GRABESDUNKEL STEHT DER WALD

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Das Wichtigste war für sie daher zunächst, dass sie sich ein wasserdichtes Alibi verschaffte, denn selbstverständlich würde nach Markus’ Verschwinden der Verdacht sofort auf sie fallen. Deshalb beschloss sie, am übernächsten Wochenende für ein paar Tage zu ihren Eltern nach Norddeutschland zu fahren. Zufälligerweise feierte ihr Vater an diesem Sonntag seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag. Normalerweise hätte sie nur ein sündteures Geschenk geschickt und kurz angerufen, da das Verhältnis zu ihren Eltern nicht das Allerbeste war. Doch nun kam ihr diese Gelegenheit wie gerufen, da es ihr einen triftigen und unverdächtigen Grund verschaffte, von hier wegzukommen, während Sascha seinen Löwenanteil an ihrem Plan verwirklichte.

»Warum kommst du nicht mit?«, fragte Cora ihren Mann, nachdem sie ihm vier Tage nach dem Treffen mit ihrem Geliebten beim gemeinsamen Abendessen mitgeteilt hatte, dass sie zum Geburtstag ihres Vaters fahren wollte. »Eine Pause würde dir auch mal guttun. Nicht immer nur in deinem Arbeitszimmer hocken und Geld verdienen.«

Seitdem sie sich dazu entschlossen hatte, ihn umzubringen, konnte sie es kaum erwarten, dass es endlich geschah. Dennoch verhielt sie sich ihm gegenüber wie immer und war überzeugt, dass sie ihre Sache gut machte und er keinen Verdacht schöpfte. Vermutlich war an ihr eine begnadete Schauspielerin verloren gegangen.

»Ich dachte, du magst das Geld, das ich verdiene.«

Seine Antwort versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Autsch! Hielt er sie etwa für geldgierig? Doch sie ließ sich nichts anmerken und lachte, als fände sie seine Bemerkung amüsant. »Sicher mag ich Geld, wer tut das nicht. Aber wir haben doch schon so viel.«

»Geld kann man nie genug haben«, sagte er und offenbarte damit, dass er mindestens ebenso geldgierig war, bevor er einen Schluck von dem sündhaft teuren Rotwein nahm, den er am liebsten trank.

»Das heißt dann wohl, dass du nicht mitfährst?«

Markus nickte. »Tut mir leid, Schatz, aber momentan kann ich hier beim besten Willen nicht weg. Es gibt ein paar wichtige geschäftliche Angelegenheiten, um die ich mich persönlich kümmern muss. Aber richte deinen Eltern schöne Grüße von mir aus.«

»Das mache ich natürlich, Schatz

Innerlich triumphierte Cora, denn das war genau die Antwort, die sie hatte hören wollen. Sie erwiderte sein Lächeln und sah einen todgeweihten Mann vor sich, der allerdings noch nicht ahnte, was auf ihn zukam. Sie forschte in ihrem Inneren, ob sie irgendwo ein Gefühl des Bedauerns oder der Trauer entdecken konnte, fand jedoch nichts. Deshalb fragte sie sich, ob sie ihn jemals wirklich gemocht oder sich nur eingeredet oder eingebildet hatte, sie würde es tun.

Doch dann zuckte sie nur mit den Schultern und griff nach ihrem gerührten Martini, denn letzten Endes war es ohnehin egal, weil sich diese Frage allerspätestens in zehn Tagen überhaupt nicht mehr stellte.

4

Eine Woche später verabschiedete sich Cora von Markus, nachdem er ihren Koffer im Porsche verstaut hatte.

»Fahr vorsichtig«, sagte er, umarmte sie und gab ihr einen Kuss.

Sie erwiderte den Kuss mit erheblich mehr Leidenschaft, als sie empfand, tröstete sich aber gleichzeitig mit dem Gedanken, dass es ohnehin das letzte Mal wäre, denn seit sie beschlossen hatte, ihn zu ermorden, erfüllte sie jede seiner Berührungen mit Ekel und Widerwillen. Doch erneut ließ sie sich nichts von ihren wahren Gefühlen anmerken und machte stattdessen gute Miene zum bösen Spiel.

