Warum gerade jetzt? Warum gerade hier? Warum gerade so?

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Rainer Adamaszek

Warum gerade jetzt?

Warum gerade hier?

Warum gerade so?

Die Arbeit der Biographik

Einleitung

1 Die vier Dimensionen der Liebe

1.1 Eine geglückte Therapie?

1.2 Liebe und Arbeit

1.3 Unerfüllte Liebe, Macht und Schuld.

2 Biographik und Psychoanalyse

2.1 Die biographische Überwindung der Theoreme von „Ödipuskomplex“ und „Narzissmus“

2.2 Die biographische Unterscheidung von Sterben und Töten

2.3 Warum gerade jetzt, warum gerade hier und

warum gerade so?

2.4 Präzisierung der Sprache über „Liebe“„Schuld“, „Macht“, „Gefühl“ und „Vernunft“

2.5 Der Nachweis, dass die menschliche Sterblichkeit das vierte und fünfte Gebot zur Geltung bringt

3 Genographische Analyse

und Rekonstruktionsarbeit

3.1 Moratorien der Liebe und Sollbruchstellen von Lebensläufen

3.2 Choreographie der Versöhnung und Grammatik der Gefühle

3.2.1 Die Botschaft der Gefühle

3.2.2 Biographische Bahnung von Heilungsprozessen

3.2.3 Das Zusammenwirken der biographischen Fragestellungen

4 Gefühl und Vernunft im Einvernehmen

Zusammenfassung

Zwei Anlagen

Quellen

Literatur

Text: © Copyright by Rainer Adamaszek

Umschlaggestaltung: © Jens Adamaszek 2021

Verlag:

Dr. Rainer Adamaszek

Ual Saarepsway 26

25946 Norddorf/Amrum

Herstellung: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Einleitung

Der Arzt Viktor von Weizsäcker gelangte nach dem Aufkommen der Psychoanalyse und unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs zu der Überzeugung, dass die Zukunft der Medizin von der Entwicklung der biographischen Methode abhängt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Beendigung der Hitlerdiktatur, als er in Heidelberg auf den für ihn errichteten Lehrstuhl für „Allgemeine klinische Medizin“ berufen wurde, trat er sein Amt an, um das erforderliche Forschungsvorhaben umsetzen. Es bestand darin, der Medizin die hermeneutisch begründete Zukunft zu verschaffen, die ihr gebühre. Sie dem Schicksal zu überlassen, das ihr unter dem Zugriff ausschließlich naturwissenschaftlicher Orientierung drohte, hieß zuzusehen, wie sie – weiterhin – als Vorreiterin der Waffenindustrie fungiert.

Ob diese Befürchtung eingetroffen ist, kann jeder selbst beurteilen, der es wissen will. Weizsäckers Projekt jedenfalls ist zu seinen Lebzeiten nur bis zu einem Stadium gediehen, die das Urteil provozierten, es sei an seinen Anspruch gescheitert. Dieser ist in einem einzigen Satz zusammenzufassen:

Eine entfaltete „Biographik“ werde dazu befähigen, in Hinblick auf Entstehung und Verlauf von Erkrankungen drei Fragen verlässlich zu beantworten: „Warum gerade jetzt?“, „Warum gerade hier?“ und „Warum gerade so?“ (1)

Weizsäcker selbst hat aber zwei Sätze formuliert, die sich anhören, als wolle er selbst bereits den Grund seines Scheiterns durch einen ganz anderen Anspruch angeben: Er erklärte kurzerhand, dass die Biographik nicht ohne eine vollständig neuartige Definition des Begriffs von Wirkung auskomme.

Seinem Gesamtwerk ist zu entnehmen, dass ihr die Aufgabe zufalle, die Medizin aus der Umklammerung durch naturwissenschaftliche Prinzipien zu befreien. Statt sich am Ende aber darauf zu beschränken, dies Ziel noch einmal ausdrücklich zu benennen, tat er einen völlig anderen, nicht zu erwartenden Schritt: Er gab bekannt, dass er die biographische Definition des Arbeitsbegriffs bereits vorgenommen habe, und zwar durch die beiden Behauptungen:

1. „Wirksam ist das ungelebte Leben.“

2. „Verwirklicht wird das Unmögliche.“ (2)

