Der Bruch

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Er starrte aus dem Fenster im Oberdeck, während wabernde Synthies und besoffene Drums miteinander kämpften. Er hatte dasselbe Gefühl wie letzte Nacht, der schnelle Wechsel vom grauen Kieselrauputz der Häuser in Niddrie und Craigmillar zu den größeren Häusern in Prestonfield und Newington.

Er nahm das Telefon der Frau aus der Tasche und starrte es einen langen Moment an, dann schaltete er es ein. Auf dem Bildschirm der Hinweis auf sechs verpasste Anrufe, einer vom Notrufdienst am Abend zuvor, die anderen von »Derek«. Ein Ehemann oder Freund, der sich fragte, wo sie steckte. Oder ein Sohn. Er schaltete das Gerät wieder aus und steckte es ein. Falls man bereits versuchte, das Telefon zu lokalisieren, würden sie jetzt einen Ping des Mastes in Prestonfield erhalten.

An der Dalkeith Road verließ er den Bus und schlenderte an den wuchtigen Häusern der Blacket Avenue vorbei. Er wechselte zur Grange Loan, dann weiter rauf zum Dalrymple Crescent, dem Ort des ersten Bruchs vom Vorabend. Er atmete tief ein und aus, ging aber ganz normal weiter. Nur ein Teenager, der eine Straße hinunterging und Musik hörte, mehr nicht. Im Vorübergehen warf er einen Blick auf Hausnummer dreizehn. Kein Lebenszeichen, keinerlei Hinweis darauf, dass sie dort eingestiegen waren. Er dachte an die Polaroidkamera, die sich jetzt in Beans Schultasche befand. Er ging weiter, schluckte schwer, blinzelte. Wenn er die Augen schloss, spürte er den Schlafmangel, während gleichzeitig sein Adrenalinspiegel stieg, weil er wieder hier war.

Er trottete am Dick Place entlang und an der Blackford Road, noch mehr luxuriöse Häuser mit Preisschildern jenseits der Million, der Bürgersteig überschattet von Baumkronen, die über hohe Mauern und dichte Hecken hinausragten. Er stellte sich die Menschen darin vor, wie sie in ihren Gartenhäusern saßen, sich in einem begehbaren Kleiderschrank etwas zum Anziehen heraussuchten, auf einem Home-Entertainment-System ein Autorennspiel zockten.

Sein Herz blieb ihm im Hals stecken, als er die Whitehouse Loan hinaufging und die St. Margaret’s Road erreichte. Ohne Zögern bog er in die Straße ein. Man wusste nie, ob man von einer Überwachungskamera erfasst wurde, und jedes Herumlungern war verdächtig. Solange man aussah, als hätte man ein Ziel, konnte man praktisch alles tun. Er sah im Vorbeigehen verstohlen zu den Häusern hinüber, und erst jetzt fiel ihm auf, dass die Hausnummern auf der einen Straßenseite anstiegen – eins, zwei, drei – und auf der anderen dann wieder kleiner wurden. Es war eine winzige Straße mit gerade mal acht Häusern. Er ging noch mal in Gedanken durch, warum sie sich für keines der anderen entschieden hatten. Das eine besaß eine anscheinend erst kürzlich installierte Alarmanlage, ein anderes hatte zu wenig abschirmende Bäume und Autos in der Einfahrt, direkt vor dem dritten war eine Straßenlaterne.

