DAS BUCH ANDRAS II

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From the series: DAS BUCH ANDRAS #2
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VIII. Der Einbruch in die Kanzlei

Kapitel 1

Erst als die Tür zur Anwaltskanzlei mit einem gerade noch hörbaren Klicken aufsprang, konnte ich tatsächlich glauben, dass Michael seinem Versprechen Taten folgen ließ, denn mittlerweile war auch mir zu Bewusstsein gekommen, wie ungeheuerlich das war, was ich ihm abverlangte. Nicht nur, dass er seinen Status als Beamter auf Lebenszeit und seine Pensionsansprüche aufs Spiel setzte. Wenn wir erwischt wurden, musste er darüber hinaus befürchten, zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden. Keine besonders rosigen Aussichten für einen Polizeibeamten. Und da Michael momentan wegen des Auffliegens seiner Tarnung nicht länger in einer Undercover-Mission tätig war, konnte er sich nicht einmal damit herausreden, den Einbruch im Rahmen dieser Tätigkeit verübt zu haben.

Dennoch ließ ich mich von diesen späten reuevollen Einsichten nicht dazu verleiten, den einmal eingeschlagenen Kurs zu ändern. Denn zu beherrschend und verlockend war die Vorstellung, in den Büroräumen die Unterlagen und Akten zu finden, die nicht nur Licht auf meine eigene Vergangenheit werfen, sondern zusätzlich auch den Aufenthaltsort meines Bruders offenbaren würden.

Trotz all meiner Euphorie bemühte ich mich allerdings, realistisch zu bleiben, denn noch hielten wir derartige Dokumente nicht in Händen. Und falls Dr. Schwarzer solche Schriftstücke tatsächlich hier aufbewahrte, mussten wir zunächst den richtigen Fundort und dann auch noch die Unterlagen selbst finden. Ich ging nämlich nicht davon aus, dass der Weg dorthin mit beleuchteten Hinweispfeilen markiert sein würde.

»Voilà!« Michael versetzte der Tür einen Stoß, sodass sie nach innen schwang. Nahezu undurchdringliche Finsternis gähnte uns aus der entstandenen Öffnung entgegen, bis Michael eine dünne Stablampe dorthin richtete und der helle Lichtstrahl einen Flur aus der Dunkelheit riss.

Dr. Albert Schwarzer & Collegen, Rechtsanwälte verkündete ein nobles, wie frisch poliert wirkendes Messingschild neben der Eingangstür. Die Kanzleiräume, die hinter der Tür lagen, nahmen die ganze siebte Etage eines ausschließlich gewerblich genutzten Gebäudes ein, in dem auch diverse Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen, Versicherungen sowie Unternehmens-, Steuer- und Anlageberater ihre Praxen bzw. Büroräume hatten.

Zum Glück wurden die Türen nicht durch eine Alarmanlage gesichert, sodass es für Michael kein großes Problem gewesen war, sie mittels eines speziellen elektronischen Dietrichs in erstaunlich kurzer Zeit zu öffnen. Die Kanzleitür selbst war zwar durch ein zusätzliches Sicherheitsschloss verriegelt gewesen, das die Bemühungen jedes mittelmäßig begabten Einbrechers zum Scheitern verurteilt hätte, doch Michael war es gelungen, es innerhalb von nur zwei Minuten zu knacken. Das entsprechende Handwerkszeug, das nur für Schlüsseldienste und nicht für Normalsterbliche zugänglich war, hatte er rein zufällig im Kofferraum seines Wagens gefunden. Und die notwendige Fachkenntnis war ihm wohl anlässlich seiner Spezialausbildung zum verdeckten Ermittler beigebracht worden.

