Der Bruch

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Der Pissegestank stach Tyler in die Nase. Er starrte Barry einen langen Augenblick an, bevor er antwortete. »Laptop und iPad, Kettchen und Ringe.«

Barry hatte einen DVD-Player, noch einen Laptop und noch anderes Zeug in einer Einkaufstasche. Kelly wedelte mit ein paar Scheinen, die sie in einer Schublade gefunden hatte, und mit teuren Kopfhörern.

Tyler sah sich um. Noch mehr Bücherregale. Richtige Leseratten. An der Wand mehrere Originalgemälde, abstraktes Zeug, pastellfarbene Formen, die keinen Sinn ergaben. Dunkle Ledersofas, Bilder der Kids auf dem Kaminsims, ein phrenologischer Kopf. Stilvolle Menschen mit einem unauffälligen Leben. Er fragte sich, wie sie das wohl aufnehmen würden.

»Kommt«, sagte Barry.

Sie gingen zurück in die Küche.

Barry blieb vor einer Schüssel in der Mitte der Frühstücksbar stehen und wühlte darin herum. Etwas Kleingeld, Golfbälle, ein Taschenrechner, fleckige Korken aus Weinflaschen.

»Scheiße, keine Autoschlüssel.«

Barry sah sich in der Küche um, und Tyler folgte seinem Blick. Ein Satz schicker Messer in einem Holzblock, hängende Kupfertöpfe, eine riesige Kühlgefrierkombination. Er überlegte, was sie zu essen zu Hause hatten.

Barry nahm eines der Messer aus dem Block und ließ es mit einem erschütternden Scheppern auf den Boden fallen. Eine Warnung an die Hausbesitzer. Er ging durch die Hintertür hinaus. Kelly lächelte Tyler an und folgte ihm. Tyler sah sich ein letztes Mal um und verließ das Haus.

4

Barry und Kelly laberten vorne, waren noch ganz aufgedreht nach dem Bruch. Sie quatschten wild durcheinander, während aus dem Radio Rihannas letzter Hit pulsierte. Barry fuhr gut fünfzig, seine vorherige Vorsicht verdunstet. Auch Tyler hatte einen Adrenalinschub, aber es fühlte sich an wie ein Betrug. Er schämte sich für das, was er getan hatte, aber die Endorphine jagten durch seinen Kreislauf und vermittelten ihm ein Gefühl, als hätte er etwas erreicht, so ähnlich wie bei einem Höhlenmenschen, der um Haaresbreite den Fängen eines Säbelzahntigers entkommen war. Das hatte er in der Schule im Bio-Unterricht gelernt, die Kampf-oder-Flucht-Reaktion, aber den körperlichen Grund zu kennen, machte es auch nicht leichter, es zu akzeptieren.

Sie fuhren Richtung Norden durch Newington, dann links nach Sciennes und Marchmont. Hier war nicht viel zu holen, zu viele Studentenwohnungen, die Uni direkt hinter dem Meadows-Park. Außerdem waren viel zu viele Leute auf den Straßen unterwegs, Studenten auf dem Heimweg von den Pubs und Clubs der Old Town. Barry manövrierte sich durch Whitehouse und fuhr am Rand von The Grange nach Morningside. Es war der berühmte noble Teil der Stadt, wo das ganze alte Geld wohnte, im Gegensatz zu den neureichen Hedgefonds-Typen von New Town.

Barry war nach dem ersten Bruch und dem Koks viel zu high, um sich auf die Häuser zu konzentrieren, an denen sie vorbeifuhren. Tyler bemerkte zwei Kandidaten, die Barry übersah, doch er sagte nichts. Es war der Glücksabend der Besitzer. Kelly bekam selbst in den besten Zeiten kein gutes Objekt mit. Blöd wie Scheiße in ’ner Flasche, sagte Barry, selbst wenn sie dabei war, als wär’s ein Kompliment. Sie lächelte nur und streichelte seinen Arm, als hätte sie eine Gehirnwäsche hinter sich. Wie aufs Stichwort lachte sie über irgendwas, das Barry sagte, schnippte mit vom Koks leuchtenden Augen ihre Haare von der Schulter.