Dann war er auch schon auf Höhe von Nummer vier. Er ging minimal langsamer, nicht genug, um dadurch aufzufallen, aber doch ausreichend, um sich zu konzentrieren und mit großen Augen alles aufzunehmen. Er sah die beiden steinernen Torpfosten der Zufahrt, die Kletterpflanze an der Seitenwand, die ordentliche Garage direkt neben dem Haus, die weiße geschlossene Haustür. Er stellte sich vor, zu dieser Tür zu gehen und zu klingeln, sich irgendeinen Scheiß auszudenken von wegen Marktforschung oder Fenster verkaufen. Er stellte sich die Frau vor, die ihm die Tür aufmachte, ein Geschirrtuch in den Händen oder ein Glas Saft, wie sie ihn anlächelte und dankend ablehnte, dennoch ein freundlicher Blick in ihren Augen. Sie erkannte ihn nicht wieder, einfach, weil in der letzten Nacht überhaupt nichts passiert war. Sie war vom Sport zurückgekommen, hatte geduscht, sich ein Sandwich gemacht, vielleicht ein Glas Rotwein getrunken, war dann mit einem Buch ins Bett gegangen, wartete darauf, dass ihr Mann nach dem gemeinsamen Kneipenausflug des Büros, vor dem ihm gegraust hatte, nach Hause zurückkehrte.

Dann erinnerte er sich wieder an die Schrotflinte unter dem Bett, an den Stapel Smartphones, die Geldklammer. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie blutüberströmt dalag.

Er war zu diesem Zeitpunkt bereits um die Ecke, fast am Ende des Greenhill Place. Er beugte sich vor und kotzte hinter einen elektrischen Verteilerkasten an der Ecke, wischte sich den Mund ab und ging weiter.

Wie benebelt setzte er seinen Weg fort, als hätte er keine Macht über seine Bewegungen. Er fand sich auf dem Strathearn Place wieder, dann Greenhill Gardens, Church Hill und schließlich Clinton Road, wobei die Häuser immer größer wurden. Er ging weiter, achtete dabei auf die Sicherheitsvorkehrungen der Gebäude. Es war heller Tag, und doch fühlte er sich unsichtbar, fast wie ein Geist, der durch die Leben reicher Leute wandert. Der Lieferjunge, der Uber-Fahrer, der Gebäudereiniger, der Handwerker, der Gärtner. Kein Teil dieser Welt, also wurde man ignoriert, bis sie einen brauchten.

Es gab Häuser mit Türmchen und Türmen, zinnenartige Silhouetten, die an Burgen erinnerten. Es drängte ihn heftig, nicht mehr länger nur Beobachter zu sein, sondern etwas zu tun. Er erkannte dieses Gefühl, es überkam ihn nach jedem der nächtlichen Brüche. Seine Antennen kribbelten. Da war ein Haus, damit konnte er etwas anfangen. Keine Alarmanlage, alte Fenster und Türen, jede Menge Deckung. Er ging die Einfahrt hinauf, das Knirschen seiner Schritte wie Gewehrschüsse. Er erreichte die Haustür, überladene Musselin-Glasscheiben in massiver Eiche. Er klingelte mit zugeschnürter Kehle. Er schluckte schwer, bekam einen zugeschnürten Hals. Wartete. Klingelte wieder. Legte den Kopf schief und lauschte. Ein leises Blätterrascheln in den Birken. Er trat zwei Schritte zurück und schaute nach oben. Viktorianisch, mindestens fünf Schlafzimmer, das Mauerwerk unlängst gereinigt und neu verfugt. Mehrere Mansardenzimmer mit kleinen Fenstern etwas zurückgesetzt im Obergeschoss. Er drehte sich um und betrachtete den Garten. Tyler befand sich bereits gut fünfzehn Meter von der Straße entfernt, eine hohe Steinmauer und mehrere Ahornbäume versperrten den Einblick von der Straße aus.