Auf der Fahrt hierher hatte ich Michael gefragt, wie er seinen Wagen so schnell zurückerhalten hatte, da dieser immerhin auf dem Parkplatz der Waldwirtschaft geparkt gewesen war, als wir bei unserer Flucht so überstürzt von dort hatten aufbrechen müssen. Daraufhin erklärte er mir, dass er während seiner Undercover-Tätigkeit natürlich nicht seinen eigenen Wagen, sondern ein Fahrzeug aus dem LKA-Fuhrpark benutzt hatte, das irgendwann beschlagnahmt worden war und nicht zu seiner Behörde zurückverfolgt werden konnte. Es war also dieses auf seine Scheinidentität zugelassene Auto gewesen, das auf dem Parkplatz im Wald gestanden hatte und nach unserer geglückten Flucht von den Satanisten in einer blindwütigen Racheaktion fast vollständig zerstört worden war. Nachdem sie erkannt hatten, dass Michael nicht der war, der er die ganze Zeit zu sein vorgegeben hatte, hatten sie nicht nur alle Reifen aufgeschlitzt, sondern auch die Fenster, sämtliche Scheinwerfer und die Rücklichter zerschmettert. Anschließend hatten sie zudem versucht, den Innenraum des Fahrzeugs in Brand zu setzen. Allerdings war das Feuer von selbst erloschen, bevor der Wagen vollständig ausbrennen konnte. Aus diesem Grund konnte Michael doppelt glücklich darüber sein, dass es sich nur um einen Dienstwagen gehandelt hatte.

Während Michael mir die Zerstörungen an dem Fahrzeug schilderte, wurden in meiner Vorstellung ungewollt die begleitenden Szenen zu seinen Worten abgespielt. In meiner Fantasie konnte ich deutlich vor mir sehen, wie Herr von Stein seine unmenschliche Wut über unsere geglückte Flucht an dem Fahrzeug ausließ. In dem extrem realistisch wirkenden Film, den mein Verstand mir zeigte, benutzte er für das Aufschlitzen der Reifen und Sitzpolster allerdings kein Messer, sondern zerriss sie mit seinen furchtbar spitzen Zähnen. Ein Schauder schüttelte mich bei dieser unglaubwürdigen Vorstellung.

Meine Frage nach Michaels Wagen diente aber nicht nur der Befriedigung meiner Neugier oder dem Bemühen, die Zeit mit Konversation zu füllen, sondern verfolgte zu diesem Zeitpunkt in erster Linie den Zweck, Michaels Gedanken in andere Richtungen zu lenken, damit er nicht allzu viel über das nachdenken konnte, was wir zu tun beabsichtigten. Ich befürchtete nämlich die ganze Zeit über, er könnte, bis wir unser Fahrtziel erreichten, doch noch zu Sinnen kommen und es sich im letzten Augenblick anders überlegen. Doch zum Glück blieb er bei seinem Entschluss.

Entweder waren meine Befürchtungen über einen Sinneswandel völlig grundlos gewesen oder Michael hatte seinerseits mittlerweile sämtliche Bedenken über Bord geworfen, denn nun stand die Tür zu Dr. Schwarzers Kanzlei weit offen und lud mich gewissermaßen dazu ein, mir ein Herz zu fassen und endlich einzutreten.

Kapitel 2

Da Michael mir galant den Vortritt ließ, trat ich rasch vom Treppenhaus in den Flur. Der hochwertige, flauschige Teppich unter meinen Füßen ließ meine Schritte nahezu geräuschlos bleiben.

Michael folgte mir auf dem Fuße ins Innere und schloss die Tür hinter uns wieder. Es war mittlerweile halb vier Uhr in der Früh, noch dazu an einem Samstag, sodass wir nicht damit rechnen mussten, dass um diese Zeit einer der Anwälte noch immer bei der Arbeit war oder einer der Angestellten schon in die Kanzlei kam. Andererseits war es nicht völlig auszuschließen, dass eventuell der Reinigungsdienst zu dieser Tageszeit seine Arbeit verrichtete, um die Anwälte während der normalen Bürostunden nicht zu stören. Aus diesem Grund versperrte Michael die Schlösser hinter uns wieder. So fiel es einem Neuankömmling nicht sofort beim Eintreten auf, dass sich schon jemand anderes zu dieser frühen Stunde Zutritt zu den Räumen verschafft hatte.

Da Michael seine Stablampe auf die Türschlösser gerichtet hielt, während er mit diesen beschäftigt war, und der Rest unserer Umgebung solange im Dunkeln lag, wartete ich geduldig und sah ihm dabei zu, wie er mit geschickten Fingern das elektronische Einbruchswerkzeug bediente, um die Schlösser wieder zu verriegeln. Gleichzeitig lauschte ich auf verdächtige Geräusche aus anderen Teilen der Kanzlei, die mir einen Hinweis darauf geliefert hätten, dass wir nicht allein waren. Aber ich konnte zum Glück nichts hören. Neben der versperrten Eingangstür war dies das zweite Indiz dafür, dass die Räume tatsächlich menschenleer waren.