Damit erweckte er bei seinen Zeitgenossen den Eindruck, als bestünde seine Absicht darin, das Ringen um Entwicklung der biographischen Methode den Kriterien wissenschaftlicher Bewährung zu entledigen und sie den offenen Armen der Esoterik zuzuführen. Er hielt gar nicht mit dem eigenen Bewusstsein hinterm Berge, dass diese Positionsbestimmung der Biographik „wissenschaftlich anstößig“, für heuristische Zwecke also ungeeignet erscheinen werde. Um als Lehrsätze zu dienen, müssten sie logische Stringenz aufweisen und experimentell bestätigt sein. (3) Da sie beide Voraussetzungen nicht zu bieten hatten, ließ sich im Rahmen der akademischen Medizin darauf anscheinend keine Schule mehr gründen.

Tatsächlich aber hatte sich am Ende seines Lebens herausgestellt, dass ihm Gewissheit, mit seinem Ringen um die notwendige Erneuerung der Medizin auf dem richtigen Weg gewesen zu sein, nicht davor bewahrte, die wirkliche Aufklärung, die ausstand, als sein Vermächtnis zu behandeln. Denn diese Aufklärung hätte durch den Nachweis erfolgen müssen, inwiefern seinen drei diagnostischen Grundfragen Relevanz innewohnt und inwiefern sein biographischer Begriff von Wirkung den Schlüssel zur Lösung therapeutischer Probleme liefert. Anders gesagt: Die biographische Forschung konnte nur dadurch Wurzeln treiben, dass sie die Fruchtbarkeit ihrer sowohl unerreichbar als auch widersprüchlich anmutenden Hypothesen unter Beweis stellte.

Dieser – durchaus nicht wahrscheinliche – Fall ist inzwischen eingetreten, und zwar infolge der Entdeckung, dass eine gesetzmäßige Korrelation von zwei spezifisch biographischen Beobachtungskriterien besteht und zur Einführung der Begriffe „Altersrelation“ und „Stellvertretungsordnung“ veranlasst. Damit war freilich die Antwort auf die erste Frage. „Warum gerade jetzt?“ noch nicht gegeben und die Eintrittspforte zur Entwicklung der darauf beruhenden Methodologie noch nicht eröffnet. Zwar hatte sich gezeigt: Menschen werden zu bestimmten Zeiten krank, nämlich gerade dann, wenn sie so alt wurden, wie ihre Eltern und Großeltern waren, als in deren Leben Anlässe zur Verzweiflung aufgetreten waren. Offenbar machten sich im Leben der Nachfahren gerade dann unbewusste Lebensthemen als unerfüllbare Anforderungen geltend, die Vergangenheit zu korrigieren.

Es war, als ob zu diesem Zeitpunkt (also im Rahmen derartiger Altersrelationen) an dem Ort, wo sich diese nachfolgende Person gerade befand, auf schicksalhafte Weise das Thema eines Besinnungsaufsatzes vergeben würde. Die Art der Entstehung und des Verlaufs von Symptomen schien die Frage zu beantworten, dass bzw. wie die an diesem Ort dafür zur Verantwortung gezogene Person die erforderliche Besinnung auf ihre eigene historische Situation zustande bringt. In solcher Herausforderung spiegelte sich – so die Konsequenz des biographischen Ansatzes – offenbar eine wesentliche thematische Gesetzmäßigkeit menschlicher Lebensläufe wider. Doch warum dies geschieht, ist die Frage nach dem Inhalt, durch die gesetzmäßige Form also noch nicht beantwortet. Diese Lücke wurde durch die Hypothese gefüllt, dass die Lebensthemen eines Menschen unbewusst durch die Liebe bestimmt seien, welche ihn mit seinen Eltern und Großeltern verbindet.

Dadurch wurde die Aufgabenstellung, die sich symptomatisch manifestiert, als unvergleichlich komplizierter eingeschätzt, sofern man sie derjenigen gegenüberstellte, womit Lehrer ihre Schüler konfrontieren, um sie zur Auseinandersetzung mit willkürlich gewählten Themen zu veranlassen. Aus dieser Perspektive bieten sich der biographischen Forschung schicksalhaft vorgegebene, gewissermaßen wie Implosionen anmutende symptomatische Einbrüche dar, worin sich eine unerfüllte Liebe nachträglich geltend macht. Dieser symptomatische Bezug auf frühere Ereignisse erweist sich der methodischen Untersuchung zugänglich, sofern er als Bezeichnung einer unabweisbaren Inanspruchnahme durch familiengeschichtliche Ereignisse aufgefasst werden darf.

