DAS BUCH ANDRAS II

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From the series: DAS BUCH ANDRAS #2
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Es handelte sich um eine kleine fensterlose Kammer, die nicht viel größer war als ein normales Kellerabteil. Vor den rohen unverputzten Wänden standen einfache Metallregale, die nichts anderes enthielten als Aktenstapel unterschiedlicher Höhe. Insgesamt musste es sich um mehrere Hundert Akten handeln, die Dr. Schwarzer an diesem Ort versteckt hielt. Allerdings wusste ich noch immer nicht, ob sie lediglich hochsensibles Material enthielten, das mit der beruflichen Tätigkeit des Anwalts zu tun hatte, oder ob es sich, wie ich hoffte, tatsächlich um geheime Dokumente der Satanisten handelte. Möglicherweise sammelte Dr. Schwarzer hier auch nur Daten über seine zahlreichen Gegner – angefangen bei den Behörden über die Religionsgemeinschaften bis zum geheimen Netzwerk, dem Direktor Engel und Karl Augstein angehörten –, um sie zu erpressen, ihnen zu schaden oder sie in der Öffentlichkeit in Verruf zu bringen.

Der einzige Weg, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, bestand darin, den versteckten Aktenraum endlich zu betreten und die Schriftstücke zu untersuchen. Denn wenn wir noch länger vor der Schwelle standen und Maulaffen feilboten, würden wir lange darauf warten müssen, dass uns die Wahrheit offenbart wurde.

»Das ist ein Bingo!«, rief Michael in diesem Moment und riss mich aus meinen Gedanken. Ich blickte zu ihm hinüber und bemerkte, dass er die Aktenstapel mit glänzenden Augen ansah, als hätte er soeben einen unermesslich wertvollen Schatz gefunden. Ohne ein weiteres Wort trat er durch die Öffnung im Regal und in den Geheimraum.

Ich folgte seinem Beispiel und stellte mich direkt neben ihn. Die Metallregale beanspruchten bereits so viel Raum, dass zwei Personen gerade noch Platz hatten, ohne sich allzu sehr in die Quere zu kommen. Mehr Leute hätten beim besten Willen nicht hereingepasst, aber vermutlich war die Kammer ohnehin nur für eine einzige Person konzipiert worden – für Dr. Schwarzer höchstpersönlich.

Ich sah mich noch einmal um und stellte sicher, dass die Geheimtür weiterhin offen und eingerastet war. Allein bei dem fürchterlichen Gedanken, sie könnte hinter uns ins Schloss fallen und uns in diesem engen, an eine Grabkammer erinnernden Ort einschließen, wo wir womöglich langsam und erbärmlich ersticken mussten, brach mir bereits eiskalter Angstschweiß aus.

»Wenn ich das alles nur mitnehmen könnte oder zumindest genug Zeit hätte, jedes einzelne Dokument anzusehen oder sogar zu fotografieren«, murmelte Michael enttäuscht. Er hatte die oberste Akte des nächsterreichbaren Stapels zur Hand genommen und blätterte darin. Er schien meine Gegenwart überhaupt nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, so vertieft war er in das, was er zu lesen bekam. »Das ist ja hochinteressant!«, flüsterte er. Dann las er mit großen Augen lautlos weiter, wobei sich allerdings seine Lippen im Einklang zu den gelesenen Worten bewegten. Wahrscheinlich ein Hinweis darauf, wie sehr ihn diese Entdeckung innerlich aufwühlte und den Spürhund in ihm vor Jagdeifer hecheln ließ.

»Deswegen sind wir allerdings nicht hier«, erinnerte ich ihn an den eigentlichen Zweck unseres »Besuchs« an diesem Ort und versetzte seiner Begeisterung einen Dämpfer. Er ließ auch sogleich die Akte in seinen Händen sinken und warf mir einen missmutigen Blick zu, als wäre ich der übelste Spielverderber der Welt. Dann nickte er jedoch einsichtig, schloss die Akte widerstrebend und legte sie auf den Stapel zurück, von dem er sie genommen hatte.