Das Verriegeln schien einfacher zu sein als das Öffnen, denn Michael war bereits nach einer Minute fertig. Er verstaute den Dietrich in der Tasche seiner leichten, dunklen Jacke und leuchtete dann mit der Taschenlampe nacheinander in die verschiedenen Richtungen, damit wir uns ein Bild von unserer Umgebung machen konnten. Die Beleuchtung wollten wir nach Möglichkeit nicht einschalten, da dies von außen von jemandem bemerkt werden könnte.

In dem Bereich unmittelbar vor der Eingangstür, wo wir standen, trafen sich drei Flure, die links, rechts und geradeaus in die Finsternis führten. An der Ecke, die der linke und der mittlere Gang bildeten, befand sich eine Art Anmeldung in Gestalt einer brusthohen Theke, hinter der sich ein Computerbildschirm und ein Bürostuhl befanden. Im dünnen Strahl der Taschenlampe, die Michael mal hierhin, mal dorthin richtete, konnte ich nur undeutlich erkennen, dass von den Fluren auf beiden Seiten zahlreiche Türen abgingen und an den Wänden in den Zwischenräumen große Bilder hingen.

»Welche Richtung sollen wir nehmen?«, fragte Michael und sah mich an.

Ich zuckte mit den Schultern. So wie er mit dem Einbruchswerkzeug umgegangen war, schien er wesentlich mehr Erfahrung in solchen illegalen Unternehmungen zu besitzen, sodass ich mich lieber seiner Führung überließ.

»Dann versuchen wir es geradeaus!« Er richtete den Lichtstrahl in den mittleren Flur, der von der Eingangstür aus direkt ins Herz des Bürokomplexes zu führen schien.

Ich nickte zum Zeichen meines Einverständnisses. Auch wenn ich es nicht vernunftmäßig begründen konnte, hätte ich ebenfalls instinktiv diesen Weg gewählt. Vielleicht lag es daran, dass ich Dr. Schwarzer insgeheim mit einer bösartigen Spinne verglich, die im Zentrum ihres Netzes an den Fäden zog. Wo anders sollte er also sein Büro haben als im Herzen seiner Kanzlei.

Michael ging voraus und leuchtete den Weg aus, und ich marschierte hinter ihm her. Er schwenkte die Stablampe gleichmäßig hin und her, sodass sie nicht nur unseren Weg und etwaige Hindernisse aus der Dunkelheit riss, sondern auch die Bilder an den Wänden und die Türen kurz erhellte, bevor der Lichtstrahl auch schon weiterhuschte. Neben jeder Tür befand sich eine kleine Messingtafel, quasi die kleineren Ausgaben des großen Kanzleischildes neben dem Eingang, auf der entweder die Funktion des Raumes angegeben war, der auf der anderen Seite der Tür lag, oder der Name einer Person, die dahinter ihr Büro hatte.

 

Ich erhaschte immer wieder kurze Eindrücke von den Bildern an den Wänden, bei denen es sich ausschließlich um kostspielig wirkende Gemälde mit moderner Kunst zu handeln schien. So wie ich Dr. Schwarzer einschätzte, ging ich davon aus, dass es sich dabei nicht um Nachdrucke, sondern um Originale handelte. Die Gemälde machten durchweg einen düsteren, geradezu unheimlichen Eindruck – die von den Künstlern bevorzugten Farben waren schwarz und rot –, was aber auch an der Dunkelheit und der hin und her pendelnden Lichtquelle liegen konnte. Allerdings entsprach es meiner Erwartung, dass sich der sinistre Dr. Schwarzer mit dunklen und unheilvollen Kunstwerken umgab.

Während wir zügig voranschritten, las ich aufmerksam die Aufschriften auf den Messingschildern, sobald sie von Michael angestrahlt wurden, damit wir nicht versehentlich an Dr. Schwarzers Büro vorbeimarschierten: Kopierraum, Besprechungszimmer 1, Aktenraum, Besprechungszimmer 2, Bibliothek. Es folgten Räume von Kanzleimitarbeitern und Anwälten.

Ich fragte mich, ob alle, die hier arbeiteten, automatisch zu den Satanisten gehörten, oder ob die Mehrzahl der Angestellten von der geheimen Leidenschaft ihres Chefs gar keine Ahnung hatte. Und was passierte mit der Kanzlei und den Mitarbeitern, wenn ihr Eigentümer dauerhaft untertauchen musste? Nun, zum Glück war das nicht auch noch mein Problem, schließlich hatte ich selbst schon genug eigene, um die ich mir Sorgen machen musste.