Demnach gälte es, die Bedeutsamkeit der Gefühle zu erfassen, womit Symptome einher gehen: Als der Sinn ihres Auftretens erschlösse sich, den Unterschied zwischen der Bedeutung des betreffenden Kindes in Hinblick auf die unerfüllte Liebe der Vergangenen sowie auf den Sinn seines eigenen Daseins zu erkunden, das heißt die Einzigartigkeit seiner verantwortlichen Teilnahme am welthistorischen Prozess der Menschlichkeit wahrzunehmen, ja sie zu würdigen.

So gesehen, nimmt die unbewusste Thematisierung einer besonderen menschlichen Existenz die symptomatische Gestalt einer leibhaftigen Rätselfrage an. Deren Formulierung gibt versuchsweise die Kriterien für den Heilungsprozess vor. Das Urteil darüber, ob die erkrankte Person ihrer Verantwortung für die sinngemäße Deutung der Symptomatik auf dieser Grundlage gerecht wird, fällt freilich der Ausgang des Lebensprozesses. Erst dieser selbst zeigt Erfolg oder Misslingen des Bemühens um Heilung an.

Es ergibt sich die folgende Heuristik: Der Zeitpunkt des Auftretens bzw. der Rhythmus des Verlaufs einer Symptomatik werden biographisch als Schlüssel zur Aufklärung über Ort und Ausgestaltung ihrer Dramaturgie gedeutet. In der erkrankten Person bzw. in dessen Organen oder Organsystemen werden aus dieser Perspektive Schauspieler erblickt, die auf der Bühne ihres Lebens dem vorhandenen Publikum ein Bilderrätsel präsentieren und damit die Bedeutsamkeit des symptomatischen Einbruchs in den Lebenslauf illustrieren. Das symptomatische Geschehen entspricht dadurch einem unbewussten Appell an die anwesenden Dritten, um diese zur Hilfeleistung nicht nur zu bewegen, sondern auch instand zu setzen. Sie sollen daraus entnehmen, wessen der Appellierende bedarf.

Um diesen Vorgang zu begreifen, scheint die Erinnerung an die ursprüngliche Klage eines Säuglings unerlässlich. Für ihn handelt es sich dabei ebenfalls um eine Rätselfrage, die er nicht verstehen, sondern nur symbiotisch an die Eltern weiterzugeben vermag. Die Kunstfertigkeit, worüber sein Leib zu diesem Zweck unmittelbar verfügt, ist derjenigen ähnlich, derer sich der Leib des Kranken beim Auftreten einer Symptomatik bedient: Er appelliert bei seinen Nächsten an deren Bereitschaft, in elterlicher Funktion Verantwortung für das Gedeihen des Kranken wahrzunehmen. Nichts anderes obliegt Eltern, solange ihr Kind auf ihre Geistesgegenwart angewiesen ist. Erwachsene sind ihrerseits, um sich als gute Gastgeber erweisen zu können, ihrerseits davon anhängig vom Kranken auf die Spur seines Leidens gebracht zu werden und dessen Quelle zu entdecken. In letzter Instanz ist es der Arzt, um dessen Verantwortlichkeit der Kranke mit seinem Symptom nachsucht.

 

So zu denken, hat sich durch die folgende metaphorische Ergänzung als biographischer Königsweg zur richtigen Antwort herausgestellt: Die Regieanweisungen zur symptomatischen Inszenierung ist aus der familialen Vergangenheit des Kranken zu entnehmen, genauer: aus einer in dieser Vergangenheit unerfüllten Liebe. Der Bedeutung eines Symptoms kann aber nur gerecht werden, wer sich der in ihr sich darstellenden mehrfach gebrochenen Paradoxie widmet. Diese gleicht den Bildern eines Spiegelkabinetts: Sie stiftet dadurch Verwirrung, dass sie ihren Betrachter nicht erlaubt, aus schlichter Anschauung einer scheinbar nicht mehr zählbaren Abfolge von Abbildungen (der Abbildungen von Abbildungen) zu erkennen, wo sich die jeweils abgebildete Person in Wirklichkeit befindet. Zauberkünstler bedienen sich zuweilen auf ihrer Bühne des Spiegelungsprinzips, um sich mit der Aura dämonischer Mächte auszustatten.