Ich nahm mir ebenfalls ein Schriftenbündel von einem anderen Stapel und sah mir das Deckblatt an. Mit dickem schwarzem Filzstift war in Großbuchstaben ein Name darauf geschrieben worden, allerdings nur der Vorname und die Initiale des Nachnamens. Vermutlich war es gar nicht so einfach, aufgrund dieser Vorgaben herauszufinden, welche Personen sich hinter den jeweiligen Namenskürzeln verbargen. Und wahrscheinlich war das auch der Sinn dieser Maßnahme. Allerdings konnte ich mir vorstellen, dass eine Behörde wie das LKA sowohl die personellen als auch die technischen Kapazitäten und Möglichkeiten dafür hatte. Allerdings interessierten mich diese Namen im Augenblick nicht im Geringsten, denn ich war auf der Suche nach Unterlagen, die meine eigene Person betrafen und daher folgerichtig mit Sandra D. betitelt sein mussten.

Während Michael auf seiner Seite ebenfalls eifrig Akten wälzte und durchsuchte, sah ich mir die obersten Deckblätter mehrerer Stapel an, las die Namenskürzel, die darauf standen, und versuchte, hinter das Ordnungssystem zu kommen, das hier verwendet wurde. Denn irgendein System musste es geben, wollte sich Dr. Schwarzer nicht mehrere Hundert Namen und den Aufbewahrungsort der jeweiligen Akte merken, was selbst einen so scharfsinnigen und intelligenten Mann wie ihn auf Dauer überfordern dürfte. Außerdem hielt ich ihn, so wie sein Büro aussah, für einen zwanghaft ordentlichen Menschen, der gern alles an seinem Platz hatte. Er würde nicht nur deshalb, sondern auch aus reinen Praktikabilitätsgründen die Schriftenbündel in einer bestimmten Ordnung aufbewahren, die ihn einzelne Dokumente rasch wiederfinden ließen, und nicht einfach alles durcheinander und kreuz und quer aufbewahren.

Rasch erkannte ich, dass die Akten nicht, wie es sonst allgemein üblich war, alphabetisch nach den Nachnamen geordnet waren, von denen ohnehin nur der jeweilige Anfangsbuchstabe angegeben war, sondern ausnahmsweise nach den Vornamen. Erst bei zwei oder mehreren übereinstimmenden Vornamen entschied dann das Initial des Nachnamens, welche Akte zuerst kam.

Ich warf einen kurzen Seitenblick auf Michael, der eine Akte nach der anderen aufschlug und es nicht lassen konnte, gelegentlich die eine oder andere Passage durchzulesen. Vielleicht erkannte er manche der Personen und machte sich im Geist Notizen über die Dinge, die er auf diese Weise eher zufällig erfuhr.

Ich suchte derweil nach den Akten, bei denen die Vornamen wie bei meinem eigenen Namen mit einem S anfingen. Als ich den entsprechenden Stapel schließlich gefunden hatte, blätterte ich die einzelnen Akten rasch durch, indem ich die jeweils oberste nahm, kurz das Deckblatt ansah und sie dann zur Seite legte. Allerdings fand ich auch auf diese methodische Art und Weise keine Akte, auf der mein Name stand, obwohl ich mir sicher war, jede einzelne infrage kommende Akte sorgfältig kontrolliert zu haben, bei denen der Vorname mit einem S begann.

»Verdammt!«, entfuhr es mir, während die Verzweiflung erneut nach meinem Herzen griff und es zusammenzudrücken begann, bis es in meiner Brust rasend schnell schlug und dabei leicht schmerzte. »Sie ist nicht da!«

Michael wusste natürlich sofort, wovon die Rede war. »Sind Sie sich absolut sicher?«

Ich nickte nur und schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten, die unwillkürlich fließen wollten. Meine Gedanken wirbelten wie in einer Achterbahn wild umher, und ich war für eine ganze Zeit lang nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Doch dann gelang es mir, mich selbst gedanklich zur Vernunft zu rufen, als ich endlich einsah, dass mich pure hirnlose Verzweiflung keinen einzigen Schritt voranbringen würde. Mühsam lenkte ich meine durcheinandertorkelnden Gedankengänge wieder in halbwegs vernünftige Bahnen und erklärte Michael dann, wie ich das Ordnungssystem der Akten durchschaut und danach trotzdem vergeblich nach einer Akte mit meinem Namen gesucht hatte.