Schließlich erreichten wir die Stelle, an der die drei Flure wieder aufeinandertrafen. Die beiden äußeren Gänge schienen zusammen ein Viereck zu bilden, das von dem Gang, den wir genommen hatten, genau in der Mitte durchschnitten wurde. Und exakt an diesem zweiten Knotenpunkt der Flure, dem anderen Ende der Kanzlei, das der Eingangstür genau gegenüberlag, befand sich eine eindrucksvolle Bürotür. Im Gegensatz zu allen anderen Türen, die wir passiert hatten, bestand sie aus zwei Flügeln und war glänzend schwarz lackiert, sodass sie das Licht der Taschenlampe reflektierte. Neben der Tür hing ein weiteres Schild aus blitzblankem Messing, etwa doppelt so groß wie die der übrigen untergeordneten Mitarbeiter. Auch die eingravierten Großbuchstaben, die Dr. Albert Schwarzers Namen bildeten, waren von doppelter Größe, um die Bedeutung und Wichtigkeit desjenigen herauszustellen, der in dem Büro hinter dieser Doppeltür residierte.

»Das ist ein Bingo!«, imitierte Michael sehr gekonnt Christoph Waltz als Oberst Hans Landa in Quentin Tarantinos »Inglourious Basterds« und warf mir einen Blick zu, der aus der Andeutung eines grimmigen Lächelns bestand. Dann schwenkte er den Lichtstrahl von dem glänzenden Schild zu den Türklinken der beiden Flügel. Er trat näher, legte die rechte Hand auf die rechte Klinke und versuchte, den Türflügel zu öffnen. Doch die Tür war verschlossen.

»Hier traut wohl jemand nicht einmal seinen eigenen Angestellten über den Weg«, meinte er kopfschüttelnd und zückte erneut sein Einbruchswerkzeug.

»Wenn er grundsätzlich nur Leute mit Charaktermerkmalen einstellt, die seinen eigenen entsprechen, dann wundert mich dieses Misstrauen nicht im Geringsten«, sagte ich und versuchte dabei, einen ebenso lockeren Eindruck wie Michael zu vermitteln, obwohl ich in Wahrheit absolut angespannt und aufgeregt war und immer wieder einen kurzen Blick über die Schulter warf, als könnten wir jeden Augenblick auf frischer Tat ertappt werden.

Michael ging vor der Tür in die Hocke und machte sich erneut an die »Arbeit«. Die kleine Stablampe hatte er zwischen die Zähne gesteckt, sodass ihr gebündelter Lichtstrahl auf das Türschloss gerichtet war und er mit beiden Händen den elektronischen Dietrich bedienen konnte. Er machte einen unbeschwerten Eindruck, so als würde er den ganzen Tag nichts anderes tun, als in fremde Häuser, Wohnungen oder Büros einzubrechen. Wenn er nicht die Taschenlampe zwischen den Zähnen gehalten hätte, hätte er womöglich auch noch ein fröhliches Liedchen gepfiffen.

Ich dagegen war das genaue Gegenteil. Ich war furchtbar aufgeregt und zappelig und schwitzte stark. Immer wieder musste ich meine feuchten Handflächen an der Hose abwischen. Allerdings lag meine Erregung nicht nur an der Angst, schlimmstenfalls bei einem Verbrechen erwischt zu werden, sondern zum Teil auch daran, dass hinter dieser Tür möglicherweise Antworten auf einige der wichtigsten Fragen, die mich momentan beschäftigten, darauf warteten, von mir entdeckt zu werden.

Mit einem in der atemlosen Stille deutlich hörbaren Schnappen entriegelte Michael schließlich das Schloss. Es hatte fast doppelt so lang wie bei dem Sicherheitsschloss an der Eingangstür gedauert, was mir nicht nur eine Vorstellung davon vermittelte, mit welchen besonderen Maßnahmen Dr. Schwarzer sein eigenes Büro und damit das Zentrum seines finsteren Netzes schützte, sondern zusätzlich auch die Hoffnung in mir nährte, dass ich dahinter sehr wichtige Geheimnisse und möglicherweise auch das finden würde, was ich mir aus tiefstem Herzen erhoffte. Denn wer die Tür zu seinem Büro besser schützte als die Eingangstür zur Kanzlei, musste etwas von solcher Wichtigkeit und Brisanz zu verbergen haben, dass nicht einmal seine Mitarbeiter ohne Weiteres Zugang hatten.