»Mach ich«, sagte sie und befreite sich sanft aus seiner Umarmung. »Aber jetzt muss ich wirklich los, schließlich ist es eine lange Fahrt.«

»Mit dem Wagen schaffst du die Strecke im Nullkommanichts.« Er öffnete für sie die Fahrertür und ließ sie einsteigen. »Und die Strafzettel, die du bekommst, zahlen wir aus der Portokasse.«

Sie lachte und startete den Wagen, der mit einem satten Brummen ansprang. Das mit den Strafzetteln war eigentlich eine gute Idee, denn auf diese Weise konnte sie neben den Aussagen ihrer Eltern ihr Alibi erhärten. Wieso war sie nicht darauf gekommen? »Ich ruf dich an, wenn ich angekommen bin. Und was ist mit morgen Abend? Bist du da zu Hause?«

Er nickte. »Wie schon gesagt, muss ich mich um geschäftliche Dinge kümmern. Ansonsten habe ich nichts vor. Ich werde also hier sein.«

»Dann ruf ich dich morgen Abend um zehn noch einmal an.«

»Okay. Und grüß deine Eltern von mir.«

Sie nickte lächelnd, dann wandte sie den Blick nach vorn und fuhr über die gepflasterte Einfahrt zum zweiflügeligen Tor, das tagsüber offen stand. Bevor sie vom Grundstück auf die Straße fuhr, sah sie noch einmal in den Rückspiegel. Markus stand noch immer mit erhobener Hand an derselben Stelle und winkte. Sie hob die Hand und erwiderte sein Winken. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn in diesem Augenblick zum letzten Mal sah. Sie spürte einen kurzen Stich des Bedauerns, der jedoch schnell verging, als sie sich vergegenwärtigte, was sie durch den Mord alles gewinnen würde. Dann richtete sie den Blick wieder entschlossen nach vorn und gab Gas, um die Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen.

Als sie drei Tage später abends zurückkehrte, war das Haus leer und Markus spurlos verschwunden. Am Tag darauf griff sie zum Telefon, rief die Polizei an und meldete ihn als vermisst.

Zunächst rechneten die Beamten der Kriminalpolizei angesichts ihres Reichtums mit einer Entführung, doch als sich kein Einführer meldete, um ein hohes Lösegeld zu fordern, wurde die Angelegenheit vierzehn Tage später der Vermisstenstelle übergeben. Schließlich lagen auch nicht die geringsten Anhaltspunkte für eine Straftat vor, und das Alibi der Ehefrau, die in derartigen Fällen vermutlich zuerst und manchmal auch nicht zu Unrecht verdächtigt wurde, war wasserdicht. Deshalb gingen alle davon aus, dass Markus aus eigenem Antrieb und freiwillig verschwunden war.

Damit ging Coras voll Rechnung auf, und sie freute sich, dass ihr Plan so gut funktioniert hatte.

Doch wie es aussah, hatte sie sich zu früh gefreut, denn ihr Ehemann war gar nicht tot, sondern plötzlich wieder in ihrem Leben aufgetaucht.

DRITTES KAPITEL

1

Als Cora von ihrem mentalen Ausflug in ihre Erinnerungen zurückkehrte, als erwachte sie aus einem Traum, saß sie noch immer im Bad neben der Toilettenschüssel und ließ ihren rechten Zeigefinger auf ihrer Kopfhaut kreiseln, sodass sich ihre langen Haare darum wickelten. Es war eine Angewohnheit, die sie sich einfach nicht abgewöhnen konnte, sosehr und sooft sie es auch versuchte, und die sie vor allem immer dann unbewusst ausführte, wenn sie unter starkem, emotionalem Stress stand.

Sie befreite ihren Zeigefinger, dessen Spitze dunkel war, weil sich das Blut darin gestaut hatte, und stand auf. Dann stellte sie sich vor das Waschbecken und erwiderte den Blick ihres seitenverkehrten Ebenbilds im Spiegel. Was sie sah, gefiel ihr allerdings ausnahmsweise nicht so besonders.

Ihr Haar war an der Stelle zerzaust, an der sie es um ihren Finger gewickelt hatte. Außerdem war sie blasser als sonst und hatte leicht gerötete, wässrige Augen, als wäre sie ernsthaft erkrankt. Und zu allem Überfluss hing auch noch ein Spritzer Erbrochenes an ihrem Kinn.

Sie verzog angewidert das Gesicht und schüttelte den Kopf, weil es Zeit wurde, dass sie sich nicht so gehen ließ und ein ernstes Wort mit sich selbst sprach.