Die Gesetzmäßigkeiten von Symptomen zuweilen als „leibhaftig“ zu charakterisieren, droht noch mit dem abergläubischen Vorurteil, dass es sich bei der Macht, die sich auf leibhaftige Weise Geltung verschafft, um „Teufelswerk“ handle. Dem widersetzen sich Weizsäckers Grundsätze der Biographik. Sie besagten in vorläufiger Abstraktion, was in Wahrheit damit nur gemeint sein könne.

Seine erste Hypothese, wirksam sei das „ungelebte Leben“, wird freilich erst durch eine Übersetzung zutreffend, nämlich durch Ersatz der Wörter „ungelebtes Leben“ durch „unerfüllte Liebe“: Dann erst greift sie die Beobachtung auf, dass das Kinderspiel darauf abzielt, in Gestalt von Stellvertretungsfunktionen unerfüllter Liebe nachträglich zur Erfüllung zu verhelfen.

Auch die zweite Hypothese, verwirklicht werde „das Unmögliche“, stimmt erst, sofern bei ihrer Anwendung bedacht wird, dass sich in Symptomen die rührende Vergeblichkeit des kindlichen Bemühens darstellt, die unerfüllte Liebe der Vergangenheit nachzuholen: Ein Symptom zeigt in gesetzmäßiger Weise auf, inwiefern es unmöglich ist, eine gute Tat durch eine gute Absicht zu ersetzen. Es stellt sozusagen einen Vergleich an, bei dem der bloße Versuch gegenüber dem Anspruch auf Gelingen unterliegt.

Beide Sätze Weizsäckers zeichnet aus, dass sie gar nicht anders begriffen werden können als mit der Bereitschaft, sie auf die ursprüngliche Selbstlosigkeit der Liebe des Kindes zu den Eltern und auf deren grundlegende Bedeutung für die Gestaltung von Gemeinschaften zu beziehen. Sie bezeugen eine geradezu grandiose visionäre Kraft, indem sie bereits den Hinweis darauf beinhalten, dass aus diesen Quellen sämtliche Gefahren erwachsen, deren Verwirklichung wir im Falle eines Scheiterns der kindlichen Güte begegnen. Aber sie kennzeichnen eben noch nicht, um welche Gefahren es sich tatsächlich handelt.

Diese Schwäche war es, von der Weizsäcker bekannte, es sei „besonders heikel“, wenn seine Grundsätze der Logik und des methodischen Nachweises ermangelten. Anders als er dachte, lässt sie sich grundsätzlich auch nicht dadurch beheben, dass man seiner Empfehlung folgt, ihre Gültigkeit zu „erproben“. (5)

Wer ins tiefe Wasser springt, um zu erproben, ob er schwimmen kann, überlebt den Misserfolg seines Versuchs nicht. Und wer als Arzt einen Kranken vorschickt, macht sich der fahrlässigen Tötung schuldig. Im Unterschied zu Sigmund Freud, der seine „Traumdeutung“ mit der Psychoanalyse eines eigenen Traums einleitete, unternahm Weizsäcker seinen öffentlichen Selbstversuch, sich von den Gepflogenheiten der Wissenschaft zu verabschieden, nicht aus voller Gesundheit und in sicherer Erwartung seines Erfolges, sondern im Zustand eines Kranken, der sich in sicherer Erwartung des eigenen Todes befand. Auf Seiten seiner Leser hinterließ er – nicht zuletzt darum – lediglich Ratlosigkeit in der Frage, welche seiner abenteuerlichen Empfehlungen befolgenswert sein könnten.