Sie erreichten Craiglockhart, fuhren weiter nördlich nach Merchiston, standen dann ewig vor der Ampel an der Holy Corner, während im Radio die neue Single von Lorde lief. Tyler mochte sie, sie hatte was Interessantes, nicht wie die andere Scheiße, die sonst so auf Forth gespielt wurde. Er stand ganz allgemein nicht sonderlich auf die Charts, hörte lieber Electronica und Chill-out. Er fand mal was auf Spotify, versuchte es mit Playlists zur Meditation, suchte etwas, das ihm half, geistig zur Ruhe zu kommen. Jetzt hätte er gern seine Ohrhörer reingeschoben, sein eigenes Zeug von seinem Telefon gehört, aber Barry riss sie ihm immer vom Kopf, wenn er das bei einem Job versuchte. Sich stets seiner Umgebung bewusst zu sein, sagte Barry, das wär entscheidend. Wie das zu einem vollgekoksten Hirn und einer niemals geschlossenen Klappe passen sollte, wusste allein der Teufel.

Die Wartezeit an der Kreuzung schien die zwei vorne runterzubringen. Sie fuhren rüber nach Churchill, die Chamberlain Road entlang und dann rechts auf die Greenhill Gardens. Zu ungeschützt, zu viel los, selbst um diese späte Uhrzeit. Zweimal links, und sie waren auf der Greenhill Place, Reihenhäuser auf der einen Seite, größere, frei stehende Häuser rechts. Sie fuhren bis ans Ende der Straße, bogen rechts ab, fuhren einmal um den Block. Ein Bestattungsunternehmen an einer Ecke. Tyler stellte sich vor, was sie dort wohl finden mochten. Aber Firmen waren immer besser gesichert, hatten Alarmanlagen mit direktem Draht zur Polizei, Videoüberwachung, das Geld in einem verschlossenen Safe.

Barry bog rechts in die St. Margaret’s Road ein und fuhr langsamer. Tyler entdeckte es, bevor er etwas von Barry wahrnahm. Ein frei stehendes Herrenhaus im viktorianischen Stil, Erkerfenster, gepflegte Hecke und eine schmale Kieszufahrt. Efeu zog sich über die Wand um die Haustür. Dunkel, kein Auto, weder in der Einfahrt noch auf der Straße, kein Hinweis auf eine Alarmanlage. Die Fenster nach vorne hinaus sahen wie alte Sprossenschiebefenster aus, auf der Rückseite wahrscheinlich genauso.

Barry fuhr einmal um den Block, um sicherzugehen, gab dabei leise, schnurrende Laute von sich. Kelly packte das Koks aus, bereitete auf ihrem Schoß ein paar weitere Lines vor. Barry verlangsamte das Tempo, als sie erneut in die St. Margaret’s Road einbogen, und nahm Hausnummer vier wieder in Augenschein, dann hielt er zwischen Straßenlaternen und unter einer überhängenden Kastanie an. Die zwei zogen sich vorn eine Line rein, Barry machte ein gurgelndes Geräusch, Kelly schniefte kehlig. Beide waren zugedröhnt, wo sie eigentlich hellwach sein müssten.

»Schwingt die Hufe«, sagte Barry und stieg aus dem Wagen.


Reinzukommen war einfacher als das letzte Mal. Hinten war ein Wintergarten angebaut worden, der allerdings so alt war, dass der Sperrmechanismus nicht sonderlich viel taugte. Die Glasschiebetür ließ sich ohne großes Murren aus der Führungsschiene heben, was diesmal Tylers Affenkletterei überflüssig machte. Er wünschte, er könnte im Auto bleiben, aber so lief das nicht. Barry wollte, dass immer alle dabei waren. Tyler vermutete, dass er sich sicherer fühlte in dem Wissen, dass sein Bruder und seine Schwester mit ihm in der Scheiße steckten, falls mal ein Bruch total in die Hose ging.