Na schön, dann war Markus also wieder aufgetaucht. Und wenn schon? Das war schließlich kein Weltuntergang. Nach Angaben der Polizistin von der Vermisstenstelle hatte er nämlich sein Gedächtnis verloren. Also wusste er auch nicht mehr, was mit ihm passiert war. Und selbst wenn er seine Erinnerungen irgendwann zurückerlangte, würde er den Mordversuch nicht mit ihr in Verbindung bringen. Schließlich war sie weit weg gewesen und hatte eines der besten Alibis, die man sich nur wünschen konnte.

Und während Coras Abwesenheit war eben ein Unbekannter ins Haus eingedrungen, als Markus gerade im Arbeitszimmer auf Coras Anruf gewartet hatte, und hatte ihren Ehemann erwürgt. Anschließend hatte der Fremde die Leiche in den Ebersberger Forst gebracht, einem ausgedehnten Waldgebiet fünfundzwanzig Kilometer von München entfernt, und dort verscharrt.

So war es zumindest von ihr geplant gewesen, und genau so hätte Sascha es auch ausführen sollen. Was war also passiert, dass Markus noch immer am Leben war und so unerwartet und unwillkommen wie ein nächtlicher Albtraum wieder auf der Bildfläche erschien?

Hatte Sascha ihn gar nicht getötet, wie er es ihr gegenüber hinterher behauptet hatte? Aber wieso nicht? Und wo war Markus seitdem gewesen? War er in der Gegend herumgeirrt, nachdem er im Wald ohne jegliche Erinnerung wieder zu sich gekommen war, und schließlich in Regensburg gelandet, um dort bei einem Ladendiebstahl erwischt zu werden und wieder in ihr Leben zurückzukehren?

Cora spürte den Impuls, nach unten zu gehen und zum Telefon zu greifen, um Sascha sofort anzurufen und zur Rede zu stellen. Doch ihr wurde sofort klar, dass dies das Verkehrteste wäre, was sie tun könnte.

Erstens hatte sie mit ihm eine Funkstille von einem halben Jahr vereinbart. Denn wenn niemand sie zusammen sah, würde auch niemand argwöhnen, Sascha könnte etwas mit dem Verschwinden ihres Mannes zu tun haben. Wenn er hingegen ein halbes Jahr nach Markus’ Verschwinden auftauchte, wäre das viel unverdächtiger, schließlich konnte niemand erwarten, dass sie ihrem verschollenen Mann ein Leben lang hinterherweinte.

Zweitens hegte sie trotz des Fotos, das ihr die Ermittlerin per Mail geschickt hatte, urplötzlich den Verdacht, das Ganze könnte eine ausgeklügelte Falle der Polizei sein. Vielleicht verdächtigte man sie trotz all ihrer raffinierten Vorsichtsmaßnahmen und wollte sie auf diese Weise aus der Reserve locken und dazu verleiten, einen Fehler zu begehen.

 

Aber nicht mit mir, Freunde!

Coras Spiegelbild grinste sie an, während sie sich vornahm, sich weiterhin extrem vorsichtig zu verhalten und nach Möglichkeit keine vermeidbaren Fehler zu begehen. Ob die Polizei sie tatsächlich verdächtigte und auszutricksen versuchte, wusste sie nicht mit Sicherheit, sie beschloss allerdings, bis auf Weiteres so zu tun, als wäre das der Fall. Doch dazu musste sie einen kühlen Kopf bewahren und durfte nicht in Panik verfallen.

Die überraschende Mitteilung von Anja Spangenberg, ihr Mann, den sie in einem Grab im Wald gewähnt hatte, sei wieder aufgetaucht, hatte ihr einen Schock versetzt und für eine Weile ihren gesunden Menschenverstand ausgeschaltet. Das durfte nicht noch einmal geschehen. Schließlich war es ja nicht so, als wäre Markus von den Toten wiederauferstanden und ein verfluchter Zombie. Nein, für sein Wiederauftauchen musste es eine normale, rationale Erklärung geben. Und die musste sie herausfinden, bevor sie sich überhaupt daranmachen konnte, die nächsten Schritte in Angriff zu nehmen.

Die wichtigste Frage war daher ganz einfach und lautete momentan wie folgt: Aus welchem Grund war Markus nicht tot?

Und da Sascha nicht hier war, um ihr Rede und Antwort zu stehen, gab es für sie eigentlich nur eine Möglichkeit, wie sie rasch Licht ins Dunkel bringen konnte.