Er ging um die Seite des Hauses und versuchte die hintere Tür der angrenzenden Garage. Offen. Er ging durch die Garage, vorbei an Regalen mit Farbe und Dünger, und versuchte sein Glück an der Verbindungstür zum Haus. Abgeschlossen. Er ging wieder hinaus. Über der Garage befand sich ein Flurfenster, klein, aber doch groß genug, um durchzukommen. Er kehrte in die Garage zurück, holte eine Leiter heraus und lehnte sie gegen die Wand. Tyler kletterte hinauf, stieg aufs Garagendach, versuchte das Fenster. Unverriegelt. Er drückte es auf, atmete tief ein und sprang, packte den Sims und zog sich mit Schwung auf die Ellbogen hinauf. Er tastete mit den Turnschuhen über den Stein, zog sich hoch und rüber, stützte sich mit den Händen auf der inneren Fensterbank ab, schob sich zappelnd durch den offenen Spalt und fiel wie ein neugeborenes Fohlen innen auf den Boden.

Er kauerte eine ganze Minute dort, lauschte auf seinen Atem und sonst nichts.

Er war drin.

8

Er wanderte von Zimmer zu Zimmer, um ein Gefühl für das Haus zu bekommen. Dieses Zuhause befand sich im Winterschlaf, war nicht leer, wurde aber auch nicht täglich genutzt. In sämtlichen Schlafzimmern war alles ordentlich in Schubladen und Schränke geräumt, auf den Nachttischen weder Bücher noch Gläser mit Wasser, auf dem Boden des Zimmers eines männlichen Jugendlichen keine achtlos fallen gelassenen Kleidungsstücke, über allem eine feine Staubschicht. Neutrale Tagesdecken auf Betten, in denen nicht geschlafen worden war, geschmackvolle Lampen und viel dunkles Holz. Aber es gab auch Lebenszeichen – ein Bücherregal voll Harry Potter, Kram von den eigenen Abenteuern eines Jungen, ein junger James Bond.

Im Elternschlafzimmer nicht anders. Es war schon eine ganze Weile nicht mehr benutzt worden, aber im Schrank hingen Kleider, auf den Regalböden eines Schranks eine ganze Kollektion Stöckelschuhe. Im Bad standen einige Flaschen auf dem Badewannenrand, aber es gab keine Seifenkleckse, keine feuchten Handtücher, die Kacheln vollkommen trocken. Fast war es wie ein Musterhaus, hier und da ein paar wenige persönliche Dinge, platziert, um dem Haus so etwas wie Charakter zu geben. Oder wie eine Airbnb-Wohnung, in der während der Festivalsaison eine reiche Familie wohnte, die überteuerte Theater- und Comedyvorstellungen besuchte.

Die Mansardenzimmer genauso. Kleine eiserne Kaminöfen, Wollmäuse unter den Betten, der Blick aus den höheren Fenstern hinaus auf den Garten. Durch das Laub sah er einen Kastenwagen der British Telecom, Arbeiter standen um ein Loch in der Straße. Er schaute einen Moment zu, dann ging er zwei Treppen nach unten, ließ dabei die Hand über das Geländer streichen, verschwendete keinen Gedanken an Fingerabdrücke. Kein Mensch suchte nach Fingerabdrücken, wenn man nicht mal wusste, dass überhaupt eingebrochen worden war.

Im Erdgeschoss fand er verschiedene persönliche Dinge. Eine Sammlung Vinylschallplatten mit klassischer Musik neben einem Linn-Plattenspieler. Er ging die Scheiben durch, die alphabetisch sortiert waren, und zog eine heraus. Erik Satie. Er nahm sie aus der Hülle und legte sie auf den Plattenspieler. Schaltete die Maschine ein, es ploppte und summte, dann senkte er die Nadel auf die Schallplatte. Der warme Klang der Musik erfüllte den Raum. Langsames Klavier, melancholisch, viel Stille. Er spürte, wie sich seine Atmung und der Herzschlag verlangsamten, während er im Raum umherwanderte. Auf dem Kaminsims gerahmte Familienfotos. Mum, Dad, zwei Söhne. Der Dad sah militärisch aus, kräftige breite Schultern, Oberschicht, Offiziersmaterial. Die Frau war schön auf eine knochige Art, scharfe Gesichtszüge und leere Augen. Sie lächelte, aber es lag keinerlei Wärme darin. Die beiden Jungs waren untersetzte Teenager, der eine etwas älter als Tyler, und sie versuchten, Daddy nachzueifern, die Brust gereckt, das Kinn gehoben, dieselbe Anspruchshaltung.