Sie trennten sich wie zuvor, Tyler lief zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf, während Barry und Kelly sich von der Küche ausgehend vorarbeiteten, der eine ins Wohnzimmer, die andere Richtung Arbeitszimmer. Diese großen Häuser hatten so viel Platz, dass Tyler sich fragte, wie man sich daran gewöhnen konnte. Er stellte sich die Wohnung vor, die er sich mit Mum und Bean teilte. Wenigstens waren sie drei allein, nachdem Barry und Kelly die Wohnung nebenan übernommen hatten. Davor war es unerträglich gewesen, man latschte sich permanent gegenseitig auf die Füße. Und es war auch eine große Erleichterung, Bean aus dem Dunstkreis der beiden herauszubekommen. Sie war nicht sicher in ihrer Gegenwart.

In einem Schrank am Kopfende der Treppe fand er einen Kissenbezug, blieb einen Moment stehen und atmete tief durch. Schnupperte. Er fragte sich, ob man Reichtum riechen konnte. Vielleicht roch er ganz genau so, nach Sandelholz nämlich und Bohnerwachs. Überall Hartholzböden, ein teurer Läufer über die gesamte Länge des Flurs. Kein Teppich bedeutete mehr Knarren und Quietschen, aber das spielte keine Rolle, war tatsächlich sogar hilfreich. Falls die Besitzer zu Hause waren, war es schwerer für sie, sich an ihn anzuschleichen.

Elternschlafzimmer. Er ließ den Strahl der Taschenlampe seines Telefons durch den Raum wandern. Er sollte sich wirklich eine dieser Stirnlampen besorgen, die man sich um den Kopf schnallte, um beide Hände frei zu haben, solche wie Bergwanderer und Läufer sie benutzten. Er hatte es Barry schon mal vorgeschlagen, der aber darauf nur lachte und ihn als Schwuchtel beschimpfte.

Das breite Doppelbett hatte lila Laken, unendlich kitschig, passte so überhaupt nicht zum Rest des Hauses. Das Zimmer mit dem Erkerfenster war groß genug für zwei Spiegelkommoden in schlichtem skandinavischen Stil, eine für ihn, eine für sie. Tyler ging zuerst zur Kommode der Frau. Jede Menge Gold und Platin, Armreifen und Fußkettchen, Broschen und Ringe. Er wischte alles in den Kissenbezug, durchsuchte dann die Schubladen. Mehr davon. Diese Leute hier hatten echt kein Problem mit Geldausgeben.

Rüber auf die Seite des Mannes. Drei protzige Armbanduhren obendrauf, die er einsteckte, mehr Ringe, schwer, wahrscheinlich aus massivem Gold. Auch hier mehr davon in den Schubladen. Wer brauchte denn sieben wertvolle Uhren? Manche Leute waren dumm, was Geld betraf. Wenn Tyler so viel Kohle hätte, würde er mit Bean in den Urlaub fahren, dahin wo die Sonne schien, an einen leeren Strand, wo in einer kleinen Hütte gebratene Hähnchen und eisgekühlte Getränke verkauft wurden. Raum und Zeit, das sollte man sich mit Geld kaufen, nicht Cartier und TAG Heuer.

In der untersten Schublade der Kommode lagen sechs brandneue, noch nicht ausgepackte iPhones. Tyler runzelte die Stirn, als er sie in den Kissenbezug legte. Ergab keinen Sinn. Entweder war dieser Kerl wahnsinnig reich oder er führte irgendwas im Schilde.

 

Er schaltete die Taschenlampe kurz aus und sah aus dem Fenster. Nur eine ruhige Straße im gedämpften gelben Licht der Laterne ein Stück weiter runter. Nirgends in diesem Block ein Schild mit Nachbarschaftswache drauf, aber das war ja sowieso meistens nur Bullshit. In einer Stadt wie Edinburgh, wo kein Mensch miteinander redete, war es schwer, unter Nachbarn ein ineinandergreifendes Sicherheitssystem zu organisieren. Noch schwerer in reichen Gegenden, wo viele Leute sowieso nur die halbe Zeit da waren.

