INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Zwei

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Das Donnern des Schusses war so laut, dass es Königs Worte auslöschte. Die Kugel stanzte ein Loch in seinen Hinterkopf und riss beim Austritt den größten Teil seines Gesichts weg. König war auf der Stelle tot, auch wenn seine Arme und Beine noch ein paar Sekunden lang zuckten. Das kantige Kinn sackte auf die Brust, und jegliche Bewegung seines massigen Körpers erstarrte, während Blut und Gewebeteile in seinen Schoß und zu Boden tropften und begannen, eine dunkle Lache auf den hellen Fliesen zu bilden.

Der Magier hatte sich instinktiv aus der Schusslinie geduckt, sodass die Kugel, nachdem sie Königs Schädel passiert hatte, über ihn hinweg sauste und sich in die Wand bohrte. Jetzt starrte er verblüfft auf den toten Mann vor ihm und anschließend auf den Neuankömmling mit der Schusswaffe, als könnte er nicht glauben, was er mit angesehen hatte.

Auch Michael hatte unwillkürlich die Luft angehalten, als der vorhersehbare, aber in seiner Plötzlichkeit und Brutalität dennoch überraschende Angriff erfolgt war. Er ließ den angehaltenen Atem zischend entweichen, als er König exakt so dasitzen saß, wie er ihn später vorgefunden hatte.

Der Mörder mit Michaels Gesicht steckte seelenruhig die Waffe weg. Er hatte bislang nur vier flüsternde Worte gesprochen und hüllte sich in Schweigen. Er sah zu Schott, der den Blick erwiderte und den Mund öffnete. Doch was immer der Magier sagen wollte, erfuhren die Zuschauer nicht, da die makabre Aufnahme in diesem Moment endete und von wirbelnden, weißen Flocken ersetzt wurde.

Michael stöhnte vor Enttäuschung. Er ahnte, dass die Aufnahme mit voller Absicht an diesem Punkt gestoppt worden war, weil Schott anschließend den wahren Namen des Mannes genannt hatte, der König kaltblütig erschossen hatte. Und da es nicht Michaels Name gewesen sein konnte, hätte es den Zweck vereitelt, den diejenigen, die das Band manipuliert hatten, damit verfolgten. So jedoch war die ganze Zeit über deutlich Michaels Gesicht zu sehen gewesen.

Michael schauerte, als er sich die unheimlichen Szenen erneut vergegenwärtigte. Er fragte sich, ob technische Veränderungen der Originalaufnahme ausgereicht hatten oder ob unter Umständen sogar magische Kräfte zur Anwendung gekommen waren, um diese Fälschung herzustellen. Selbst für ihn, der seinen Körper und die Art, wie er sich bewegte, genau kannte, war nur anhand kleiner Unregelmäßigkeiten erkennbar, dass die Aufnahme manipuliert worden war. Ansonsten waren der Körper des Mörders und sein eigener hinzumontierter Kopf allerdings perfekt aufeinander abgestimmt worden. Für andere musste die Aufnahme daher überzeugend wirken.

Immerhin wusste Michael jetzt, warum die anderen überzeugt waren, dass er König und den Wachmann erschossen hatte. Die Aufnahme war ein bestechender Beweis seiner Schuld und würde sich schwer widerlegen lassen. Allenfalls im Labor könnte festgestellt werden, ob und wie das Videoband manipuliert worden war. Aber falls Magie bei der Herstellung mit im Spiel gewesen war, konnten selbst die fähigsten Techniker dies im Nachhinein nicht mehr feststellen.

Michael seufzte, ehe er den Blick vom flimmernden Bildschirm abwandte und auf Becker richtete, der ihn die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte und mit vor der Brust verschränkten Armen darauf wartete, was Michael zu der Aufnahme zu sagen hatte.

Inquisitor Steinbach richtete die Fernbedienung auf die Geräte und betätigte die Tasten. Der Bildschirm wurde schwarz, als das Fernsehgerät abgeschaltet wurde. Der Videorekorder gab einen surrenden Ton von sich, während die Kassette zurückgespult wurde.

»Wurde die Kassette schon im Labor untersucht?«, fragte Michael sein Gegenüber und brach damit das angespannte Schweigen.