Michael öffnete die Tür und zog sie weit auf. Er verbeugte sich steif und sagte dann, nachdem er die Taschenlampe aus dem Mund genommen hatte und während er mit dem Arm gleichzeitig eine einladende Bewegung vollführte: »Bitte sehr, Mademoiselle. Der Weg ist frei. Treten Sie ein.«

Ich atmete noch einmal tief durch. Meine Erregung nahm sogar noch zu, als ich durch den offenen Durchgang in das dunkle Büro blickte, ohne dass ich allerdings schon Einzelheiten erkennen konnte. Was würde mich hinter dieser Tür erwarten? Würde ich in diesem Raum die Antworten finden, derentwegen ich überhaupt hierhergekommen war und mich und meinen Begleiter in Gefahr gebracht hatte? All das würde ich aber erst erfahren, sobald ich durch die Tür ging, und nicht, solange ich wie festgenagelt auf dem Flur stehen blieb. Also fasste ich mir endlich ein Herz und betrat die Höhle des Löwen oder – um bei dem Bild zu bleiben, das mir zuvor schon in Zusammenhang mit Dr. Schwarzer durch den Kopf gegangen war und passender erschien – das Schaltzentrum der Spinne im Mittelpunkt ihres Netzes.

Kapitel 3

Es war hier nicht ganz so dunkel wie in den fensterlosen Fluren, denn durch das breite Panoramafenster, das der Tür unmittelbar gegenüberlag, fiel das Licht des Sichelmondes hoch oben am nächtlichen Himmel und der Beleuchtung von der Straße unten. Dennoch konnte ich in dem schwachen Licht anfangs kaum etwas erkennen außer dem dunklen Umriss eines riesigen Schreibtischs vor dem Fenster. Der Rest des großzügig bemessenen Raumes, insbesondere die Wände und Ecken, blieben in der Finsternis jedoch unsichtbar.

Michael betrat hinter mir das Büro und schloss leise die Tür. Dabei tanzte der Strahl seiner Stablampe wie ein wild gewordener Derwisch hin und her und enthüllte stroboskopartig Ausschnitte der Wände, der Decke, des Teppichbodens und des spärlichen Mobiliars, allerdings jeweils nur für den Bruchteil einer Sekunde, sodass sich mir immer noch kein klares Gesamtbild des Rauminneren bot.

»Ich denke, hier können wir es riskieren, das Licht anzuschalten«, sagte Michael und betätigte den Schalter unmittelbar neben der Tür, während er gleichzeitig die kleine Taschenlampe ausknipste und in die Hosentasche steckte. »Das Fenster geht nach hinten raus und ist vom Vordereingang des Gebäudes aus nicht zu sehen. Die Gefahr einer Entdeckung ist also nicht besonders groß. Außerdem erleichtert und beschleunigt es unsere Arbeit erheblich, wenn wir besseres Licht haben und nicht nur auf eine einzelne Taschenlampe angewiesen sind.«

Ich stimmte mit einem Nicken zu, gab jedoch keinen Kommentar dazu ab, denn ich war viel zu begierig darauf, endlich unsere Umgebung in Augenschein zu nehmen.

Eine kreisförmige Neonröhre im Zentrum der Zimmerdecke flackerte mehrere Male, bevor sie mit einem leisen Knacken hell zu strahlen begann und kalt wirkendes Licht mit schätzungsweise 2.000 Lumen den Raum bis in die letzte Ecke ausfüllte.

Ich blinzelte die Tränen aus meinen Augen, die das grelle Leuchten verursacht hatte, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, und ließ meinen Blick dann langsam durch den riesigen Raum schweifen. Und so schnell, wie ich meine Umgebung registriert hatte, so rasch folgte auch die ernüchternde Erkenntnis, dass wir hier wohl nicht das finden würden, was ich mir erhofft hatte. Denn weder auf den ersten noch auf den zweiten forschenden Blick fanden meine Augen irgendetwas in Dr. Schwarzers Büro, das wie eine Akte oder auch nur wie ein Dokument aussah.