Er zog die Stirn in Falten und dachte selbst eine Weile intensiv nach. »Noch besteht kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen«, sagte er schließlich und fasste das Ergebnis seiner Überlegungen dann in Worte, indem er verschiedene Erklärungen dafür aufzuzählen begann, warum meine Suche bislang erfolglos geblieben war: »Vielleicht bewahrt Dr. Schwarzer Ihre Akte aufgrund ihrer Bedeutung für ihn und seine Organisation woanders auf. Oder es gibt ein zusätzliches Ordnungsprinzip, wonach besonders wichtige Akten – und Ihre Akte dürfte Dr. Schwarzer überaus wichtig sein, das können Sie mir glauben – in einem separaten Stapel abgelegt werden. Es kann aber natürlich auch sein, dass Ihre Akte unter einem anderen Namen angelegt wurde. Schließlich wurden Sie, wie Sie mir gesagt haben, von den Dorns adoptiert. Und wer sagt uns, dass Sandra überhaupt Ihr richtiger Vorname ist?«

Ich riss verblüfft die Augen auf, denn an diese Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht. Bis jetzt war ich davon ausgegangen, dass mein Vorname das einzig Beständige war, das mir von meiner Vergangenheit geblieben war. Nachdem ich vor zwei Tagen im Sanatorium zu mir gekommen war und meinen Namen erfahren hatte, hatte mir das ein Minimum meiner verlorenen Identität zurückgegeben. Als mir dann aber mitgeteilt worden war, dass ich nur adoptiert worden und Dorn überhaupt nicht mein richtiger Nachname war, war mir nur noch mein Vorname geblieben. Und jetzt wurde sogar dieser kümmerliche Rest meiner wahren Persönlichkeit, an den ich mich bisher geklammert hatte wie ein Schiffbrüchiger auf hoher See an einen alten Rettungsring, infrage gestellt. Ich schluckte zwar und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, aber das Schicksal hatte mir in letzter Zeit schon zu viele Nackenschläge verpasst, sodass ich wohl auch diesen überstehen würde.

Obwohl ich gar nicht mehr zugehört hatte, hatte Michael seine Aufzählung noch um ein paar Möglichkeiten erweitert. Ich wollte ihn bereits stoppen, indem ich mit den Händen den Buchstaben T formte, das Zeichen für eine Auszeit, als er auch schon von selbst innehielt, als wäre ihm urplötzlich etwas Wichtigeres durch den Kopf geschossen. Dann fragte er mich aufgeregt: »Haben Sie eigentlich schon unter A nachgesehen? A wie Andras! Vielleicht haben Sie und Ihr Bruder eine gemeinsame Akte – schließlich sind Sie Zwillinge –, und sind beide unter einem Namen, und zwar dem Ihres Bruders, eingeordnet.«

Mein Herz schlug wieder schneller, denn die Idee, unter Andras’ Namen nachzusehen, war natürlich naheliegend, auch wenn ich nicht selbst darauf gekommen war. Mit zitternden Händen suchte ich zunächst nach dem entsprechenden Stapel, der alle Akten mit Vornamen enthielt, die mit A anfingen. Danach dauerte es auch gar nicht mehr lange, bis ich endlich den richtigen Aktenhefter in Händen hielt, denn die Akte, die ich gesucht hatte, lag auf dem Stapel an oberster Stelle. Anscheinend hatte Dr. Schwarzer sie sich erst vor Kurzem angesehen und anschließend der Einfachheit halber oder in Eile ganz oben auf den Stapel gelegt, anstatt sie wieder, dem grundlegenden Ordnungssystem folgend, an der richtigen Stelle einzusortieren.

 

Michael hatte mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen. Auf dem Deckblatt stand in großen schwarzen Buchstaben die Aufschrift Andras B. Darunter hatte die gleiche Person in etwas kleinerer Schrift und in Klammern Sandra B. geschrieben. Das Initial des Nachnamens irritierte mich im ersten Augenblick, und ich dachte zunächst, ich hätte doch wieder einen falschen Hefter erwischt. Doch die beiden Vornamen passten haargenau, und die Möglichkeit, dass es ein weiteres Geschwister- oder Ehepaar mit diesen zumindest zum Teil weniger geläufigen Vornamen gab, war einfach zu gering. Um ganz auf Nummer sicher zu gehen, sahen wir uns allerdings auch noch die übrigen Akten des Stapels der Reihe nach an, fanden jedoch keinen weiteren Hefter mit diesen Namen. Dies alles ließ nur die einzig logische Schlussfolgerung zu, dass ich letztendlich tatsächlich die richtige Akte in Händen hielt. Ich presste den Ordner wie einen Schatz an meine Brust, als befürchtete ich, jemand könnte sie mir jeden Moment entreißen wollen.