Becker nickte, nahm ein Blatt Papier aus der Akte und hielt es hoch. Scheinbar hatte er mit dieser Frage gerechnet und sich vorbereitet. Ohne vom Blatt abzulesen, fasste er das Ergebnis mit eigenen Worten zusammen: »Es handelt sich um das unbearbeitete Originalband, das sich noch in der Kamera befand, als unsere Techniker die Beweise am Tatort sicherstellten.« Er ging mit keinem Wort darauf ein, dass sie sich exakt an jenem Tatort befanden. »Im Labor konnten weder Manipulationen noch nachträgliche Veränderungen festgestellt werden.«

»Aber die Aufnahme endet abrupt, bevor Schott den Namen des Mörders nennt. In meinen Augen ist bereits das eine Manipulation des Bandes.«

»Die Kamera, mit der die Aufnahme gemacht wurde, ging in diesem Moment kaputt, deshalb wurde die Aufnahme an dieser Stelle unterbrochen. Und selbst wenn die Szene weiterhin gefilmt worden und zu hören gewesen wäre, wie Schott den Namen des Mörders ausspricht, dann wäre es Ihr Name gewesen, Institoris. Haben Sie denn Ihr eigenes Gesicht nicht erkannt? Wozu brauchen wir einen Namen, wenn wir den Mörder leibhaftig und in Farbe auf Band haben, den wir alle so gut zu kennen glaubten?«

»Selbstverständlich habe ich mein Gesicht wiedererkannt. Aber wenn Sie aufmerksamer hingesehen hätten, hätten sogar Sie festgestellt, dass es nicht mein Körper war, den wir dort sahen. Das Band wurde manipuliert, indem man meinen Kopf aus einer anderen Aufnahme auf den Körper des Mörders kopierte.«

Becker schnaubte laut. »Ich konnte keinen Unterschied zwischen dem Mörder und Ihnen feststellen, Institoris. Kleidung, Größe und Statur sind meiner Meinung nach absolut identisch. Und wie, bitte schön, soll das Originalband verändert worden sein, ohne dass dies hinterher festgestellt werden kann? Abgesehen davon wäre es in der kurzen Zeit zwischen dem Mord und der Sicherstellung des Bandes ohnehin unmöglich, eine so perfekte und ausgeklügelte Täuschung hinzubekommen, wie Sie andeuten.«

»Wurde das Band auf Rückstände von Magie und Zauberei überprüft?«

»Selbstverständlich, Institoris. Nur weil Sie nach relativ kurzer Zeit bereits zum Oberinquisitor befördert werden sollten, heißt das noch lange nicht, dass wir anderen alle komplette Idioten sind und nichts von unserer Arbeit verstehen. An der Kassette konnten allerdings nicht die geringsten Spuren von Magie oder Zauberei festgestellt werden.«

»Schicken Sie das Originalband zur Zentrale der Inquisition im Vatikan. Dort arbeiten Spezialisten, die weitaus bessere Fähigkeiten und Möglichkeiten haben, um sogar geringfügigste Rückstände magischer Manipulationen nachzuweisen. Vielleicht glauben Sie mir ja dann, dass diese Aufnahme nicht das Gesicht des wahren Mörders zeigt.«

»Wie wir unsere Ermittlungen durchführen, müssen Sie schon uns überlassen, Institoris. Vermutlich hat es Ihnen noch niemand gesagt, aber Sie wurden offiziell suspendiert.«

Michael schluckte und schloss die Augen. Obwohl er mit derartigen Konsequenzen gerechnet hatte, bestürzte es ihn dennoch, es aus Beckers Mund zu hören. Und zweifellos hatte der Hauptinquisitor damit bewusst bis jetzt hinter dem Berg gehalten und beabsichtigt, ihn mit dieser Nachricht zum richtigen Zeitpunkt zu schockieren und aus der Fassung zu bringen. Er setzte sofort erbarmungslos nach, ohne Michael eine Pause zu gönnen, um die Neuigkeit zu verarbeiten.

»Aller Voraussicht nach werden wir das Band noch genauer untersuchen lassen. Und sei es nur, um später vor Gericht jeglichem Einwand begegnen zu können, wir hätten nicht gründlich genug ermittelt. Aber bis zum Nachweis des Gegenteils bleibe ich aufgrund der bisherigen Beweise bei meiner Überzeugung, dass Sie es waren, der König und Schreiber ermordet hat. Den Mord an Inquisitor König haben wir auf Band. Darüber hinaus wurden beide Männer mit Ihrer Dienstwaffe erschossen, auf der sich nur Ihre Fingerabdrücke befanden. Eine dermaßen eindeutige Beweislage kann man schon als erdrückend bezeichnen und ist mehr als ausreichend, jedes Gericht dieser Welt davon zu überzeugen, dass Sie des zweifachen Mordes schuldig sind. Angesichts der Aussichtslosigkeit jedes weiteren Leugnens sollten Sie meiner Meinung nach damit beginnen, uns die Wahrheit zu erzählen, Institoris. Ein Geständnis kann sich strafmildernd auswirken.«