2

Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen und die Zähne geputzt hatte, um den ekelerregenden Geschmack nach Erbrochenem loszuwerden, ging Cora eilig zurück in ihr Arbeitszimmer.

Markus und sie hatten schon immer getrennte Schlafzimmer gehabt, da Markus’ Schnarchen zeitweise die Lautstärke eines Presslufthammers erreichte und Cora von Haus aus einen leichten Schlaf hatte. Zwei Dinge, die unvereinbar waren. Und als sie dann vor sechzehn Jahren in dieses Haus gezogen waren, das über weit mehr Zimmer verfügte, als sie benötigten, weil sie keine Kinder hatten, hatte Cora neben ihrem Schlafzimmer und dem Atelier im Dachgeschoss auch noch ein eigenes, kleines Arbeitszimmer bekommen, in dem sich neben dem Schreibtisch mit ihrem Laptop und mehreren Regalen unter anderem auch ein Wandtresor befand.

Cora nahm das Bild – eine limitierte Farblithografie von Pablo Picasso – von der Wand, hinter dem sich der Tresor verbarg, und lehnte es am Boden gegen die Wand. Anschließend tippte sie den sechsstelligen Code, den nicht einmal Markus gekannt hatte, in die LED-Tastatur, drückte zur Bestätigung die Taste mit dem Rautenzeichen und drehte den Metallklappgriff, um die Safetür zu öffnen.

Im Tresor befanden sich ihre persönlichen wichtigen Unterlagen, ihre Sparbücher, etwas Bargeld für den Notfall und ihr Schmuck. Doch all das interessierte sie momentan nicht. Worauf sie es abgesehen hatte, lag auf der rechten Seite im oberen Fach. Sie griff danach und schloss die Tresortür wieder, verzichtete aber vorerst darauf, das Bild wieder davor aufzuhängen.

Sie wandte sich um und ging zum Schreibtisch. Das Display des Laptops war noch immer aufgeklappt und der Rechner in Betrieb. Cora nahm hinter dem Schreibtisch Platz und öffnete das Speicherkarten-Etui, das sie dem Tresor entnommen hatte. Im Innern befanden sich zwei Speicherkarten, die lediglich mit den Ziffern 1 und 2 beschriftet waren. Sie nahm die Karte mit der 1 und schob sie in das Kartenlesegerät des Laptops.

Die Daten wurden eingelesen, dann öffnete sich auf dem Bildschirm ein Menü mit mehreren Auswahlmöglichkeiten. Cora entschied sich für die Option, die es ihr erlaubte, den Ordner zu öffnen, um die Dateien anzuzeigen. Einen Augenblick später öffnete sich ein Fenster, und Cora hatte den Inhalt des Datenträgers vor sich. Es gab jedoch nur eine einzige Datei, und bei dieser handelte es sich um eine Videodatei.

Cora doppelklickte auf die Datei, die den unverfänglichen Namen »Film1« trug, und wartete dann ungeduldig darauf, dass die Aufnahme abgespielt wurde.

3

Schon als Cora damals den Plan zur Ermordung ihres Ehemanns und anschließenden Beseitigung der Leiche gefasst hatte, war ihr bewusst gewesen, dass Sascha früher oder später zum Problembären werden könnte.

Sie konnte sich nämlich partout nicht vorstellen, mit ihm den Rest ihres Lebens zu verbringen und alt zu werden. Als Liebhaber und gelegentlicher Sexualpartner war er aufgrund seiner körperlichen Vorzüge unschlagbar, doch als Lebenspartner wegen seiner intellektuellen Defizite vermutlich ein Reinfall.

Die entscheidende Frage hatte also gelautet: Wie sollte sie sicherstellen, dass Sascha sie nicht mit seinem Wissen erpresste, wenn sie seiner irgendwann müde wurde und ihm den Laufpass gab. Schließlich hatte er sie in der Hand, denn er brauchte der Polizei nur einen anonymen Hinweis auf den Ort im Ebersberger Forst zu geben, an dem er Markus verscharrt hatte, und einfach behaupten, Cora hätte ihren Mann umgebracht. Sie hatte zwar ein Alibi für den Tattag, doch wenn der genaue Tatzeitpunkt nach mehreren Monaten in der Erde möglicherweise gar nicht mehr feststellbar war, war dieses Alibi nicht mehr viel wert. Sie wiederum konnte dann im Gegenzug schlecht auf Sascha zeigen und ihn des Mordes bezichtigen, ohne ihre eigene Mittäterschaft zu offenbaren. Denn wie sollte sie sonst den Mörder kennen, wenn sie ihn nicht selbst mit dem Mord beauftragt oder ihm – beispielsweise indem sie ihm einen Ersatzschlüssel gegeben und den Code für die Alarmanlage verraten hatte – sogar dabei geholfen hatte.