Michael warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden! Andernfalls würden wir unser Glück nur über Gebühr strapazieren.«

Ich nickte zustimmend. Für mich gab es schließlich keinen Grund mehr, länger hier zu bleiben, denn ich hatte gefunden, wonach ich gesucht hatte und weswegen ich hierhergekommen war. Obwohl mir die entscheidende Frage, was die Akte enthielt und mir offenbaren würde, auch Angst machte, hätte ich den Inhalt des schmalen Hefters aus dunkelblauer Pappe am liebsten gleich hier an Ort und Stelle studiert. Doch ich musste mich in Geduld üben, bis wir wieder an einem sicheren Ort waren.

Michael warf einen letzten wehmütigen Blick auf die restlichen Akten, die wir nicht mitnehmen, sondern an Ort und Stelle zurücklassen mussten. Dann verließen wir einer nach dem anderen die Geheimkammer. Michael löste die Regaltür mit einem leichten Ruck aus ihrer Verankerung und schob sie wieder zu, bis sie mit einem gedämpften Klicken an ihrem ursprünglichen Platz einrastete und von dem verborgenen Durchgang nichts mehr zu erahnen war. Wahrscheinlich wurde auch das Licht im Innern automatisch gelöscht. Die hölzerne Figur mit dem menschlichen Körper und dem Kopf eines Kauzes nahm ebenfalls wieder ihre ursprüngliche Position ein, sodass nichts mehr darauf hinwies, dass jemand in dieser Nacht den Zugang zur Geheimkammer geöffnet hatte. Das einzige Indiz, woran man es dennoch feststellen würde, war natürlich die fehlende Akte. Sie würde Dr. Schwarzer nicht nur beweisen, dass ein Unbefugter sein geheimes Aktenversteck entdeckt und betreten hatte, sondern ihm auch die Identität des Diebes verraten, denn wer anderes als ich sollte diese spezielle Akte stehlen wollen. Doch diese Erkenntnisse bekümmerten mich momentan nicht im Geringsten. Das Einzige, was ich wirklich bedauerte, war der Umstand, dass ich nicht Dr. Schwarzers Gesicht sehen konnte, sobald er den Diebstahl entdeckte.

Auf dem Weg zur Tür sahen wir uns noch einmal sorgfältig um, ob wir auch alles so hinterließen, wie wir es vorgefunden hatten. Das Büro sah allerdings noch genauso aus wie zu dem Zeitpunkt, als wir es betreten hatten. Zwar würde Dr. Schwarzer spätestens dann bemerken, dass Unbefugte hier eingedrungen waren, sobald er Andras’ und meine Akte benötigte, aber bis zu diesem Zeitpunkt würde weder er noch sonst ein Mitarbeiter der Kanzlei Verdacht schöpfen.

Zufrieden, dass wir keine verräterischen Spuren hinterlassen hatten und unsere Mission erfolgreich verlaufen war, verließ ich vor meinem Begleiter den Raum. Michael löschte das Licht, das allem Anschein nach tatsächlich von niemandem bemerkt worden war, und machte die Tür zu. Anschließend versperrte er das Schloss wieder.

Wir nahmen erneut den mittleren Gang, den wir bereits auf dem Weg hierher benutzt hatten, da er die kürzeste und schnellste Verbindung zum Ausgang darstellte. Ein Rundgang durch den Rest der Kanzlei wäre zu diesem Zeitpunkt nicht nur absolut unnötig, sondern auch riskant gewesen. Denn auch wenn ich das Gefühl hatte, das die Sache gelaufen war, waren wir in Wahrheit noch längst nicht in Sicherheit. Selbst auf den letzten Metern bestand noch immer die Gefahr, dass wir entdeckt wurden.

Ich atmete erleichtert auf, als endlich die Eingangstür im Licht von Michaels Stablampe auftauchte. Doch als wir nur noch wenige Meter von der Tür zum Treppenhaus entfernt waren, hörte ich plötzlich laut und deutlich, dass von der anderen Seite ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und anschließend gedreht wurde. Michael und ich standen, als wären wir zu menschlichen Salzsäulen erstarrt, für jedermann sichtbar mitten im Flur, als uns bewusst wurde, dass trotz der frühen Tageszeit jemand in die Kanzleiräume kam und uns, sollten wir uns nicht schnell genug verstecken können, jeden Augenblick entdecken würde.