Aus heutiger Sicht lässt sich feststellen: Weizsäckers Grundsätzen der Biographik fehlte in der Tat der Schluss, dass eine methodisch gewonnene Einsicht in die Bedeutsamkeit des Vergangenen zur Einsichtnahme dazu führen muss, im Gegenwärtigen auf Fruchtbarkeit der Liebe zu den Nächsten zu setzen. Anders gesagt: Dem transzendentalen Impuls seiner Sätze fehlte eine Parteinahme für die Gewissheit, dass sich die Geschichte der Lebenden nicht nur im Rahmen ihrer Bedeutsamkeit vollzieht, sondern dass all dies gelebte Bedeutsame im Hier und Jetzt auf Sinnerfüllung zielt, und zwar grundsätzlich, also auch und gerade dann, wenn diese ausbleibt.

Die wesentliche Aufgabe der Medizin besteht von je her darin, im Kampf gegen (unwissenschaftliche) „Heilslehren“ die befreiende Wirkung von Wahrhaftigkeit zu erzielen. Die Entwicklung der ärztlichen Heilkunde erschien jedoch von Anbeginn abhängig von naturwissenschaftlicher Forschung. Inzwischen zeichnet sich ab, dass das Gesundheitswesen, das auf einer Basis errichtet worden ist, welche zur Erkrankung an dieser Abhängigkeit prädestiniert: Sie ist auf formalistische Weise transzendental konfiguriert und erteilt damit der Rücksicht auf den Sinn menschlicher Lebendigkeit jene symptomatische Abfuhr, die auf Missachtung der Liebe verweist. (6)

Bei aller Geduld hat sich das Vertrauen in die technische Verlässlichkeit der physikalischen Gesetze auf dem Gebiet der Physiologie als vorschnell erwiesen. Blindlings daran festzuhalten hat ihre Protagonisten zu Verfechtern eines Irrtums werden lassen, womit sie vor über hundert Jahren begonnen haben, die Medizin in eine auf diesem Wege unvermeidliche Krise der ganzen Heilkunde zu führen.

Die Krise ist zwar aus dem berechtigten Kampf von Naturwissenschaftlern gegen unwissenschaftliche Heilslehren erwachsen, aber zum Ausdruck von Verzweiflung an der eigenen relativen Begriffslosigkeit geworden. In ihrer gegenwärtigen Gestalt ist der Zustand der Medizin selbst das Hauptsymptom eines historischen Scheiterns der Menschheit am Projekt ihrer Menschlichkeit. Das Symptom verweist darauf, dass dies Projekt von je her mit dem Risiko eines Scheiterns an den Erfordernissen der menschlichen Lebensordnung behaftet gewesen ist.

Die Erkrankung der Medizin an ihrer naturwissenschaftlichen Engführung rührt daher, dass die menschliche Lebensordnung als das eigentliche, absolute Bewegungsgesetz der Lebensläufe in ihrer Theorie und Praxis systematisch ausgeblendet wird. Insbesondere wird missachtet, was Weizsäcker, wie selbstverständlich, zum wesentlichen Gesichtspunkt seiner „Krankheitsidee“ erklärt: Diese nämlich ergebe sich „aus dem Zusammenleben eines Menschen mit anderen Menschen (vor, mit oder nach ihm)“. (7)

Dass dem so ist, wird anhand von funktionellen Krankheitserscheinungen, wie der Hysterie, deutlich. Bei deren Behandlung nämlich versagt die naturwissenschaftliche Medizin. Werden deren Gesetzmäßigkeiten aber nach den Wahrheitskriterien der Naturwissenschaft für unwirksam erklärt, so erweist sich diese Verurteilung zur Unwirksamkeit als vergeblich: Ihre Art zu wirken nimmt in diesem Fall Symptomgestalt an und verlangt nach einem Begriff von Wirkung, wie ihn die Physiologie nicht aufbringt.

Die Krise der Medizin ist also durch von langer Hand vorbereitete Gewohnheit heraufbeschworen worden, die menschliche Lebensordnung zunächst in der mathematischen Sprache der Physiker zu verleugnen und sodann in der Alltagssprache von Medizinern der Missachtung preiszugeben. Wenn nun eine heilungsbedürftige Menschheit der Sprache naturwissenschaftlich orientierter Ärzte Allgemeingültigkeit zubilligt und die Sprache des medizinischen Alltags in den Rang einer Weltsprache erhebt, verschleiert deren Unwahrhaftigkeit zunehmend den Blick auf die historische Wirklichkeit. Sich in der Bereitschaft zu üben, das Unwirkliche an die Stelle des Wirklichen zu setzen, entwickelt sich dann zu einer Erkrankung, womit naturwissenschaftlich verschulte Mediziner die Weltbevölkerung infizieren.