Michael dachte darüber nach. Er ließ sich die erdrückende Beweislage durch den Kopf gehen und klopfte sie auf Schwachstellen ab. Er hatte nicht vor, etwas zu gestehen, was er nicht getan hatte, er wollte nur überprüfen, ob es nicht ein Detail gab, an dem er ansetzen und mit dessen Hilfe er es schaffen konnte, den Hauptinquisitor und seine Vorgesetzten zum Nachdenken und eventuell zum Umdenken zu bewegen. Die Videoaufnahme würde er ohne genauere Untersuchung auf Rückstände von Zauberei durch Experten des Vatikans nicht widerlegen können. Und auch die Tatsache, dass die Kugeln aus seiner Waffe stammten, konnte ohne Geständnis der Person, die die Waffen vertauscht hatte, nicht aus der Welt geschafft werden. Die Beweise erschienen tatsächlich so erdrückend, wie Becker gesagt hatte. Dennoch entdeckte er einen Ansatzpunkt, der zumindest Raum für leichte Zweifel an seiner Täterschaft bot.

»Sie sagten, dass die Kugeln, die Schotts Schulter durchbohrten und die Luziferianer töteten, aus Königs Dienstwaffe stammten. Ist das korrekt?«

Becker nickte lediglich müde.

»Dann beantworten Sie mir bitte folgende Frage: Wie konnte König den Magier Ingo Schott anschießen, wenn er selbst zu diesem Zeitpunkt schon tot war?«

Becker öffnete den Mund, um Michaels Einwendung so kurz und schmerzlos vom sprichwörtlichen Tisch zu fegen, wie Michael dies zuvor mit dem Untersuchungsbericht der Ballistiker getan hatte, schloss ihn aber wieder, als er erkennen musste, dass es sich um einen berechtigten Einwand handelte, der nicht leichtfertig abgetan werden konnte.

»Wir alle haben auf dem Videoband gesehen, dass Schott unverletzt war, als König starb«, fuhr Michael eindringlich fort, da er in diesem Aspekt seine letzte Chance sah, seine Kollegen und Vorgesetzten rasch von seiner Unschuld zu überzeugen. »Dennoch wurde Schott später von einer Kugel aus Königs Dienstwaffe verletzt. Wie konnte das geschehen?«

 

Becker dachte gründlich darüber nach, bevor er antwortete: »Das ist eine berechtigte Frage, Institoris. Doch ich würde sie gern anders formulieren: Wieso haben Sie Schott mit Königs Dienstwaffe angeschossen, anstatt Ihre eigene zu benutzen?«

Michael wollte auffahren und den Vorwurf vehement zurückweisen, aber Becker ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern sprach umgehend weiter. »Ich kann Ihnen sagen, warum Sie das taten, Institoris. Sie mussten die Täuschung auch nach Königs Ermordung aufrechtzuerhalten. König und Schreiber wurden mit Ihrer Dienstwaffe erschossen. Welchen Eindruck hätte es da erweckt, wenn auch die Kugel, die Schotts Schulter durchschlug und von unseren Kriminaltechnikern aus der Wand geholt wurde, aus Ihrer Pistole gekommen wäre? Ihr raffiniertes Täuschungsmanöver wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber so konnten Sie behaupten, jemand hätte Ihre Dienstwaffe mit der von König vertauscht, um Sie in Misskredit zu bringen. Wahrscheinlich hatten Sie vor, die beiden baugleichen Pistolen nach Ihrer Rückkehr zu vertauschen, doch an diesem Punkt Ihres Planes scheiterten Sie, weil die Leute vom SEK Sie unmittelbar nach Betreten des Gebäudes überwältigten. Zu unserem Glück, möchte ich betonen, da es Ihnen andernfalls eventuell gelungen wäre, mit den Morden davonzukommen, gäbe es nicht das Videoband, das den Mord an Inquisitor König zeigt und den wahren Mörder entlarvt.«

Michael seufzte resigniert, als er einsehen musste, dass es ihm nicht gelingen würde, jemanden in diesem Gebäude von seiner Unschuld zu überzeugen. Alle hatten sich aufgrund manipulierter Beweise ein Urteil gebildet und hielten ihn für schuldig. Darum war es sinnlos, weiterhin auf Schwachstellen in der Argumentation seiner Ankläger herumzureiten. Becker und die anderen hatten ohnehin auf alles eine einleuchtende Antwort.