Kapitel 5

Bei den beiden Personen, die trotz der ungewöhnlichen Tageszeit das Büro betreten hatten, handelte es sich um eine Frau und einen Mann. Nachdem sie durch die Tür hereingekommen waren und diese wieder geschlossen hatten, waren sie in der Nähe des Empfangstresens stehen geblieben und unterhielten sich nun dort in normaler Lautstärke.

Die Tür zum Treppenhaus hatten sie nicht wieder abgesperrt, sondern nur ins Schloss fallen lassen. Das bedeutete unter Umständen, dass sie nicht beabsichtigten, sich allzu lange im Büro aufzuhalten. Aber selbst für den Fall, dass sie länger bleiben wollten, würden sie vermutlich früher oder später in einem der zahlreichen Büros oder sonstigen Räume verschwinden. Und Michael und ich wären dann endlich in der Lage, die Kanzlei zu verlassen, ohne dass Michael mit seinem elektronischen Dietrich das Türschloss auf- und wieder zusperren musste. Aber bis es so weit war, mussten wir dafür sorgen, dass wir weiterhin unentdeckt blieben.

Wir befanden uns nur wenige Schritte von den beiden Neuankömmlingen entfernt. Dicht nebeneinanderstehend pressten wir unsere Rücken gegen die Tür des Kopierraums, in den wir uns geflüchtet hatten und in dem es intensiv nach Tonerpulver roch. Angestrengt lauschten wir auf die Stimmen, die durch das dünne Holz des Türblatts kaum gedämpft wurden und so klangen, als stünden die beiden Personen direkt vor der Tür zu unserem Versteck.

Mein Herz klopfte so laut und heftig, dass ich befürchtete, die anderen könnten es entweder hören oder es würde jeden Augenblick zerspringen. Während mir dicke Schweißperlen auf die Stirn traten, hoffte ich inständig, dass keiner der beiden Leute dort draußen einen Grund hatte, ausgerechnet in diesen Raum zu kommen.

»Vielleicht können Sie mir ja jetzt endlich verraten, warum Dr. Schwarzer mich um diese Zeit hierher beordert hat?«, fragte die Frau in diesem Moment. Aufgrund der wenigen knappen Sätze, die sie bereits gewechselt hatten, war deutlich geworden, dass die Frau – offensichtlich die Büroleiterin – damit beauftragt worden war, den Mann in die Kanzleiräume zu lassen, da er nicht hier tätig war und daher auch keinen eigenen Schlüssel besaß. Anscheinend hatten sie sich vor dem Haus getroffen und besprachen nun hier im Flur die Angelegenheit.

Ich hoffte inständig, dass sie damit bald fertig waren und zu ihrem eigentlichen Bestimmungsort weitergingen, damit wir endlich von hier wegkamen. Die Akte, die ich immer noch mit beiden Armen gegen meine Brust presste, schien allmählich glühend heiß zu werden und ein Loch durch das T-Shirt und in mein Fleisch zu brennen. Vermutlich lag das aber nur daran, dass es sich bei ihr um Diebesgut, also um sprichwörtliche heiße Ware handelte.

»Ich soll hier wichtige Unterlagen für den Chef abholen, Frau Bernbacher«, antwortete der Mann und ließ durch seinen schneidenden Tonfall keinen Zweifel daran, dass sie die Anweisungen des Chefs nicht zu hinterfragen hatten, sondern am besten möglichst rasch und buchstabengetreu befolgten.

»Können Sie mir wenigstens sagen, um welche Unterlagen es sich dabei konkret handelt, Herr Oswald?«

Ein gedämpftes Rascheln war zu hören. Möglicherweise kramte Herr Oswald einen Zettel hervor, auf dem er die Angaben notiert hatte, um sie nun von dort abzulesen.