 

Tyler ging zur Haustür und hob die Post vor dem Briefschlitz auf. Der Anzahl der Briefe nach war seit Wochen niemand im Haus gewesen. Aber sie bekamen immer noch Rechnungen geschickt, also war es das Familienhaus. Fotheringham, Jason und Charlotte.

Er legte die Post zurück und ging in die Küche. Schwarzer Schieferboden, verchromte Armaturen, eine lange Frühstückstheke aus irgendeinem weißen Stein. Er ging zum Kühlschrank, nahezu leer. Sie hatten offenbar in nächster Zeit nicht vor, sich einen Snack zu machen. Im Eisfach selbst gekochtes Zeug in Tupperdosen – Lasagne, Pollo Cacciatore, Wildgulasch. »Ben & Jerry’s Cookie Dough«-Eiscreme und eine Flasche Grey-Goose-Wodka. In den Schränken fand er Kekse und Chips, Thunfischdosen und Kidneybohnen. Er nahm ein KitKat und wickelte es aus, dann hörte er den Krach von zersplitterndem Glas.

Er hörte auf zu kauen und lauschte.

Die Klaviermusik lief immer noch in dem anderen Zimmer.

Er ging zur Küchentür und sah in den Flur, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.

Ein weiteres Krachen. Mehr Glas, ein dumpfer Schlag aus dem Wohnzimmer.

»Kackenscheiß.«

Er sah die Treppe hinauf. Er hatte voll freie Bahn von hier aus, konnte in einem halben Dutzend Sprüngen die Treppe hinauf sein, durch das Fenster oben im Flur, und kein Mensch kriegte was davon mit.

Aber irgendwas war mit dieser Stimme.

Er starrte zur Wohnzimmertür, durch die Klaviermusik herausperlte. Jemand ächzte.

Den KitKat-Riegel in der Hand ging er zur Tür.

Ein Fenster war eingeschlagen, Glassplitter lagen über den Läufer verteilt, mittendrin ein glatter Stein aus dem Garten. Das Fenster war geöffnet und hochgeschoben worden, und ein Mädchen in einem roten Schulblazer kletterte herein, hielt dabei die Handfläche der einen Hand in der anderen.

»Scheiße.«

Sie war schlank und knochig, ein paar Zentimeter größer als er, ungefähr das gleiche Alter. Unter dem Blazer trug sie eine weiße Bluse, einen knielangen marineblauen Rock und eine marineblaue Strumpfhose, dazu flache schwarze Schuhe. Ihr rotblondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Als sie sich aufrichtete, fielen Tyler ihre Gesichtszüge auf, eine spitze Nase und grüne Augen, markante Wangenknochen und scharf geschnittene Kieferpartie, ein schmaler Mund.

Sie drehte sich um. Mit Überraschung in den Augen wanderte ihr Blick von seinem Gesicht zu dem KitKat, dann von oben bis unten über seine Uniform.

»Wer zum Teufel bist du denn?«, fragte sie.

»Das hab ich mich auch gerade gefragt.«

»Das ist nicht dein Haus.«

Tyler dachte an die Familienfotos der Fotheringhams. »Dito.«

»Du bist widerrechtlich hier eingedrungen.«

»Gleichfalls.«

Sie seufzte. »Wir könnten den ganzen Tag so weitermachen.«

Sie senkte den Blick auf ihre Hand und Tyler sah, dass Blut auf den Läufer tropfte, dasselbe Rot wie ihr Blazer.

»Wer immer du bist – weißt du, wo ich hier ein Pflaster oder so was finde?«, fragte sie.