Zwar erwartet dann jedermann von dem Gerede, das man allerorten über Fragen des Schutzes vor der Gefährdung durch Krankheitserreger hört, dass es die Menschen verbindet. Aber alle Welt leidet doch selbst darunter, dass dem nicht so ist, oder lässt „die Anderen“ darunter leiden. Denn in Wahrheit wirkt systematische Ablenkung von den Zielen der Liebe isolierend, und somit ist sie die gefährlichste aller Infektionsquellen.

Um die komplexe Wirkung der menschlichen Lebensordnung zu illustrieren, bietet sich ein Vergleich mit der Abbildung der Gravitation bzw. des physikalischen Kausalgesetzes durch Meereswellen an. Denn in der Biographik geht es darum, mittels weniger Grundsätze das ozeanische anmutende Verhältnis von Eltern und Kindern zu begreifen, welches durch die Fruchtbarkeit der Liebe von Mann und Frau hervorgebracht wird. Und wenn von Krankheit die Rede sein soll, verlangt der biographische Ansatz, den folgenden Gesichtspunkt zu berücksichtigen:

Die Kranken befinden sich im Entwicklungsstatus von Kindern, die bemüht sind, ihre Eltern in selbstloser Weise spielerisch zu trösten, als wäre es ihre Aufgabe, deren Vergangenheit zu korrigieren, und als ließe sich die Arbeit, ihr Dasein zu rechtfertigen, bereits durch naive Gutwilligkeit erledigen. Ihr gesetzmäßiges Scheitern an der vermeintlichen Aufgabe, mit ihrem Liebesspiel den Lebensernst auszuräumen, erscheint, solange es so harmlos bleibt, wie Meeresleuchten oder Meeresrauschen.

Statt für dies rätselhafte Geschehen eine neue Terminologie einzuführen, habe ich auf Wörter zurückgegriffen, die bereits ohne bewusste Bezugnahme auf biographische Gesetzmäßigkeiten gebräuchlich waren. Zu untersuchen ist die Gesetzmäßigkeit des Verhältnisses von „Relationalität“ und „Stellvertretungsordnung“. Diese beiden für die Biographik charakteristischen Begriffe beinhalten die Erfahrung, dass es bei der Beschreibung von Krankheitsprozessen mathematische Prinzipien der hermeneutischen Reflexion zu formulieren gilt. Das entspricht der Herausforderung, eine für die biographischen Befunde spezifische Arithmetik und Geometrie zu entwickeln.

Viktor von Weizsäckers Leistung bestand darin, Hypothesen über „Wirkung“ aufzustellen, welche seine Lehre vom Geltungsbereich der Physik und der Physiologie emanzipierten. Die Kalamität, dass ihm selbst die logische und empirische Berechtigung dazu vorläufig noch rätselhaft geblieben war, verführte ihn zur Parteinahme für eine Begriffsbildung, die ihn von der Pflicht zu entbinden schien, ihre Legitimität mathematisch auszuweisen. Tatsächlich opferte er damit die Verbindung zur wissenschaftlichen Tradition.

Darum kam es einer Rückkehr in die Arme der Alma Mater gleich, das biographische Forschungsvorhaben durchzuführen, das Weizsäcker initiiert hatte. Ob sie kleinlaut oder triumphal genannt werden soll, sei dahingestellt. Weizsäckers Anregung geradlinig zu folgen, wäre jedenfalls auf eine esoterische Engführungen hinausgelaufen. Sein Ansatz lässt sich nur würdigen, wenn aufgezeigt werden kann, dass die biographische Heuristik durch eine hermeneutische Empirie und Theorie untermauert wird, welche der Mathematik konstitutive Bedeutung zuweist. Das heißt:

Auf Umwegen bestätigt sich Kants Auffassung, dass auch in einer Lehre von der Natur des Menschen „nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.“ (8)

Auf dieser Basis werde ich begründen, dass Weizsäcker (in vorerst visionärer, tatsächlich aber bahnbrechender Weise abweichend von der akademischen Psychoanalyse) genau jenes hermeneutische Nadelöhr charakterisiert hat, dessen Enge den Weg zur Entwicklung der ärztlichen Heilkunde seit weit über hundert Jahren zu versperren schien. Zugleich werde ich belegen, warum es an der Zeit ist, sich den Herausforderungen seines Werkes zu stellen, statt ihnen mit seinen eigenen Einwänden auszuweichen, sie seien mit den Prinzipien gediegener Wissenschaft – scheinbar – nicht vereinbar.