Um dem vorzubeugen, hatte sie, bevor sie zu ihren Eltern gefahren war, zwei kabellose Miniatur-Überwachungskameras besorgt und an unauffälligen Stellen in der Wohnung deponiert. Die Kameras schalteten sich zu einem zuvor von ihr einprogrammierten Zeitpunkt ein, filmten alles, was sich in den nächsten Stunden vor ihren Weitwinkel-Objektiven abspielte, in bester HD-Qualität und speicherten die Aufnahmen auf den Micro-SD-Karten.

Von den Kameras und den Aufnahmen hatte sie Sascha natürlich nichts erzählt. Sie wollte ihn erst dann damit konfrontieren, wenn es irgendwann notwendig werden sollte, um ihn davon abzuhalten, Dummheiten zu begehen. Immerhin würden die Aufnahmen beweisen, dass Sascha in jener Nacht in ihr Haus eingedrungen war und Markus umgebracht hatte. Und Beweise, dass sie ihn dazu angestiftet oder auch nur dazu ermutigt hatte, gab es hingegen nicht.

Doch so, wie es jetzt, nach dem Anruf der Ermittlerin aussah, hatte Sascha überhaupt keinen Mord begangen, sondern allenfalls einen gescheiterten Mordversuch.

Cora hatte sich die Aufnahmen bislang noch gar nicht angesehen. Sie hatte zwar erstaunlicherweise keinerlei Skrupel dabei empfunden, den Mann umbringen zu lassen, mit dem sie seit mehr als zwei Jahrzehnten liiert war, doch bei dem Gedanken, den Mord mitansehen zu müssen, hatte sie ein mulmiges Gefühl.

Doch nun führte aufgrund der neuesten Entwicklungen kein Weg daran vorbei. Sie musste sich die Aufnahmen ansehen, um zu überprüfen, was damals hier im Haus geschehen war und warum Sascha versagt hatte.

Denn ihr gegenüber hatte er behauptet, dass die Sache erledigt und alles nach Plan gelaufen wäre, als sie ihn auf der Rückfahrt von ihren Eltern von einem öffentlichen Fernsprecher ungefähr auf halber Strecke angerufen hatte.

Ohne dass es Cora bewusst wurde, vollführte sie mit ihrem Zeigefinger erneut kleine Kreise auf ihrem Kopf und wickelte ihre Haare um ihren Finger. Dann startete endlich die Aufnahme der ersten Kamera, und Cora hielt die Luft an.

4

Doch schon bald ließ Cora die angehaltene Luft wieder entweichen, denn die ersten Bilder, die sie sah, waren wenig spektakulär. Schließlich hatte sie die Kamera sicherheitshalber so programmiert, dass die Aufnahme bereits um neun Uhr abends startete, also eine Stunde vor dem Zeitpunkt, an dem Sascha ins Haus kommen und den Mord begehen sollte. Diese Zeit und das Datum wurden auch am unteren linken Bildrand eingeblendet.

Sie hatte die erste Kamera in Augenhöhe an der Garderobe im Eingangsbereich befestigt. Rechts und links hingen Jacken, sodass sie nicht so leicht zu entdecken war. Lediglich in der Bildmitte befand sich ein schmaler vertikaler Streifen, der die Haustür und den Bereich unmittelbar davor zeigte. Die Qualität der Aufnahme war hervorragend, man konnte sogar kleinste Details deutlich erkennen. Auch die Beleuchtung war ausreichend, denn Markus hatte immer überall das Licht brennen lassen und sich wenig um ihre ständigen Bitten gekümmert, die Lichter auszumachen, wenn er das Zimmer verließ, um umweltbewusst zu handeln und Energie zu sparen.

Cora griff nach der Maus und bewegte damit den Schieber der unteren Menüleiste so weit nach rechts, dass die Aufnahme um fünfundfünfzig Minuten vorgespult wurde. Die Szene veränderte sich zwar nicht, als handelte es sich nur um ein Foto, doch die Uhrzeit wechselte und zeigte jetzt 21:55 an.