»Jetzt gehen Ihnen wohl die Ausflüchte aus, Institoris«, fuhr Becker fort, der wie ein Raubtier instinktiv spürte, dass sein Opfer angeschlagen war. »Wenn Sie noch nicht bereit sind, ein Geständnis abzulegen, warum erzählen Sie uns nicht wenigstens, wie sich die Ereignisse der letzten Nacht aus Ihrer Sicht abgespielt haben.« Becker löste die Verschränkung seiner Arme, beugte sich vertraulich nach vorn, als wollte er durch körperliche Nähe größere Intimität zwischen ihnen erzeugen, und legte die Hände auf den Tisch. Er gab sich unvermittelt ausgesprochen jovial, fast kumpelhaft und wollte damit mit Sicherheit den unterbewussten Eindruck vermitteln, Michael würde sich hinterher besser fühlen, wenn er sich alles von der Seele redete und sein Gewissen erleichterte. »Vielleicht können wir durch den direkten Vergleich Ihrer und unserer Version des Tathergangs etwaige Missverständnisse aufklären und Unklarheiten aus der Welt schaffen. Stellen Sie sich einfach vor, Sie müssten dem Generalinquisitor über Ihren Einsatz Bericht erstatten. Ihre Aussage über die Vorgänge im Haus des vermeintlichen Hexenzirkels, die Sie in Inquisitor Königs Diktafon sprachen, kennen wir schon. Warum beginnen Sie also nicht an dem Punkt, als Sie sich von König verabschiedeten und den Einsatzort verließen. Wohin fuhren Sie von dort?«

Becker nickte Michael auffordernd zu und verstummte, um mit erwartungsvoller Miene auf dessen Schilderung der Ereignisse zu warten.

Michael durchschaute die aufgesetzte Freundlichkeit und Jovialität seines Kollegen. Becker war ein extrem erfahrener Inquisitor und hatte Hunderte von Befragungen durchgeführt. Er beherrschte sein Handwerk und konnte virtuos auf der Klaviatur zahlreicher Verhörmethoden spielen. Doch selbst wenn er damit viele Erfolge erzielt hatte, so hatte er jetzt jemanden vor sich, der sich ebenfalls auskannte und die Psychospielchen beherrschte.

Michael hatte nicht das Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden, dennoch konnte es seiner Meinung nach nicht schaden, die Vorkommnisse aus seiner Sicht zu schildern. Eventuell konnte dadurch tatsächlich das eine oder andere Missverständnis aufgeklärt werden, auch wenn er nicht davon ausging, dass es ihm half, seine Unschuld zu beweisen.

Er dachte darüber nach, was er Becker, Steinbach und den anderen Zuhörern, die das Verhör nebenan sicherlich gespannt verfolgten, offenbaren wollte. Seine Lage erschien ihm aufgrund der gefälschten Beweise derzeit zwar nahezu aussichtslos, dennoch hatte er seine gewohnte Ruhe und innere Stärke wiedergefunden, seit er erkannt hatte, dass der Verdacht gezielt auf ihn gelenkt worden war und vermutlich dieselben Leute dahinter steckten, die ihn auch nahezu die ganze letzte Nacht in Atem gehalten hatten.

Wäre er um einen normalen Einsatzbericht gebeten worden, bevor ihm die erdrückenden Beweise für seine Täterschaft vorgelegt worden waren, hätte er vermutlich alles Wesentliche erzählt – mit Ausnahme seiner angeblichen Abstammung von einem Dämon und einer Hexe – und die Hoffnung gehegt, alles würde sich aufklären, solange er die Wahrheit sagte. Doch jetzt, vor dem Hintergrund der niederschmetternden Erkenntnis, dass er innerhalb der Inquisition einen Feind haben musste, der mit den dunklen Mächten paktierte und gefälschte Beweise produziert hatte, und dass es sich dabei möglicherweise um jenen verräterischen Inquisitor handelte, von dem Ghost gesprochen hatte, beschloss er, dem Hauptinquisitor zwar einen Überblick über seine Erlebnisse der vergangenen Nacht zu geben, aber ein paar wesentliche Details zu verschweigen. Immerhin bestand die naheliegende Möglichkeit, dass der Verräter in der Nähe war und alles mit anhörte, was Michael von sich gab. In diesem Fall wollte er wichtige Einzelheiten für sich und als Trumpf in der Hinterhand behalten.