 

Dem erforderlichen Neuanfang steht meines Erachtens nichts anderes im Wege als Furcht vor den politischen Folgen wirklicher, undogmatischer Aufklärung über die Rechtsordnung der Menschlichkeit. (9) Das wird sich freilich konkret erst dann abzeichnen, wenn der Philosophie das Recht entzogen ist, in der Aufklärung Hausrecht zu beanspruchen, und den Naturwissenschaften das Recht, sich als legitimierte Nachfolger von Theologie und Philosophie auszugeben.

Diese Aufklärung muss sich als Wahrnehmung ärztlicher Verantwortung zu erkennen geben. Das das wird geschehen, wenn die ärztliche Heilkunde dazu herangereift ist, der Würdigung der Leiber zu dienen, und genug Selbstkritik entwickelt hat, um den Boden ihres materialistischen Dogmatismus zu verlassen und dem missbräuchlichen Einsatz zur Verwertung von Körpern zu entsagen.

Bei dem Versuch, die hermeneutische Medizin durch „Einführung des Subjekts“ demgemäß zu revolutionieren, sind Viktor von Weizsäcker Fehler unterlaufen, die sein Projekt mit selbstge-machten Hindernissen belastet haben. Das neue Fundament, das er zu errichten suchte, krankte an der „Bewunderung“, die er für Sigmund Freuds Werk hegte, nämlich daran, dass er – im Einklang mit Freuds Lehre vom „Unbewussten“ – von Folgendem ausging:

1. Der Logik attestierte er, sie führe die ärztliche Hermeneutik systematisch in die Irre.

2. Der Mathematik erkannte er den Wert ab, bei der Erforschung des biographischen Begriffs von Wirkung als Hilfsmittel zu dienen.

3. In der Untersuchung der Hilfsverben (der sog. „pathischen Kategorien“) überging er deren Hauptproblem: die habituell irrige und symptomatische Zuordnung von Verantwortung. Beim Umgang mit Krankheit sind die Fragen „Warum gerade jetzt?“, „Warum gerade hier?“ und „Warum gerade so?“ unmittelbar von zentralem diagnostischem und therapeutischem Gewicht.

Unter derartigen Voraussetzungen war es Weizsäcker verwehrt, auf empirischem Wege den Beweis für die Gültigkeit seiner beiden – nachweislich – zutreffenden Hypothesen über den Begriff von Wirkung anzutreten. (10) Zu erwähnen, dass er dies auf allein logischem Wege nicht vermochte, war überflüssig. Denn es handelt sich ja um ein Problem der Heilkunde, und dessen Lösung verlangt in erster Linie logischen Umgang mit Erfahrungen.

Dass Weizsäckers Aufbruch, der ihn von der Psychoanalyse zur Biographik bringen sollte, angesichts seines Todes mit einem Fiasko endete, resultierte aus seinem Vorurteil, der psychoanalytische Pazifismus gegenüber neurotischen Erkrankungen verpflichte ihn zur Feindschaft gegen physikalisch ausgebildete Waffentechniker.

Tatsächlich verpflichtet die Wahrnehmung ärztlicher Verantwortung zur Aufklärung über die Grenze, welche den Einsatz naturwissenschaftlich (physiologisch) erforschbarer Instrumentarien und den Einsatz biographisch entwickelter Heilmethoden voneinander trennt bzw. miteinander verbindet. Diese Behauptung zu erhärten, ist mein Anliegen.

Meine Frau Monika hat mir dazu verholfen, das Forschungsgebiet zu betreten, das sich anla¨sslich therapeutischer Thematisierung genealogischer Zusammenha¨nge darbietet. Und Stephan Gra¨tzel hat mich mit hilfreichen Hinweisen zur erforderli- chen Begriffskla¨rung sowie mit Anregungen zur bu¨ndigen Darstellung der Methodologie der a¨rzt- lichen Hermeneutik begleitet.

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