Tyler drehte sich um. »Hier lang.«

9

Er ließ an der Küchenspüle das kalte Wasser laufen und sah über seine Schulter zurück. Sie war ihm gefolgt, eine Spur von Blutstropfen zog sich hinter ihr über den Boden. Sie kam näher, die Augen zusammengekniffen, starrte ihn an.

»Halt sie unter Wasser«, sagte er.

Das machte sie und zuckte sofort zusammen, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Er sah zu, wie das rosa Wasser in einem Strudel im Ausguss verschwand. Er fragte sich, wo er in einem so großen Haus einen Verbandkasten aufbewahren würde. Er ging zu einem Abstellraum an einer Seite der Küche, darin Waschmaschine und Trockner, ausgelagerte Winterjacken und Stiefel. In der zweiten Schublade fand er einen Schnellverschlussbeutel mit einem Kreuz darauf, gefüllt mit Pflaster und Antiseptikum, Zeugs gegen Insektenstiche, eine Rolle Verbandmull und eine Schere. Damit kehrte er in die Küche zurück, warf den Beutel aufs Abtropfbrett und hielt ihr ein Geschirrtuch hin.

»Lass mal sehen.«

Sie hob die Hand. Die Schnittwunde über ihrem Handballen war ungefähr drei Zentimeter lang, aber nicht tief, und das Blut quoll auf der gesamten Länge hervor, während sie zuschauten. Nur ein Stück weiter unten und es hätte ihr Handgelenk erwischt, quer über die Vene.

Er spürte, dass sie ihn beobachtete, spürte, wie er einen roten Kopf bekam.

»Darf ich?«, fragte er.

Sie hielt ihm ihre Hand hin, und er tupfte sie vorsichtig mit dem Geschirrtuch ab. Es fühlte sich komisch an, wie ein religiöses Ritual.

»Ich glaube, es ist jetzt trocken«, sagte sie schließlich, und sein Gesicht fühlte sich noch heißer an.

Er ließ das Geschirrtuch fallen, gab etwas Antiseptikum auf einen Wattebausch und ergriff ihr Handgelenk. Er hatte bei Bean schon so viele kleine Wunden versorgt, dass er genau wusste, was er tat.

»Das wird jetzt brennen.« Er tupfte.

»Oh verdammt!« Sie zuckte zusammen und zog ihre Hand zurück. Einen kurzen Augenblick berührten sich ihre Finger, dann hielt sie ihm wieder die Hand hin. Er tupfte sie ab, während sie scharf ein- und schwer ausatmete.

»Meinst du, es muss genäht werden?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ist nicht tief.«

Er maß ein Stück Verbandmull ab, schnitt es zurecht und legte den Anfang in die Beuge ihres Daumens. »Halt das fest.«

Sie drückte einen Finger darauf. Er wickelte den Verband über den Handrücken und dann über den Schnitt, einmal ums Handgelenk und wieder hoch, prüfte dabei immer wieder, ob es stramm genug saß. Er fand eine kleine Sicherheitsnadel und fixierte den Verband.

Sie hob die Hand, ließ die Finger spielen und ballte sie zur Faust. »Ich sehe aus wie ein Boxer.« Sie machte eine schnelle Folge von Geraden und täuschte dann einen Uppercut mit der anderen Hand an.

»Wie willst du das erklären?«

Sie sah ihn an. »Wem müsste ich es denn erklären?«

Tyler zuckte mit den Achseln.

Sie lächelte. »Ich werd einfach sagen, ich hätte an mir rumgeschnippelt, das machen an der Schule alle.«

Sie deutete auf das Wappen an ihrem Blazer, ein dickes rotes Kreuz, eingefasst mit Blättern, und oben drüber was auf Latein. »Inveresk.«

Das piekfeine Internat in Musselburgh. Er hatte noch nie einen Schüler von dort kennengelernt, sie hielten Distanz zu den anderen Kids der Stadt, allein schon, um Ärger aus dem Weg zu gehen. Die Schule war von hohen Steinmauern umgeben, und jede Menge Security sorgte dafür, dass die Einheimischen draußen blieben.