»Die Unterlagen, die der Chef möglichst umgehend benötigt, betreffen ein Immobiliengeschäft in … – einen Moment, gleich hab ich’s – … in Oberndorf«, erläuterte Herr Oswald. »Mehr weiß ich aber auch nicht darüber. Ich bin ja auch nur der Chauffeur.«

»Ach ja, ich erinnere mich an den Vorgang«, sagte Frau Bernbacher und ließ ein mädchenhaftes Kichern hören. Wahrscheinlich war sie erleichtert, als sie erkannte, um welche Unterlagen es ging und dass ihr eine langwierige Suche und damit ein längerer Aufenthalt um diese Uhrzeit im Büro erspart blieb. »Der Kauf liegt nämlich noch gar nicht so lange zurück. Es ging dabei um den Erwerb eines ehemaligen Klosters.«

Hatte ich bislang allenfalls mäßiges Interesse am Inhalt des Gesprächs gehabt und gehofft, die beiden Komiker würden ihre Unterhaltung an einem anderen Ort fortsetzen, so elektrisierten mich diese Worte plötzlich. Bis zu diesem Moment hatte ich mit der Müdigkeit zu kämpfen gehabt, die mich aufgrund der Finsternis im Kopierraum und der aufgenötigten Reglosigkeit meines Körpers zu überwältigen drohte, doch nun war ich blitzartig wieder hellwach und munter. Als die Frau den Begriff »Kloster« genannt hatte, hatte dies wie ein Zauberwort gewirkt und jäh meine volle Aufmerksamkeit erregt, denn in meinem letzten verrückten Albtraum war ich in einem Kloster erwacht und hatte sogar die Ordenstracht einer Nonne getragen.

Gab es hier etwa einen Zusammenhang?

Es fiel mir immer noch schwer, tatsächlich zu glauben, dass meine Träume mir vorab wichtige Details offenbarten, die ich in der Realität zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen konnte und erst später in Erfahrung brachte. Ich hätte diese merkwürdige Sache zwar allzu gern als puren Zufall abgetan, doch die Tatsache, dass in beiden Fällen ein ehemaliges Kloster eine Rolle zu spielen schien, war dennoch bemerkenswert. Und wenn die Unterlagen für Dr. Schwarzer im Augenblick so wichtig waren, dass er sie in aller Herrgottsfrühe aus der Kanzlei holen ließ, während er selbst untergetaucht war, dann musste es eine direkte Verbindung zu den aktuellen Ereignissen geben und mehr als nur Zufall sein. Allerdings war es auch ein großer Glücksfall, dass wir ausgerechnet in diesem Augenblick zufällig Zeuge dieser Unterhaltung wurden.

»Ich habe die Unterlagen erst vor wenigen Tagen bearbeitet und noch in meinem Büro liegen«, sagte Frau Bernbacher. »Wollen Sie solange hier warten, während ich die Schriftstücke hole, oder möchten Sie mich begleiten, Herr Oswald?«

Doch die Frau erhielt zunächst keine Antwort von ihrem Gesprächspartner. Für einen Moment herrschte atemlose Stille, sowohl diesseits als auch jenseits der Tür. Dann war plötzlich ein leises Schnüffeln zu hören, als würde ein Hund an der Tür zum Kopierraum schnuppern und versuchen, unsere Witterung aufzunehmen.

Mir kroch es eiskalt den Rücken hinunter, denn das Geräusch, mit dem rasch viel Luft durch die Nase eingesogen wurde, um die darin enthaltenen hauchfeinen Duftmoleküle zu analysieren, erschien mir so laut und nah, als würde die schnüffelnde Person unmittelbar hinter mir stehen und wäre nicht durch eine Bürotür von mir getrennt.

»Was machen Sie denn da, Herr Oswald?«, fragte Frau Bernbacher, und auch wenn ihre Stimme nur gedämpft an meine Ohren drang, war das Befremden darin deutlich zu hören. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

Das schnuppernde Geräusch, das zuletzt in Höhe meines Halses zu hören gewesen war und mir die Nackenhärchen zu Berge hatte stehen lassen, verstummte abrupt. Stattdessen war wieder die Stimme des Mannes zu vernehmen, der mit Vor- oder Zunamen Oswald hieß. Nach der Lautstärke und Deutlichkeit der Worte zu urteilen, musste sich sein Gesicht in Höhe meines eigenen Kopfes auf der anderen Seite der Tür befinden.