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Fuchs trottete mit wippendem Kopf die Straße entlang, den Schwanz gerade, das Fell glänzend im gelben Licht. Er blieb stehen und schnupperte an einer Hecke, hob den Kopf, sah sich um, schien zu verharren und ihn direkt anzustarren. Konnten Füchse gut sehen? Konnte er Tyler hinter dem Fenster stehen sehen? Der Fuchs machte sich aus dem Staub, flitzte die Straße hinunter außer Sicht, und Tyler musste wieder an die Sache mit der Kampf-oder-Flucht-Reaktion denken.

Er drehte sich um und schaltete die Taschenlampe wieder ein. Auf dem Nachttisch lag ein iPad, eine Gucci-Lesebrille oben drauf. In den Kissenbezug damit. Er öffnete die oberste Schublade und fand eine silberne Geldklammer mit reichlich Zwanzigern. Himmel. Er blätterte sie durch, schätzte, dass es alles in allem fünfhundert Pfund sein könnten. Barry würde begeistert sein. Cash war so viel problemloser als das ganze Gefeilsche mit dem Hehler. Tyler streifte einen Handschuh ab, zog fünf Zwanziger aus der Klammer, faltete sie und schob sie unter den elastischen Bund seiner Unterhose. Einmal, nach einem Bruch vor ungefähr drei Monaten, hatte Barry von ihm verlangt, die Taschen auszuleeren. In dieser Nacht waren sie leer gewesen, aber die Drohung war eindeutig. Tyler warf die Scheinklammer in den Kissenbezug und erkundete den Rest des Zimmers. Er fand noch einige weitere Schmuckstücke, allerdings billigeres Zeug als das vorhin.

Wieder auf dem Flur konnte er Barry und Kelly unten hören, wie sie herumwühlten und schnüffelten, eine Schranktür wurde geöffnet und geschlossen, ein metallisches Scheppern. Die Geräusche eben, wenn das Leben von Leuten auf den Kopf gestellt wurde.

Im nächsten Zimmer zog er das große Los. Ein Teenager, ein Gamer, mit einer Xbox One und einer PlayStation 4, jede Menge Spiele, Controller und Headsets sowie weitere Add-ons. Er ging zu dem Schrank im Flur, zog einen Bettbezug heraus, dann zurück ins Zimmer und füllte das Ding. Er sah sich um. Ein Poster der Hibs, die Siegermannschaft des Turniers um den Pokal, auf der gegenüberliegenden Wand ein Foto von Kim Kardashian, die ihren Hintern vorstreckt. Neben dem Bett stapelweise Motorrad- und Autoillustrierte, über den Boden verteilt die Standardkollektion an Trainingshosen, Turnschuhen und Hoodies. Es hätte Tylers Zimmer sein können, wenn er in einer Luxusbude leben würde und Geld wie Heu hätte. Er suchte nach Hinweisen, was für ein Typ der Junge war, fand aber nichts. Mädchen hatten mehr von solchem Zeug als Jungs. Ihre Namen als Lichterkette über dem Bett, Ausdrucke von Selfies mit BFFs an Moodboards oder hinter Spiegel gesteckt, Namen auf Tagebüchern. Tyler fand’s besser, wenn sie in Häuser mit Mädchenzimmern einbrachen, denn dann konnte er immer irgendeine Kleinigkeit als Geschenk für Bean mitgehen lassen. Außerdem war es beruhigender, sich in einem weiblichen Raum aufzuhalten, verglichen mit den Ballerspielen und Hotrods, dem Wrestling und Rugby in typischen Jungszimmern.

Er ging weiter zum nächsten Zimmer, doch das war nur ein Gästezimmer, einfach möbliert, ein Bett und ein Schreibtisch, nichts, was sich mitzunehmen lohnte. Er kniete sich hin und sah unter dem Bett nach. Nichts. Ihm fiel ein, dass er das im Elternschlafzimmer nicht getan hatte, also ging er noch mal zurück, hockte sich hin und leuchtete mit der Taschenlampe.

Er saß in der Hocke und starrte sehr lange hin.