Denn eine Sache war für Michael längst klar. Aufgrund der Schwere der gegen ihn erhobenen Vorwürfe und der erdrückenden Beweise würde man ihn nicht auf freien Fuß setzen, sondern nach dem Verhör unverzüglich in eine der Arrestzellen zwei Stockwerke tiefer verfrachten. Aber auch dort wäre er vor seinen Feinden nicht sicher. Der oder die Verräter innerhalb der Inquisition waren immer noch unbekannt und konnten ihre finsteren Pläne in Ruhe weiterverfolgen. Michael wäre fürs Erste aus dem Weg geräumt, aber weiterhin ein Unsicherheitsfaktor, den es zu beseitigen galt. Er gelangte daher zur Überzeugung, dass seine Feinde die Gelegenheit beim Schopf packen und ihn töten würden, solange er in einer Zelle eingesperrt und hilflos war. Daher gab es für ihn in allernächster Zukunft nur ein Ziel: Er musste sich aus der Gefangenschaft befreien und aus dem Glaspalast fliehen! War er erst auf freiem Fuß, konnte er auf eigene Faust weiter ermitteln, den Verschwörern auf die Spur kommen und gleichzeitig Beweise für seine Unschuld sammeln.

Doch wie sollte es ihm gelingen, von hier zu entkommen? Noch während er sich diese Frage stellte, begannen die ersten Ansätze eines Plans in einem verborgenen Winkel seines Verstandes Gestalt anzunehmen. Aber dessen Gelingen hing im Wesentlichen davon ab, ob die Pistole, die dem Magier Schott aus der Hand geflogen und unter den Metallschrank in der Ecke des Verhörzimmers geschlittert war, noch dort lag.

Michael musste sich beherrschen, um keinen raschen Blick zum Schrank zu riskieren und nachzusehen, ob er ein mattschwarzes Schimmern in dem Spalt zwischen Schrank und Fußboden entdecken konnte. Die Gefahr, dass Becker darauf aufmerksam und misstrauisch wurde, war zu groß. Um sich abzulenken, konzentrierte er sich noch intensiver auf seine bevorstehende Aussage und vor allem auf das, was er nicht erzählen wollte, und verdrängte jeden Gedanken an seine Fluchtpläne vorerst aus seinem Bewusstsein.

Neben den primären Zielen, den Umfang seiner bisher gewonnenen Erkenntnisse vor eventuell mithörenden Feinden geheim zu halten und dieses Wissen anschließend selbst nutzen zu können, sobald er sich wieder auf freiem Fuß befand, hatte er noch einen weiteren Grund, nur einen Teil der Wahrheit zu offenbaren. Selbst wenn er Ihnen von einer Verschwörung, an der ein Inquisitor beteiligt sein sollte, und der geplanten Ermordung des Papstes berichtete, würden ihm Hauptinquisitor Becker und ihre Vorgesetzten vermutlich nicht glauben. Man würde seine Worte erneut als reine Schutzbehauptung abtun, mit denen er die Mordvorwürfe von sich und in die Schuhe eines anderen schieben wollte. Und beweisen konnte er bisher nichts davon. Er konnte allenfalls Ghost als Zeugin benennen. Aber erstens würden seine Kollegen der Geschäftsführerin einer Diskothek, die nebenbei vermutlich eine ganze Reihe von Geschäften jenseits jeglicher Legalität betrieb, ebenso wenig glauben wie ihm, und zweitens wollte er die Frau nicht unnötig in Gefahr bringen.

Also behielt er einen Teil der Wahrheit für sich, als er erzählte, was er in den vergangenen Stunden erlebt hatte, und beschränkte sich im Großen und Ganzen auf die zahlreichen Auseinandersetzungen mit den Luziferianern, in die er verwickelt gewesen war. Seinen Besuch im SEPULCHRE und die Erkenntnisse, die er dort gewonnen hatte, behielt er für sich, schilderte aber detailliert die Verfolgung und Angriffe durch die drei Motorräder, die anschießenden Begegnungen im Glaspalast mit den befreiten Luziferianern und zu guter Letzt die Vorfälle im Haus der ehemaligen Gärtnerei und unter dem Friedhof.