»Ich rieche etwas … Merkwürdiges!«

 

»Etwas Merkwürdiges?« Frau Bernbacher hörte sich an, als zweifelte sie mittlerweile am Verstand des Mannes, den ihr Chef geschickt hatte, um wichtige Unterlagen abzuholen, und verlor allmählich auch die Geduld. Sie schlug einen resoluten, befehlsgewohnten Tonfall an, mit dem sie ansonsten vermutlich die ihr unterstellten Mitarbeiter oder die Auszubildenden im Büro herumscheuchte. »Hören Sie endlich auf mit diesem Unsinn, Herr Oswald! Sie machen mir sonst Angst. Außerdem befindet sich hinter dieser Tür nur der Kopierraum. Wenn Sie dort etwas riechen, dann wahrscheinlich nur das Pulver der Toner oder den Geruch des Kopierpapiers. Vielleicht auch das neue Parfüm von Frau Müller, das, wenn Sie mich fragen, penetrant riecht, aber diese unmögliche Frau ist absolut beratungsresistent. Also kommen Sie jetzt bitte mit, damit wir die Unterlagen holen können. Wir haben schon genug Zeit vertrödelt. Und wie Sie selbst am besten wissen, wartet Dr. Schwarzer nicht gern.«

»Damit haben Sie natürlich vollkommen recht«, antwortete Herr Oswald eilfertig. Seine Stimme wurde zu meiner Beruhigung leiser, während er sich allem Anschein nach wieder von der Tür entfernte. »Der Chef benötigt die Unterlagen über das Kloster tatsächlich dringend. Wir werden nämlich baldmöglichst zu diesem Kloster fahren, um eine wichtige und langwierige Angelegenheit endlich zu einem erfolgreichen und krönenden Abschluss zu bringen.«

Auch diese Worte elektrisierten mich buchstäblich. Konnte es sein, dass es sich bei der »wichtigen und langwierigen Angelegenheit«, von der hier die Rede war und die zu einem »erfolgreichen und krönenden Abschluss« gebracht werden sollte, in Wahrheit um die erneute Durchführung der Dämonenbeschwörung handelte? Und wurde mein Bruder unter Umständen in dem fraglichen Kloster gefangen gehalten, das Dr. Schwarzer erst vor kurzer Zeit erworben hatte? Es passte alles viel zu gut zusammen, als dass man dabei guten Gewissens von Zufälligkeiten sprechen konnte.

»Kommen Sie schon, Herr Oswald, dann gebe ich Ihnen die gewünschten Unterlagen.«

Der Teppichboden im Flur dämpfte die Schritte der beiden Menschen, sodass ich mir eine Zeitlang nicht sicher war, ob sie tatsächlich weggegangen waren oder noch immer vor der Tür standen. Hatte Herr Oswald unsere Anwesenheit »erschnüffelt«, und versuchten die beiden nun, uns zu täuschen und in Sicherheit zu wiegen? Warteten Sie im Flur darauf, dass wir den Kopierraum verließen, um uns dann überwältigen zu können? Doch da hörte ich in einiger Entfernung das Rasseln eines Schlüsselbundes und unmittelbar darauf die Stimmen von Frau Bernbacher und Herrn Oswald. Kurze Zeit später wurde eine Tür geräuschvoll geschlossen, dann herrschte wieder absolute Stille.

»Ich glaube, die Luft ist jetzt rein«, sagte Michael, den ich in all der Aufregung mittlerweile ganz vergessen hatte, dermaßen überraschend, dass ich vor Schreck zusammenzuckte und beinahe laut geschrien hätte. Er bekam davon allerdings nichts mit, da es hier drin zum Glück stockfinster war und er mich nicht sehen konnte.

»Sie haben recht«, sagte ich nach einer kurzen Pause mit einem kaum wahrnehmbaren Zittern in der Stimme. »Lassen Sie uns also rasch von hier verschwinden, bevor die beiden zurückkommen. Herr Oswalds Geruchssinn ist für meine Begriffe ein wenig zu ausgeprägt.«

Michael erwiderte nichts darauf, sondern knipste seine Lampe an. Dann öffnete er die Tür, nachdem wir beide dafür Platz gemacht hatten. Im Flur brannte nun das Deckenlicht, das Frau Bernbacher oder Herr Oswald angeknipst haben musste, sodass Michael seine Stablampe wieder ausschalten konnte. Er streckte seinen Kopf nach draußen und spähte aufmerksam in beide Richtungen den Flur entlang. »Nichts zu sehen. Los, schnell, kommen Sie!«

Wir huschten nach draußen und wandten uns sofort zur Eingangstür, die nur wenige Schritte entfernt war. Als die beiden Neuankömmlinge uns durch ihr Auftauchen überrascht hatten, war uns kaum Zeit geblieben, ein geeignetes Versteck zu finden. Die Tür zum Kopierraum war uns am nächsten und zu unserem Glück auch unverschlossen gewesen.