Nicht nur der ganze Raum, sondern auch der Schreibtisch vor dem breiten Fenster war riesig und repräsentierte die hervorgehobene Stellung der Person, der dieses Büro gehörte – gewissermaßen die Phallussymbole der modernen Leistungsträger dieser Gesellschaft oder zumindest derjenigen, die sich dafür hielten. Doch außer einem Telefonapparat war der Schreibtisch aus dunklem, walnussfarbenem Holz leer. Wahrscheinlich ließ sich der Anwalt die jeweils aktuelle Akte von der Chefsekretärin bringen und nach der Bearbeitung wieder abholen. Aufbewahrt wurden sie allerdings allem Anschein nach an einem anderen Ort, vermutlich dem Aktenraum, an dem wir auf unserem Weg hierher vorbeigekommen waren. Allerdings bezweifelte ich, dass dort auch brisante Akten aufbewahrt wurden, die mit Dr. Schwarzers illegalen Aktivitäten als Satanistenführer zu tun hatten und die aus nachvollziehbaren Gründen nicht jeder zu Gesicht bekommen durfte. Wieso sollte Dr. Schwarzer auch sonst sein Büro so sorgsam verschließen? Außer natürlich aus purer Paranoia, weil er von seinen Mitmenschen nur das Schlechteste dachte und insgeheim all die üblen Taten erwartete, die er selbst jeden Tag gewissen- und bedenkenlos beging.

Außer dem Schreibtisch und einem anthrazitfarbenen Chefsessel unmittelbar dahinter gab es noch eine Sitzgruppe in einer Ecke des Raumes. Sie bestand aus einem Tisch aus glänzendem Chrom und spiegelndem Glas, der ebenfalls leer war, und mehreren bequem aussehenden Sesseln aus Chrom und matt schimmerndem dunkelblauen Leder. Da sich auch dort keinerlei Schriftstücke fanden, richtete ich meinen Blick auf das letzte Stück Mobiliar in diesem Büro. Es handelte sich um ein breites Regal aus dunklem Holz an der linken Seitenwand des Raumes. Zahlreiche Bücher standen dort in ordentlichen Reihen nebeneinander. Vermutlich juristische Fachliteratur, die der Jurist bei seiner Arbeit benötigte. Dazwischen befanden sich wie zur Auflockerung diverse Masken und Figuren aus schwarzem Holz, die aussahen, als hätte Dr. Schwarzer sie aus seinem Afrika-Urlaub mitgebracht. Auch die einzelnen Regalfächer enthielten auf den ersten Blick keine Unterlagen, dennoch hatte ich den unbestimmten Drang, einen genaueren Blick auf die Bücher zu werfen. Vielleicht verbarg sich zwischen den unscheinbar wirkenden Buchdeckeln etwas, das mir bei meiner Suche weiterhalf.

»Ich sehe mir mal den Schreibtisch genauer an«, verkündete Michael in diesem Moment und ging an mir vorbei. Er musste meine große Enttäuschung gespürt haben. Doch anstatt zu versuchen, mich mit leeren und letztendlich bedeutungslosen Worthülsen zu trösten, machte er sich an die Arbeit und durchsuchte die Fächer und Schubladen des Schreibtischs. Selbst wenn diese verschlossen waren – wovon ich ausging –, würde es ihm wohl keine große Mühe bereiten, sie mithilfe seines mittlerweile mehrfach bewährten Dietrichs zu öffnen. Und wenn es dort tatsächlich etwas Bedeutsames zu finden gab, dann würde er es auch finden, daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel.

Ich überließ ihn seiner Suche und ließ meinen aufmerksamen Blick noch einmal langsam durch den ganzen Raum schweifen. Allerdings konnte ich noch immer keine zweite Tür entdecken, die ich zunächst möglicherweise übersehen hatte und die in einen Nebenraum führte. Es gab auch keine verräterischen Fugen in den Wänden, die auf eine Geheimtür oder einen verborgenen Tresor hinwiesen. Lediglich mehrere großformatige Fotografien schmückten die Wände, die alle Dr. Schwarzer mit verschiedenen mehr oder weniger prominenten Zeitgenossen aus dem Showbusiness, der Politik und der Wirtschaft zeigten.

Ich ersparte es mir, einen genaueren Blick auf die Fotos zu werfen – Dr. Schwarzers widerwärtige Visage stand mir auch so noch allzu deutlich vor Augen –, und trat zögernd an das Regal heran. Schon während ich näher kam, huschten meine Augen über die ordentlichen Reihen der Buchrücken und die dort aufgedruckten Titel. Soweit ich erkennen konnte, handelte es sich tatsächlich durchweg um juristische Kommentare und Nachschlagewerke aus den unterschiedlichen rechtlichen Bereichen, in denen Dr. Schwarzer als Rechtsanwalt tätig war.