Es dauerte eine knappe Stunde, bis er alles erzählt hatte und verstummte. Anschließend herrschte für eine Weile bedächtiges Schweigen, weil keiner der drei Männer auch nur einen Ton sagte. Nachdem er so lange ohne Pause geredet hatte, empfand Michael die Stille nahezu als unangenehm. Außerdem fühlten sich Mund und Kehle ausgetrocknet an. Er hätte gern etwas getrunken, doch die Kollegen boten ihm kein Glas Wasser an und er wollte nicht von sich aus darum bitten.

Becker schwieg mit nachdenklicher Miene, während er Michaels Bericht gedanklich überprüfte und verarbeitete. Mit Sicherheit klopfte er jeden einzelnen Satz auf Schwachstellen, Ungereimtheiten und offensichtliche Lügen ab. Michael hatte sich aber bei dem, was er offenbart hatte, an die Wahrheit gehalten – schon deshalb, um sich später nicht in Widersprüche zu verwickeln, die ihn noch verdächtiger erscheinen ließen, sofern das möglich war. Er hatte kein einziges Mal bewusst gelogen, einen wesentlichen Teil der Wahrheit allerdings verschleiert, indem er Details weggelassen hatte. Dennoch würde der Hauptinquisitor sicherlich noch genügend Widersprüche zu seiner eigenen Sicht der Ereignisse finden, da nach seiner Überzeugung und den erdrückenden Beweisen Michael ein Doppelmörder war.

Der einzig wirkliche Schwachpunkt seiner Darstellung bestand nach Michaels Ansicht darin, dass er nicht sagen konnte, woher er von der verlassenen Gärtnerei erfahren hatte, da er seinen Besuch in der Diskothek und die Begegnung mit Ghost weggelassen hatte. Er hatte diesen Aspekt unter den Tisch fallen lassen und gehofft, es würde niemanden auffallen. Doch der erfahrene Hauptinquisitor hatte das Fehlen eines wichtigen Puzzleteils erkannt und kam sofort darauf zu sprechen.

»Eine schöne Geschichte, die Sie uns da erzählt haben, Institoris. Wenn ich nicht stichhaltige Beweise vorliegen hätte, die teilweise eine andere Sprache sprechen, hätte ich Ihnen wahrscheinlich jedes Wort geglaubt. So aber muss ich das meiste, was Sie berichtet haben, in Zweifel ziehen. Vor allem eine Sache ist mir noch unklar: Warum fuhren Sie zu dem verlassenen Grundstück neben dem Friedhof? Woher hatten Sie diese Adresse?«

Michael hatte zwar gehofft, Becker würde die Auslassung nicht bemerken und es ihm damit ersparen, eine bewusste Unwahrheit zu erzählen, die ihm später zum Verhängnis werden konnte, sich aber sicherheitshalber vorweg eine halbwegs plausible Erklärung zurechtgelegt, die er jetzt nachreichte: »Tut mir leid, Becker, aber das muss ich bei all den Details vergessen haben. Um es kurz zu machen, es war der Magier Schott, der mir von der aufgegebenen Gärtnerei erzählte und die Adresse nannte.« Michael hatte seine Begegnung mit dem Magier im Großen und Ganzen so erzählt, wie sie sich zugetragen hatte, und nur verschwiegen, dass Schott bewaffnet gewesen war, auf ihn geschossen hatte und die Pistole am Ende unter dem Schrank gelandet war.

Er senkte unauffällig den Blick, um die Kerbe im Holz des Tisches anzusehen, die noch immer wie eine frische Wunde aussah, richtete die Augen aber sofort wieder auf sein Gegenüber, der nichts bemerkt zu haben schien. Michael fragte sich, wie seine Kollegen sich diese Furche im Holz erklärten. Sie hatten mit Sicherheit die entsprechende Kugel in der Wand gefunden, sichergestellt und untersucht. Dabei mussten sie festgestellt haben, dass sie weder aus Michaels noch aus Königs Dienstwaffe stammte. Michael rechnete insgeheim damit, dass dieses Thema früher oder später zur Sprache kommen würde, und dachte in einem Hinterstübchen seines Verstandes über plausible Antworten nach, während er sich gleichzeitig auf Beckers Reaktion auf seine Erklärung konzentrierte.

