen an. Mehrmals musste er heftig blinzeln, als ihm brennender Schweiß in die Augen lief, doch er traute sich offensichtlich nicht, die Hand zu heben und die Augen zu reiben aus Angst, Michael könnte die Bewegung missverstehen und schießen. Stattdessen schnaufte er rasch und kurzatmig, als hätte er einen anstrengenden Lauf hinter sich.



Michael befürchtete, der Mann könnte jederzeit hyperventilieren und zusammenbrechen, und beschloss, sich zu beeilen. »Haben Sie Ihre Autoschlüssel bei sich, Steinbach?«



Der Gefragte blinzelte, dieses Mal nicht wegen der salzigen Flüssigkeit, die er in ebenso großem Maße ausströmte wie ein leckgeschlagenes Wasserbett, sondern aus Verwirrung. Er überlegte und nickte heftig. »Ja, klar. Sicher hab ich meine Schlüssel. Sie können sie gern haben. Ich habe sie …«



Er wollte unter seine Jacke und in die Innentasche greifen, als ihm bewusst wurde, dass er sich damit Michaels Anweisung widersetzte. Er erstarrte mitten in der Bewegung, während seine Augen fast aus den Höhlen traten und sich angsterfüllt erneut auf die Pistolenmündung richteten, als könnte er so schon das Projektil sehen, das seinem Leben ein Ende setzen würde.



»Holen Sie Ihre Schlüssel heraus, aber schön langsam!«



Steinbach seufzte erleichtert und schluckte mehrmals krampfhaft, als hätte er einen riesigen Brocken im Hals, den er ums Verrecken nicht runter bekam. Im Zeitlupentempo griff er mit der rechten Hand unter seine Jacke und holte ein Schlüsselbund hervor. Die Schlüssel klirrten laut aneinander, da seine Hand stark zitterte, als er sie Michael hinhielt.



Michael nahm die Schlüssel. Er entdeckte einen klobigen, schwarzen Funkschlüssel mit eingeklapptem Schlüsselbart und einem darin eingelassenen, silbernen VW-Zeichen, der mit anderen Schlüsseln unterschiedlicher Größe und Machart an einem Ring hing.



»Was für einen Wagen fahren Sie, Steinbach?«



»Einen Golf VI.«



»Farbe?«



»Äh, hellgrau.«



»Wo steht der Wagen? In der Tiefgarage?«



Steinbach nickte hastig. »Ja, Stellplatz 127.«



Michael wusste mit dieser Nummer nichts anzufangen, doch er würde den Wagen schon finden. Der Vorteil moderner Funk-Zentralverriegelungen bestand darin, dass der Wagen einem von selbst seine Position verriet, wenn man die Türen mit der Fernbedienung entriegelte. Jeder, der sein Auto schon einmal auf einem riesigen, überfüllten Supermarktparkplatz abgestellt und sich die genaue Position nicht gemerkt hatte, konnte vermutlich ein Lied davon singen.



»Geben Sie mir Ihre Handschellen!« Michael brannte die Zeit viel zu sehr unter den Nägeln, als dass er sich mit Small Talk aufhalten konnte. Er konzentrierte sich stattdessen auf das Wesentliche und hakte in Gedanken eine imaginäre Zu-erledigen-Liste ab.



Jederzeit konnte ein unvorhergesehenes Ereignis eintreten und seine Pläne durchkreuzen. Vielleicht wunderte sich Hauptinquisitor Becker bereits, warum sein Mitarbeiter so lange brauchte, den Gefangenen aus dem Keller zu holen, und war schon auf dem Weg, um nach dem Rechten zu sehen. Oder jemand betrat die Beobachtungskammer nebenan, um durch die Scheibe einen neugierigen Blick auf den inhaftierten und des zweifachen Mordes verdächtigten Inquisitor zu werfen. Michael hatte daher nicht vor, mehr Zeit als notwendig mit Steinbach zu verschwenden.



»Natürlich«, sagte Steinbach und entspannte sich ein wenig, nachdem ihm bewusst geworden sein musste, dass Michael kaum die Handschellen verlangen würde, wenn er vorhätte, ihn zu töten. »Sie stecken in einem Lederetui hinten an meinem Gürtel. Darf ich?«



Michael nickte. Er ließ Steinbach nicht aus den Augen, als dieser mit der rechten Hand hinter sich griff und dort ächzend hantierte, beschloss aber, die Zeit zu nutzen, um seinen Fragenkatalog abzuarbeiten. »Erinnern Sie sich an die Frau, mit der ich ins Hauptquartier gekommen bin?«



Steinbach war kurzzeitig irritiert über die Frage und erstarrte mitten in der Bewegung, um nachzudenken, ehe er umso heftiger nickte und weiter an seinem Gürtel herumnestelte. »Die blonde A