Tyler las den Text auf ihrem Schulwappen. »Spartam nactus es, hanc exorna«.

Sie verdrehte die Augen. »Irgend so ein uraltes Zeugs über Sparta. Wörtlich ergibt es überhaupt keinen Sinn, so was wie ›Sparta gehört dir, verschönere es‹. Heutzutage sagt man, es bedeutet so viel wie ›Entwickle deine Talente‹. Alles extrem motivierend.«

Er versuchte, sich an das Motto seiner Schule zu erinnern, aber er war nicht mal sicher, ob sie überhaupt eines hatte.

»Wie heißt du?«, fragte sie.

»Tyler.«

»Damit kann ich was anfangen.« Sie bot ihm ihre verletzte Hand an. Er nahm sie, drückte aber nicht zu, spürte den Unterschied zwischen ihrer glatten Haut und dem rauen Verband.

»Ich bin Flick«, sagte sie. »Weil du mich ja nie fragen wirst. Eigentlich ist es Felicity, aber kein Mensch nennt mich so außer meinen Eltern, und die sehe ich nie.«

Tyler schüttelte ihre Hand, bis es sich irgendwie blöd anfühlte.

»Nett, dich kennenzulernen, Flick.«

Sie ließ seine Hand los und sah sich theatralisch um.

»Also, wieso bist du an einem Dienstagmorgen im Haus meines Ex-Freundes?«

Er begann, die Sachen wieder in die Reiseapotheke zu räumen, dann zog er den Verschluss zu und legte sie zurück in die Schublade im Lagerraum.

»Du bist der starke, stille Typ, ja?«

Er kam zurück und lehnte sich gegen die Spüle. »Du bist hier diejenige, die eingebrochen ist.«

»Du auch.«

»Das weißt du nicht.«

»Ich wette, ich finde dafür Beweise.«

Tyler dachte an das offene Flurfenster oben, an die Leiter, die draußen an der Garagenwand lehnte. »Jedenfalls ist es nicht haufenweise Glas auf dem Läufer im Wohnzimmer und überall Blut.«

Sie spitzte die Lippen, als wär’s ein Spiel.

»Du bist keiner von Wills Freunden.«

»Wer sagt das?«

Sie musterte ihn übertrieben betont. »Weil du so ziemlich das genaue Gegenteil von diesem Drecksack bist.«

Tyler hätte längst weg sein sollen, er hätte die Biege machen müssen, als er im Wohnzimmer das Glas zerbrechen hörte. Aber er war immer noch hier und genoss es, Flicks Gesicht anzusehen und den Schwung ihrer Hüfte, und er roch auch ihren Duft, irgendwas Zitroniges.

Sie berührte die Spitze ihres Pferdeschwanzes. »Dann bist du also ein Dieb?«

Tyler streckte die Hände aus. »Siehst du mich irgendwas klauen?«

»Vielleicht hab ich dich ja auf frischer Tat erwischt.«

»Ja, klar, du hast dich angeschlichen und mich in flagranti erwischt, obwohl du Fenster eingeschlagen hast und hier alles vollsaust.«

»Okay, Klugscheißer.«

Sie hatte einen vornehmen Edinburgh-Akzent, eine Stimme, wie man sie bei Nachrichtensprecherinnen oder Moderatorinnen im Frühstücksfernsehen hörte. Er hatte noch nie einen echten Menschen getroffen, der sich tatsächlich so anhörte. In ihrer Stimme lag ein Selbstvertrauen, das man bekommt, wenn man sich nie Sorgen machen muss, wie man an die Kohle fürs Essen oder den Saft aus der Steckdose kommt, solche Sachen hatte sie einfach nicht auf dem Schirm. Er nahm sich vor, später im Internet die Schulgebühren von Inveresk nachzusehen.