 

»Soso, Schott hat Ihnen davon erzählt. Und in welchem Zusammenhang tat er das? Ich meine, der Gegner plaudert ja in der Regel nicht ohne Grund eine geheime Anschrift aus, oder? Und geschah das, bevor oder nachdem er von diesem ominösen Anrufer durchs Telefon erwürgt wurde?« Becker verzog keine Miene, doch Michael sah ihm an, dass ihn sein eigener schlechter Scherz belustigte. Steinbach besaß weniger Selbstbeherrschung und kicherte im Hintergrund leise über die Worte des Kollegen.

Michael ließ sich durch den Spott nicht aus der Reserve locken, wie es der Hauptinquisitor zweifellos geplant hatte. Er nutzte die Zeit, bis Steinbachs Kichern verstummte, um sich eine Erklärung zurechtzulegen, und antwortete betont ruhig und sachlich: »Wie ich schon sagte, fragte ich Schott nach seinem Auftraggeber. Er konnte mir zwar nicht den Namen nennen, weil ihn ein innerer Zwang – möglicherweise ein unter Hypnose implantierter Befehl – daran hinderte, aber zumindest den Ort, an dem er die Anweisungen eines vermummten Mannes in einer Mönchskutte und seines Begleiters, eines Gestaltwandlers namens Butcher, erhielt. Der Magier nannte nicht nur die Anschrift, sondern beschrieb auch das vernachlässigte Grundstück der ehemaligen Gärtnerei. Nach seinen Worten fand das Treffen in einem Raum im Erdgeschoss des Gebäudes statt, das unmittelbar an die Friedhofsmauer grenzte und eine fensterlose Ruine war. Schott blieb nichts anderes übrig, als mir alles zu offenbaren, was er wusste, da mein Schuss seine Schulter durchbohrt hatte. Er blutete stark und fürchtete, zu sterben. Ich versprach ihm, einen Notarzt zu rufen, sobald er mir alles gesagt hatte, was er wusste. Allerdings kam es nicht dazu, weil Butcher – bei dem es sich um einen engen Vertrauten des Vermummten handelt, wie später auch der Vampir Abraham bestätigte – hier anrief und Schott durch die Nennung eines einzigen Schlüsselwortes tötete. Vermutlich handelte es sich um einen Befehl aus der Sprache der Dämonen, der während einer Hypnosesitzung in Schotts Unterbewusstsein verankert worden war und dazu führte, dass Schott aufhörte zu atmen, sobald er das Wort gehört hatte. Ich musste mit ansehen, wie er dort drüben ohne jede sichtbare Fremdeinwirkung elendig erstickte und nicht das Geringste dagegen tun konnte. Es muss sich um einen extrem mächtigen posthypnotischen Befehl gehandelt haben, wenn er sogar die Kräfte eines erfahrenen und starken Magiers wie Schott überstieg und mühelos den Selbsterhaltungstrieb seines Körpers überwand. Dies sollte uns nicht zu makabren Späßen, sondern vielmehr dazu veranlassen, uns Gedanken darüber zu machen, welche Mächte hier am Wirken sind und im Hintergrund die Fäden ziehen. Und dass es posthypnotische Befehle dieser Art gibt, sollte Ihnen als erfahrenem Inquisitor bekannt sein, Becker, sodass Sie sich jeglichen Spott darüber sparen können. Allenfalls das Ausmaß und die Effizienz von Schotts Ermordung durch Nennung eines einzigen telefonisch übermittelten Begriffs sind erschreckend und sollten uns allen ebenfalls Anlass zur Sorge und zu weiteren Nachforschungen geben.«

Becker hatte Michaels ausführlicher Erklärung aufmerksam zugehört, die Stirn als Zeichen höchster Konzentration in Falten gelegt und ihn nicht ein einziges Mal unterbrochen. Dennoch war ihm die Skepsis deutlich anzusehen, als er missbilligend den Kopf schüttelte und Michael misstrauisch ansah. »Woher wussten Sie überhaupt, dass es sich bei dem Anrufer um diesen Gestaltwandler Butcher handelte? Erkannten Sie seine Stimme von einer früheren Begegnung?«

Wenn Becker meinte, Michael mit dieser Fangfrage aufs Glatteis locken zu können, war er mehr als naiv. Wahrscheinlicher war, dass er sein übliches Repertoire abrief, ohne ständig darüber nachzudenken, dass er einen Kollegen vor sich sitzen hatte.