Cora wartete zwei Minuten, den Blick starr auf das Videobild gerichtet, das allerdings weiterhin unverändert blieb. Allmählich wurde sie ungeduldig. Wieso tauchte Sascha nicht endlich auf? Hatte sie ihm denn nicht eingetrichtert, dass er pünktlich sein sollte? Schließlich hielt sich Markus zum damaligen Zeitpunkt vermutlich in seinem Arbeitszimmer auf, um auf Coras angekündigten Anruf zu warten, der allerdings nicht kommen würde. Doch wenn sich Sascha arg verspätete und der Anruf ausblieb, würde Markus das Arbeitszimmer möglicherweise schon bald wieder verlassen. Und die günstige Gelegenheit für Sascha, unbemerkt ins Haus zu kommen und ihren Mann zu überraschen, wäre wahrscheinlich dahin. Lag hier also die Ursache für Saschas Versagen? Hatte er letztendlich nur versagt, weil er aus irgendeinem Grund zu spät gekommen war?

Es juckte ihr in den Fingern, erneut ein Stück zu überspringen, doch sie hatte Angst, sie könnte dadurch den Moment verpassen, in dem Sascha das Haus betrat. Also ließ sie es bleiben und seufzte nur frustriert.

Und tatsächlich, eine halbe Minute später wurde ihre Geduld belohnt.

Die Haustür öffnete sich weit genug, damit sich eine große breitschultrige Gestalt hindurchschieben konnte. Dann wurde sie sofort wieder geschlossen.

Alles spielte sich in absoluter Lautlosigkeit ab, doch das lag nicht etwa daran, dass sich der Eindringling völlig geräuschlos bewegte, sondern allein daran, dass die Miniatur-Überwachungskameras lediglich Bilder und keinen Ton lieferten.

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, sah sich der Mann um. Er entdeckte die Funk-Alarmzentrale, die genau dort an der Wand hing, wo Cora es ihm beschrieben hatte. Sollte er nicht innerhalb der nächsten Sekunden den korrekten PIN-Code eintippen, würde die Anlage Alarm auslösen. Doch der Eindringling reagierte endlich, trat an das Gerät und gab den richtigen Code ein, den er anscheinend vom rechten Handgelenk ablas, wo er ihn notiert hatte, um ihn nicht zu vergessen. Dann blieb er für ein paar Sekunden reglos stehen und schien konzentriert zu lauschen.

Der Mann war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und trug Lederstiefel, Jeans, dünne Handschuhe und einen Kapuzenpulli. Die Kapuze hatte er allerdings nicht hochgeschoben.

Obwohl Cora das Gesicht des Mannes bislang noch nicht gut genug gesehen hatte, war seine markante Gestalt in ihren Augen dennoch unverkennbar. Trotz der Kleidung konnte sie die trainierten Muskeln erkennen, die sie schon so oft in natura und unverpackt gesehen und bewundert hatte. Dennoch hoffte sie, Sascha würde sich endlich umdrehen, um der Kamera sein Gesicht zu zeigen.

Und als hätte er ihren stummen Wunsch aus der Zukunft gehört, drehte er sich in diesem Moment tatsächlich um und wandte der versteckten Kamera seine Frontseite zu. Das Abbild seines Gesichts auf dem Monitor war gestochen scharf und unverkennbar und würde jeden Kriminalbeamten, Staatsanwalt und Richter davon überzeugen, dass es Sascha gewesen war, der in der Nacht, als Markus verschwand, ins Haus eingedrungen war. Sollte er es dennoch abstreiten wollen, würde er sich angesichts dieser Aufnahme nur der Lächerlichkeit preisgeben. Und falls er behauptete, Cora hätte ihm nicht nur den Code für die Alarmanlage, sondern auch den Hausschlüssel gegeben, dann konnte er das nicht beweisen, denn wie Cora es von ihm verlangt hatte, hatte er den Schlüssel auf der Flurkommode neben dem Telefon deponiert, bevor er wieder verschwunden war.

Cora bemerkte erst jetzt, dass sie breit grinste, denn ihr Plan, mit den heimlichen Videoaufnahmen ein Druckmittel in der Hinterhand zu haben, war aufgegangen. Und sollte die Polizei für den Fall, dass sie es tatsächlich einsetzen musste, fragen, warum sie die Aufnahmen nicht gleich präsentiert hatte, würde sie einfach behaupten, dass sie sie erst jetzt entdeckt hatte, weil Markus die Kameras ohne ihr Wissen angebracht hatte, möglicherweise aus Angst vor genau dem Mann, der nun auf den Aufnahmen zu sehen war.