 

Ich blieb vor dem Regal stehen und blickte mich nach Michael um, um nachzusehen, womit er gerade beschäftigt war, denn ich hörte keine Geräusche von ihm. Er hatte sich mittlerweile wieder vom Schreibtisch entfernt – nachdem er dort vermutlich nichts Wichtiges entdeckt hatte – und ging langsam an der Wand entlang. Dabei musterte er sehr aufmerksam die Fotos. Trotz der Tatsache, dass wir gerade einen Einbruch begingen, schien der Polizist in ihm jede Möglichkeit zu nutzen, neue Erkenntnisse für seine Arbeit zu gewinnen. Möglicherweise verdächtigte er die auf den Fotografien zusammen mit Dr. Schwarzer abgebildeten Berühmtheiten, ebenfalls zu den Satanisten zu gehören, und prägte sich die Namen oder Gesichter dieser Leute als Ansatzpunkt für spätere, unter Umständen weiterführende Ermittlungen ein.

Ich wandte mich achselzuckend wieder dem Regal vor mir zu und fasste dessen Inhalt etwas genauer ins Auge, da ich noch immer nicht glauben konnte, dass der Anwalt in diesem Raum überhaupt keine Unterlagen oder Hinweise aufbewahren sollte, die mir dabei helfen konnten, ein paar Fragen zu beantworten, die für mich von essentieller Bedeutung waren. Noch unverständlicher erschien mir das, wenn ich das enorme Interesse zum Maßstab nahm, das Dr. Schwarzer bislang an meinem Bruder und mir gezeigt hatte. Demnach konnte es sich bei der Angelegenheit, die Andras und mich betraf, wohl nicht um einen Allerweltsfall handeln. Allerdings bestand auch die naheliegende Möglichkeit, dass Dr. Schwarzer derart wichtige Akten oder Unterlagen gar nicht aus der Hand gab und deshalb ständig bei sich trug oder mit zu sich nach Hause genommen hatte. In diesem Fall würden wir an diesem Ort natürlich nichts finden, so enttäuschend das auch war.

Ich seufzte tief. Die Bücher brachten mich nicht weiter. Ich sah mir die Masken und Figuren genauer an, die wie Ziergegenstände überall verteilt waren. Augenscheinlich handelte es sich tatsächlich um Schnitzereien afrikanischen Ursprungs. Möglicherweise verbrachte Dr. Schwarzer seinen Urlaub gern in Afrika und hatte die Schnitzwerke von dort als Souvenirs mitgebracht. Aber selbst mit enorm viel Wohlwollen konnte ich ihn mir beim besten Willen nicht in Badehose am Strand oder im Safari-Look in der afrikanischen Savanne vorstellen. Allerdings schien er mir durchaus der Typ zu sein, der gern andere Lebewesen quälte und ihnen am Ende den Gnadenschuss verpasste, obwohl sich an diesem Ort keine Jagdtrophäen befanden. Möglicherweise beschränkte sich Dr. Schwarzers diesbezügliche Leidenschaft auch nur auf die Jagd auf Menschen, und davon stellte man in seinem Büro ungern Trophäen aus.

Die Masken und Figuren bestanden ausnahmslos aus tiefschwarzem Holz und zeigten abstoßend hässliche Fratzen und fantastische Gestalten. Sie schienen dämonische Kreaturen und Ungeheuer darzustellen, was natürlich passend war, wenn man bedachte, mit welcher Art von Beschäftigung Dr. Schwarzer seine kostbare Freizeit ausfüllte.

Ohne dass ich es überhaupt beabsichtigt hatte oder mir hinterher den Anlass dafür erklären konnte, griff ich nach einer besonders markanten Figur, um sie für einen Moment aus dem Regal zu nehmen und näher ins Auge zu fassen. Sie war etwa zwanzig Zentimeter hoch und zeigte eine menschliche Gestalt mit dem gefiederten Kopf einer Eule. Sie erinnerte mich natürlich nicht nur augenblicklich an die Erläuterungen des Direktors, als dieser den Dämon Andras beschrieben hatte, sondern vor allem an meine Träume, in denen bereits zum zweiten Mal eine eulenköpfige Kreatur aufgetaucht war.