Michael hatte alle Begegnungen mit Butcher detailliert geschildert. Mit Ausnahme des Telefonats hatte er kein einziges Mal mit ihm gesprochen. Wenn er eingeräumt hätte, dass er Butcher an seiner Stimme erkannt hatte, hätte er logischerweise schon vor dieser Nacht mit dem Gestaltwandler Kontakt haben müssen. Dies hätte dem Hauptinquisitor neue Munition für seine Bemühungen geliefert, Michael des zweifachen Mordes zu überführen, denn es hätte den Inquisitor als Verräter erscheinen lassen, der mit dem Feind auf vertrautem Fuß stand. Michael war all das und die Zielsetzung der Frage bewusst, aber da er zumindest in dieser Hinsicht ein reines Gewissen und keinen Grund hatte, die Unwahrheit zu sagen, blieb er gelassen.

»Wie ich Ihnen schon sagte, sah ich Butcher vor dem Telefonat nur ein einziges Mal, als er vor dem Hexenhaus in die Schwarze Lucy verladen wurde. Er sprach kein Wort, sondern beschränkte sich darauf, mich mit intensiven und finsteren Blicken anzustarren. Dennoch wusste ich zu Beginn des Telefonats intuitiv, dass ich es mit ihm zu tun hatte, obwohl er seinen Namen nicht nannte. Kurz darauf flüchtete er aus dem Glaspalast, verwandelte sich in einen Wolf und verschwand in der Dunkelheit. Später nannte der Vampir Abraham Butchers Namen und erzählte, dass er ein Vertrauter des geheimnisvollen Auftraggebers Janus sei.« In Wahrheit hatte nicht Abraham, sondern Ghost als Erstes den Namen des Gestaltwandlers genannt, doch Michael blieb bei seinem Vorhaben, sie aus dem Spiel zu lassen, und passte seine Geschichte dem an.

Becker brummte etwas Unverständliches und brachte dadurch seinen Unmut darüber, dass die Vernehmung nicht so verlief, wie er sich das insgeheim vorgestellt hatte, deutlich zum Ausdruck. Da er mittlerweile einsehen musste, dass er weder durch die momentane Befragungsart noch durch das gewählte Thema Erfolge erzielen konnte, würde er demnächst vermutlich sowohl die Technik als auch den Gegenstand des Verhörs ändern. Michael fragte sich, ob die beiden Inquisitoren auf das bekannte Spielchen »Guter Inquisitor, böser Inquisitor« zurückgreifen würden, fürchtete sich aber nicht davor. Er beschloss aber, zunächst selbst die Initiative zu ergreifen und die Gelegenheit zu nutzen, ein paar Worte zu äußern, ohne auf zuvor gestellte Fragen antworten zu müssen.

»Ich weiß, dass Sie mir kein Wort von dem glauben, was ich Ihnen erzählt habe, Becker«, sagte Michael und sah den Hauptinquisitor eindringlich an. »Doch eine Sache sollten Sie bei alldem nicht aus den Augen verlieren. Und leiten Sie meine Worte bitte an Generalinquisitor Brunner weiter, falls er nicht ohnehin davon erfährt.« Für den Bruchteil eines Augenblicks, aber für Becker deutlich wahrnehmbar, lösten sich Michaels Augen von denen des Hauptinquisitors und richteten sich auf den Einwegspiegel, als könnte er trotz der Spiegelung hindurchsehen und erkennen, wer sich dahinter befand. Aber selbstverständlich war es nur eine naheliegende Vermutung, mit der er Becker nicht beeindrucken konnte. Als er weitersprach, bemühte er sich daher, den Hauptinquisitor möglichst entschlossen anzusehen, um seinen Worten zusätzliche Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit zu verleihen, auch wenn er ahnte, dass er damit allein an der Überzeugung seines Gegenübers, den wahren Täter vor sich zu haben, wenig ändern würde. »Mir ist klar, dass Sie mir nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich die Morde nicht begangen habe, die mir zur Last gelegt werden. Jemand treibt hier ein hinterhältiges Spiel und versucht, mir die Taten in die Schuhe zu schieben, die er selbst oder durch seine Handlanger begangen hat. Nehmen wir einfach einmal an, dass ich es wirklich nicht war. In diesem Fall sitzt der wahre Verräter noch immer unerkannt in den Reihen der Inquisition und kann weiterhin ungehindert sein Unwesen treiben. Sie sollten sich also im eigenen Interesse nicht zu sehr auf mich als mutmaßlichen Täter versteifen, sondern auch andere Alternativen ins Auge fassen. Sonst könnte es für uns alle früher oder später ein böses Erwachen geben.«