 

Doch dann verblasste ihr Grinsen wieder, als ihr erneut bewusst wurde, dass sich durch Markus’ Auftauchen ohnehin alles verändert hatte. Es gab nämlich gar keinen Mord, für den Sascha und sie hinter Gitter kommen konnten. Sascha hatte niemanden ermordet, und sie hatte sich weder der Anstiftung noch der Beihilfe schuldig gemacht. Alles, was geschehen war, war nur ein versuchter Mord, der zwar ebenfalls strafbar war, doch das auch nur dann, wenn Markus seine Erinnerungen daran wiedererlangte.

Doch dazu würde es nicht kommen, wenn Cora dabei ein Wörtchen mitzureden hatte. Sie wusste zwar noch nicht, wie sie es anstellen sollte, Markus umzubringen – und dieses Mal wirklich und endgültig –, ohne nach seinem Verschwinden und Wiederauftauchen Verdacht zu erregen, doch irgendetwas würde ihr schon einfallen. Dabei wäre ein Unfall nach allem, was passiert war, vermutlich am besten und effektivsten. Aber nicht sofort, sondern erst in ein paar Wochen, wenn etwas Gras über die Sache gewachsen war. Und bis dahin konnte Cora nur hoffen, dass Markus seine Erinnerungen nicht zurückbekam.

Doch im Augenblick hatte Cora noch keine Zeit, sich mit der Ausarbeitung eines neuen Plans zu beschäftigen, da die Aufnahmen der verborgenen Überwachungskamera im Eingangsbereich ihre volle Aufmerksamkeit erforderte.

Nachdem Sascha eine Weile an Ort und Stelle ausgeharrt und gelauscht hatte, nickte er nun zufrieden und lächelte dabei.

Cora überlegte, ob sie dieses Bild ausdrucken sollte, um es Sascha für den Fall des Falles als Beweis zu präsentieren, dass sie tatsächlich im Besitz von Videoaufnahmen von ihm am Tatabend war. Doch sie entschied, dass sie darauf momentan noch verzichten konnte. Wozu schlafende Hunde wecken? Außerdem wollte sie vorerst keine Beweise fabrizieren, die in die falschen Hände gelangen und sie beide in Teufels Küche bringen konnten.

Stattdessen beobachtete sie aufmerksam, was weiter geschah. Obwohl sie wusste, wie es ausging, war sie dennoch gespannt und aufgeregt. Es war wie bei diesem Film über die Titanic, denn da hatte sie auch von vornherein gewusst, wie es endete, und die Handlung gleichwohl gebannt verfolgt.

Sascha hob seine riesigen Hände, bei deren Anblick ein wohliger Schauer über ihren ganzen Körper lief, weil sie wusste, wie zärtlich er mit diesen Händen sein konnte, die aussahen, als könnte er damit einen anderen Mann ohne allzu große Mühe entzweibrechen.

Doch trotz all seiner Kraft war es ihm letztendlich nicht gelungen, Markus wie geplant zu ermorden. Und Cora wollte endlich wissen, warum nicht.

Sascha ergriff die Kapuze und schob sie sich über den Kopf, sodass sein Gesicht im Schatten lag und nicht mehr zu erkennen war. Cora war froh, dass er das nicht schon vor dem Haus getan hatte. Doch jetzt war es ihr egal, da sein Gesicht bereits auf der Aufnahme verewigt war.

Dann setzte sich Sascha abrupt in Bewegung und verließ den Bereich, den das Objektiv der Kamera erfasste.

Cora überlegte kurz, ob sie sich das Ende der Aufnahme ansehen sollte, wenn Sascha das Haus wieder verließ, beschloss aber, sich alles in chronologischer Reihenfolge anzuschauen. Erst wollte sie sehen, was die andere Kamera aufgezeichnet hatte. Möglicherweise erfuhr sie auf diese Weise auch eher, was schiefgelaufen war.

Also stoppte sie das Video, merkte sich die angezeigte Uhrzeit und entfernte dann die Speicherkarte, um sie durch die zweite zu ersetzen.