Sie deutete mit dem Kopf Richtung Wohnzimmer. »Was ist mit der Musik?«

Erst als sie es jetzt erwähnte, registrierte er, dass das Album immer noch lief, klassische Musik herüberdriftete.

»Ist beruhigend.«

»Du bist bei jemandem eingebrochen, um Klaviermusik zu hören?«

»Hab’s doch schon mal gesagt, ich bin nicht eingebrochen.«

»Wenn du das sagst.«

Er trat einen Schritt zur Seite und nahm ein Geschirrtuch. »Wahrscheinlich sollten wir die Schweinerei beseitigen, die du veranstaltet hast.«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Warum?«

»Damit sie nicht merken, dass wir hier waren.«

»Und was ist, wenn ich genau das möchte?«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist einfach nur dumm. Willst du verhaftet werden?«

Sie dachte darüber nach. »Woran denkst du?«

»Die zerbrochene Scheibe können wir nicht verbergen, also lassen wir das Glas und den Stein liegen, machen das Fenster zu und beseitigen sämtliche Blutspuren, das wäre das Wichtigste. Dann sieht’s vielleicht so aus, als hätte irgendein Idiot nur einen Stein durchs Fenster geschmissen. Videoüberwachung gibt’s hier nicht, also ist das kein Problem.«

Er ließ unter dem Hahn Wasser auf das Tuch laufen und drückte es aus, dann machte er in der Spüle einen Lappen nass und gab ihr den.

»Komm.« Er begann, den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren, die Augen auf dem Boden, kniete sich hin, um Blut wegzuwischen, wenn er welches entdeckte. Schiefer und Marmor waren kein Problem, der Teppich im Wohnzimmer war schwieriger. Aber er war dunkel und gemustert, also hatten sie vielleicht Glück.

Sie kniete sich neben ihn und tupfte einen Fleck ab.

»Vorsichtig«, sagte er. »Direkt neben deinem Knie sind Glassplitter. Auf noch mehr Blut können wir echt verzichten.«

Sie saß in der Hocke da und schaute ihn an. Sah sich im Zimmer um und ging wieder auf die Knie. »Warum hilfst du mir?«

»Warum nicht?« Er ließ den Blick durch den Raum wandern. »Das dürfte reichen.«

»Werden die nicht die Polizei verständigen?«, fragte Flick. »Die Spurensicherung kommen lassen?«

»Hättest du darüber nicht nachdenken sollen, bevor du einen Stein durch ihr Fenster wirfst und einsteigst?«

»Hab nicht nachgedacht.«

Er stand auf, schloss das Fenster und verriegelte es. Rieb an einem Blutstropfen auf dem Holzrahmen, bis der weg war.

 

Sie stand auf. »Willst du wissen, warum ich hier bin?«

Er breitete die Hände aus, lud sie ein zu sprechen.

Sie ging zum Kaminsims, starrte das Familienfoto an und zeigte auf den jüngeren der beiden Brüder. »Dieser Arsch hat mich wie Scheiße behandelt. Er hat mir Sachen versprochen. Alles nur Lügen. Er hat die ganze Zeit Tabby gevögelt und wahrscheinlich auch noch andere. Ich will Rache.«

Tyler nahm ihr den Lappen ab, dann gingen sie in die Küche. Er spülte den Lappen aus und legte ihn aufs Abtropfbrett, dann wrang er das Geschirrtuch aus und stopfte es in seine Tasche.

»Kann ich schlecht hierlassen«, sagte er. »Zu offensichtlich.«

»Du hast so was schon mal gemacht, stimmt’s?«, meinte Flick.

Sie stand dicht genug, dass er wieder ihr Parfum riechen konnte, Zitronen und Blumen.