Auch die Tür ins Treppenhaus war von Frau Bernbacher nicht wieder versperrt worden. Eilig, dabei aber auch gleichzeitig möglichst leise schlichen wir aus der Kanzlei nach draußen, zogen die Tür hinter uns wieder geräuschlos zu und eilten dann die Stufen nach unten, während das Herz in meiner Brust noch eine ganze Weile wie entfesselt pochte.

Kapitel 6

Als wir in Michaels Wohnung eintrafen, hatte sich mein Herzschlag längst wieder normalisiert. Die Fahrt hierher war zum größten Teil schweigend verlaufen, denn wir hatten lediglich ein paar Worte gewechselt. Nachdem wir rasch übereingekommen waren, dass es noch immer zu früh und vielleicht auch zu gefährlich war, ins Sanatorium zurückzukehren, und es uns im Augenblick wesentlich sicherer erschien, stattdessen Michaels Wohnung aufzusuchen, war jeder von uns in gedankenschweres Schweigen versunken, während wir durch die nächtlichen Straßen unserem Ziel entgegenfuhren.

Ich hatte durch die Frontscheibe gestarrt, ohne allerdings etwas von dem, was ich sah, tatsächlich wahrzunehmen, denn ich war tief in Gedanken versunken gewesen und hatte die letzten Erlebnisse in meinem Bewusstsein noch einmal Revue passieren lassen.

Dass wir beinahe von dem wie ein Hund schnüffelnden Herrn Oswald ertappt worden waren, steckte mir noch immer ein bisschen in den Knochen und ließ meine Nerven jedes Mal bedenklich flattern, wenn ich nur daran dachte. Schon allein das widerlich anzuhörende Schnüffeln dieses Mannes in meiner unmittelbaren Nähe hatte in mir ein tief empfundenes Gefühl des Ekels hervorgerufen. Ich war heilfroh, dass ich ihm wenigstens nicht leibhaftig gegenübergestanden hatte. Obwohl ich lediglich seine Stimme gehört und ihn nicht gesehen hatte, stellte ich ihn mir aufgrund des abnormen, an ein Tier erinnernden Verhaltens, das er an den Tag gelegt hatte, in Gedanken auch eher mit tierischen als mit menschlichen Wesensmerkmalen vor – was er im Übrigen mit Herrn von Stein gemein zu haben schien. Denn welcher normale Mensch schnüffelte wie ein läufiger Hund an den Ritzen einer Tür?

Nachdem Michael den Wagen in der Tiefgarage eines unscheinbaren vierstöckigen Wohnhauses voller Eigentumswohnungen abgestellt hatte, fuhren wir mit dem Aufzug in den dritten Stock, wo er eine Dreizimmerwohnung besaß, für die er nach eigenen Angaben noch jahrelang enorme Raten und Zinsen an die Bank zahlen musste, bis sie irgendwann einmal voll und ganz ihm gehörte.

Die Einrichtung der Wohnung entsprach meinen Erwartungen eines typischen Junggesellenhaushalts. Allerdings waren auch deutliche Anzeichen bemerkbar, dass die Wohnung längere Zeit leer gestanden hatte und vernachlässigt worden war, weil Michael in dieser Zeit verdeckt in der Satanistenszene tätig gewesen war und aus Sicherheitsgründen sein Domizil nicht hatte aufsuchen können. Ansonsten hätte die Gefahr bestanden, dass die stets misstrauischen, berechtigterweise unter Verfolgungswahn leidenden Satanisten ihn verfolgt und enttarnt hätten.

Ich hatte jedoch zunächst keine Zeit, meine neue Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen, denn Michael gab unmittelbar nach Betreten der Wohnung die Nummer des Sanatoriums in sein schnurloses Festnetztelefon ein und reichte das Gerät dann an mich weiter, als er den Direktor an der Strippe hatte.

Die Stimme des kleinwüchsigen Mannes klang entgegen seiner sonstigen ruhigen Art ausgesprochen erregt. Außerdem sprach er auch etwas zu schnell. Allerdings war ihm die Erleichterung darüber anzumerken, dass er endlich ein Lebenszeichen von mir erhielt und mir nichts Schlimmes zugestoßen war.

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