Doch die Holzfigur ließ sich nicht anheben, sondern schien stattdessen mit dem Regalbrett, auf dem sie stand, fest verbunden zu sein. Möglicherweise war sie dort festgeschraubt, damit sie beim Staubwischen nicht jedes Mal verrutschte und immer die gleiche Position einnahm. Dennoch gab ich mich damit nicht zufrieden, sondern versuchte es ein zweites Mal und zog etwas fester. Doch anstatt sich zu heben, wie es von mir beabsichtigt war, kippte die Figur plötzlich ein Stück weit nach vorn, mir direkt entgegen. Ich hörte ein metallisches Klicken, unmittelbar gefolgt von einem schabenden Geräusch, als sich wie von Geisterhand der Riss zwischen zwei senkrecht verlaufenden Seitenbrettern des Regals verbreiterte. Dann schwang ein Segment des Möbelstücks ein kurzes Stück nach außen und offenbarte einen bisher verborgenen geheimen Durchgang.

Kapitel 4

Michael hatte das Klicken und Schaben ebenfalls gehört und trat nun rasch an meine Seite. Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und sagte: »Was haben wir denn da? Eine Geheimtür? Wie haben Sie das denn angestellt?«

Ich zuckte mit den Schultern, denn ich war nicht weniger verblüfft als er. Auf den ersten Blick sah alles nach einem glücklichen Händchen aus, aber etwas in meinem Innern sagte mir, dass möglicherweise wesentlich mehr dahintersteckte. Mein Instinkt oder so etwas wie ein sechster Sinn hatten mich zielsicher nach der Figur greifen lassen, die mich nicht nur an meine Träume und Direktor Engels Beschreibung erinnert hatte, sondern gleichzeitig auch Dr. Schwarzers Hebel zum Öffnen des verborgenen Durchgangs darstellte. »Vielleicht habe ich ein Händchen für solche Dinge«, beantwortete ich Michaels Frage nüchtern und behielt den Rest meiner Gedanken für mich.

Michael sah mich noch etwas länger fragend an, als würde er auf weitere Erläuterungen warten, die ich ihm aber weder geben konnte, noch wollte. Vielleicht fühlte er sich auch in seiner Berufsehre gekränkt, weil ein blutiger Amateur wie ich die Geheimtür entdeckt hatte, während er sich derweil die Zeit damit vertrieben hatte, sich Fotos von Prominenten anzusehen.

Um ihm ohne langwierige Erklärungen deutlich zu machen, dass ich mein Dusel oder meine Intuition – oder was immer letzten Endes für die Entdeckung verantwortlich gewesen war – nicht erklären konnte, wandte ich demonstrativ den Blick ab und richtete ihn wieder auf die Geheimtür. Ein etwa ein Meter zwanzig breiter Teil des Holzregals hatte sich an einer Seite gelöst und war, auf der anderen Seite durch Scharniere mit dem Rest der Regalwand verbunden, ein gutes Stück nach außen geschwungen. Nun konnte man es wie eine Tür weiter aufziehen.

Michael griff nach einem der fest verschraubten Regelbretter und zog vorsichtig daran, sodass die geheime Tür sich immer weiter öffnete. Die Scharniere gaben keinen Laut von sich, was deutlich machte, dass sie nicht nur ständig gewissenhaft geölt wurden und der geheime Durchgang demnach oft, wenn nicht sogar regelmäßig frequentiert wurde, sondern dass vermutlich auch andere nichts davon mitbekommen sollten, wenn Dr. Schwarzer ihn benutzte. Vielleicht wusste sogar kein einziger Angestellter der Kanzlei darüber Bescheid.

Michael öffnete die Tür, bis eine normal gewachsene Person bequem durch die entstandene Öffnung passte. In diesem Moment rastete das Regalstück mit einem leisen Klicken ein. Gleichzeitig wurde automatisch das Licht jenseits des Durchgangs eingeschaltet, denn zwei LED-Strahler an der Decke leuchteten auf.

Doch obwohl die offen stehende Regaltür und das dahinter hell strahlende Licht uns gewissermaßen zum Eintreten einluden und willkommen zu heißen schienen, hielten wir uns zurück und betraten den Geheimraum noch nicht. Stattdessen blickten wir aufmerksam, gleichzeitig aber auch ein wenig misstrauisch durch die Öffnung in den winzigen Raum, der dahinter lag.