»Warum – wenn du nichts mitnimmst?«

Er dachte an die Frau, die in ihrem Blut auf dem Boden lag, wie Barry an ihr vorbeigegangen war, an die Schrotflinte unter dem Bett. Er dachte an Bean auf dem Dach, an seine zugedröhnte und auf dem Sofa pennende Mum, an den Hund in dem verlassenen Gebäude.

»Was genau machst du hier?«, fragte er. »›Rache‹ ist ziemlich schwammig.«

Sie wedelte mit ihrer verbundenen Hand. »Ich weiß nicht, ’n bisschen Chaos hinterlassen. Was mitnehmen. Ein Feuer in seinem Zimmer machen.«

»Um dann wegen Brandstiftung einzufahren? Super Idee.«

»Tja, was schlägst du vor?«

Er war nicht sicher, ob sie wirklich Ideen hören wollte oder eher nicht. Ihr Lächeln deutete an, dass sie es selbst nicht so genau wusste.

»Alles, was du tust, beweist doch nur, dass er dir an die Nieren gegangen ist«, sagte Tyler. »Und du handelst dir damit ziemlich sicher fetten Ärger ein. Wenn du ihn wissen lässt, dass du hier warst, und wenn er wirklich so ein Arsch ist, wie du sagst, dann wird er dir auch die Bullen auf den Hals hetzen.«

»Also?«

»Also tu so, als würde er nicht existieren. Vergiss ihn und zieh weiter.«

Flick kaute nachdenklich auf ihrer Lippe. »Für so einen kleinen Typen bist du ganz schön vernünftig.«

Tyler vermutete, dass sie auf der Schule im gleichen Jahrgang waren, sagte aber nichts.

Inzwischen lächelte Flick. »Darf ich denn wenigstens auf sein Bett pinkeln?«

»Gibt Typen, die fahren auf so was ab.«

Sie schnitt eine Grimasse. »So wie ich ihn kenne, trau ich ihm das sogar zu.«

Mit einem metallischen Geräusch und Knacken hörte die Musik im Wohnzimmer auf. Die plötzliche Stille fühlte sich an, als würden sie voreinander bloßgestellt. Sie gingen hinüber, und Tyler nahm die Platte mit den Fingerspitzen hoch, steckte sie in die Hülle und sortierte sie wieder in dem Regal ein. Sein Blick fiel auf die Glasscherben und den Stein auf dem Teppich, auf die zerbrochene Scheibe, und dann hörte er ein Geräusch, bei dem er erstarrte. Schritte auf dem Kies draußen, die lauter wurden, als die Person sich dem Haus näherte. Flick warf ihm einen Blick zu, aber er schüttelte nur den Kopf. Die Schritte wurden lauter, hörten dann auf, und die Türglocke erklang. Tyler packte Flick und drückte sie an den Kaminsims. Schweigend standen sie da. Er hörte das Schlurfen von Schuhen draußen auf der Stufe, dann ein Geräusch, das Umschläge machten, die durch einen Briefschlitz geworfen wurden, wie sie innen auf die Fußmatte fielen. Wenn der Briefträger nur einen Schritt zur Seite machte und hereinblickte, musste er sie sehen. Selbst wenn er sich nur in diese Richtung drehte, würde er das eingeschlagene Fenster sehen. Tyler bewegte einen Fuß und zuckte zusammen, als er gegen den Gitterrost des Kamins stieß und Metall über Stein schrammen ließ. Flick hob die Augenbrauen. Tyler starrte aufs Fenster, wartete darauf, ein Gesicht zu sehen. Ein paar weitere Sekunden, Stille im Raum und draußen. Dann das Knirschen von Schritten, die sich die Einfahrt hinunter entfernten.

Tyler dachte an die an der Garage lehnende Leiter, die von der Vorderseite des Hauses nicht zu sehen war.

»Wir sollten besser gehen«, meinte Flick. »Irgendeine Idee, wie wir hier rauskommen?«

Tyler lächelte.

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