Die zweite Überwachungskamera hatte sie in Markus’ Arbeitszimmer in einem Bücherregal deponiert. Sie hatte dort auf einem der Fachbücher im Schatten gelegen, sodass sie im Grunde nur dann entdeckt worden wäre, wenn jemand zufällig das betreffende Buch herausgenommen oder gezielt danach gesucht hätte. Doch beides war an jenem Abend nicht unbedingt zu befürchten gewesen und auch nicht eingetreten.

Die Aufnahme startete eine halbe Stunde nach der im Eingangsbereich und zeigte durch das Weitwinkel-Objektiv einen großen Ausschnitt des Arbeitszimmers. Markus’ wuchtiger Schreibtisch aus dunklem Holz war von der Seite zu sehen und bildete den Mittelpunkt. Das Licht brannte zwar, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, doch Markus war nicht zu sehen. Allerdings war es dafür auch noch zu früh, denn Coras Anruf sollte erst in einer halben Stunde erfolgen.

Cora bewegte mit der Maus den Schieberegler und spulte nach vorn, bis die digitalen Ziffern exakt die Uhrzeit anzeigten, die sie sich von der anderen Aufnahme gemerkt hatte.

Nun war Markus zu sehen, der hinter seinem Schreibtisch saß, sein Handy ans Ohr hielt und mit jemandem telefonierte.

Cora presste verärgert die Lippen aufeinander. Sie hatte damit gerechnet, dass Markus auf ihren Anruf wartete. Doch stattdessen telefonierte er und schien völlig vergessen zu haben, dass sie für diese Uhrzeit ihren zweiten Anruf angekündigt hatte. Mit wem spricht er da bloß? Cora spürte einen unerwarteten Stich der Eifersucht, doch dann entspannte sie sich wieder. Sie kannte ihren Mann nämlich gut genug, um zu sehen, dass er in diesem Moment wütend war und lautstark ins Telefon sprach. Schade, dass sie nicht hören konnte, was er sagte. Doch es sah so aus, als hielte er seinem Gesprächspartner eine gehörige Standpauke.

Ihr Blick wanderte zur Zeitanzeige, die nun zweiundzwanzig Uhr drei anzeigte. Laut Plan sollte Sascha längst vor der Tür stehen, die prinzipiell geschlossen war, wenn Markus telefonierte, und auf einen geeigneten Moment warten, um ihn zu überraschen. Durch das Schlüsselloch konnte er sowohl den Schreibtisch als auch den Mann dahinter sehen.

Cora spürte, dass ihre Hände feucht waren. Das Wissen, dass Sascha in diesem Moment bereits vor der Tür war und darauf lauerte, sie endlich aufreißen und hereinstürmen zu können, um den ahnungslosen Mann hinter dem Schreibtisch zu ermorden, ließ ihr Herz schneller schlagen. Und obwohl sie schon wusste, wie die Sache ausgegangen war, war sie gleichwohl gespannt, was als Nächstes passieren würde.

Markus telefonierte noch immer, hörte jetzt aber aufmerksam zu. Dabei schüttelte er mehrmals den Kopf, als wäre er mit dem, was er hörte, alles andere als einverstanden.

Er stand auf und umrundete den Schreibtisch, als wollte er das Arbeitszimmer verlassen. Doch das tat er nicht, denn sonst wäre er unweigerlich auf Sascha gestoßen. Stattdessen begann er, auf der freien Fläche vor dem Schreibtisch hin und her zu marschieren, wie er es während des Telefonierens manchmal tat. Er hatte nur Platz gebraucht, weil er allem Anschein nach zu erregt und wütend war, um weiterhin auf seinem Chefsessel hinter dem Schreibtisch zu verharren. Noch ein Zeichen, wie aufgewühlt und aufgebracht er war.

Plötzlich blieb er mit dem Rücken zur Tür stehen, gestikulierte mit der freien linken Hand, um seine Worte zu unterstreichen, und sprach in sein Smartphone.

Cora konnte die Tür zum Flur nicht sehen, da sie außerhalb des Bereichs lag, den die Kamera erfasste, spürte es jedoch trotzdem, als sie aufgerissen wurde. Im nächsten Moment tauchte auch schon die große, schwarz gekleidete Gestalt mit der übergestülpten Kapuze im Bild auf und stürzte sich auf Markus, der noch immer mit dem Rücken zur Tür stand und nicht wusste, wie ihm geschah und was mit der Brachialgewalt eines mittelschweren Hurrikans plötzlich über ihn herfiel.