Schließlich streckte er die Hand aus und zog es heraus. Er hatte noch nie zuvor eine abgesägte Schrotflinte gesehen. Er hatte schon oft und viel mit Luftgewehren geschossen, auf unbebauten Grundstücken in der Nähe von zu Hause auf leere Coke-Dosen gezielt, aber das hier war eine andere Liga. Er legte die Taschenlampe hin und hob das Gewehr mit beiden Händen hoch, spürte sein Gewicht. Auf der Unterseite des Laufs ließ sich ein beweglicher Teil vor- und zurückschieben. Eine Pumpgun. Er musste an Call of Duty denken.

Er wusste nicht, wie man nachsah, ob das Ding geladen war. Sein behandschuhter Finger glitt über den Abzug. Mit der Schrotflinte in der Hand stand er auf und betrachtete sich im Spiegel der Kommode. Richtete den Lauf der Flinte auf den Spiegel und schnitt eine Grimasse. Er schwang die Waffe herum, damit er sie im Profil sehen konnte, posierte wie ein Soldat, dann wieder zurück, hielt sie wie ein Scharfschütze, das Auge auf einer Linie mit dem Visier. Er kniete sich hin, wirbelte herum, stellte sich vor, wie Barry durch die Schlafzimmertür hereinrauschte und eine Ladung voll ins Gesicht bekam.

Er hörte etwas. Von draußen. Räder auf Kies, ein Motor, der ausgeschaltet wurde. Das dumpfe Zuschlagen einer Wagentür, der Piepton einer Verriegelung.

Er huschte zum Fenster. In der Einfahrt stand ein Auto und er sah flüchtig, wie jemand zur Haustür ging, eine Frau in Leggings und Turnschuhen.

Scheiße.

Er spitzte die Ohren. Er konnte Barry und Kelly unten hören, die immer noch das Wohnzimmer ausräumten. Sie konnten das Auto nicht gehört haben.

Er sah sich im Spiegel. Immer noch mit der Schrotflinte in der Hand.

»Fuck.«

Er durchquerte hastig den Raum, warf die Waffe unters Bett, griff nach seinem Telefon und schaltete die Taschenlampe aus. Steckte es ein, schnappte sich den Bettbezug und das Kopfkissen, gefüllt mit Kram.

Er stand am Kopfende der Treppe, als er hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss der Haustür eingeführt wurde. Die Tür öffnete sich, das Licht im Flur ging an.

Die Geräusche aus dem Wohnzimmer hörten auf.

Tyler stand am oberen Ende der Stufen. Da die Treppe einen Zwischenabsatz hatte, konnte er von seinem Standort aus die Haustür nicht sehen.

Sein Herz klopfte wie verrückt, seine Finger kribbelten. Er machte vorsichtige Schritte die Treppe hinunter. Schaffte es bis zum Zwischenabsatz.

»Was verdammt noch mal …?«

Die Stimme einer Frau, schrill, aber auch derb, nichts, was man in dieser Gegend erwartet hätte.

»Was verdammt noch mal macht ihr da?«

Er kam einige weitere Stufen herunter, konnte jetzt ihre Turnschuhe sehen, als sie in der Tür zum Wohnzimmer stand. Sie waren rosa und himmelblau, teure Skechers. Die Leggings waren dunkelblau, schmiegten sich um ihre schlanken Beine. Sie ging ins Wohnzimmer und die Füße verschwanden aus Tylers Blickfeld.

»Keine Bewegung«, sagte Barry.

Tyler ging noch ein paar Stufen hinunter, zögerte.

»Droh mir nicht«, sagte die Frau. »Das hier ist mein Haus. Du hast ja keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast.«

»Leg das Telefon weg«, sagte Barry.

Tyler machte zwei weitere Schritte.

»Wenn du nur einen Funken Grips hast«, sagte die Frau, »verschwindest du sofort aus meinem Haus. Und lass meinen Scheißkram hier. Was fällt dir überhaupt ein?«

»Leg das Telefon weg«, wiederholte Barry. »Ich sag’s nicht noch mal.«

Tyler erkannte etwas in seiner Stimme und spürte ein Kribbeln auf der Haut. Sein Magen war schwer wie ein Stein, der ihn nach unten zog. Er machte einen weiteren Schritt, konnte jetzt ins Wohnzimmer sehen. Bei eingeschalteter Deckenbeleuchtung wirkte alles viel zu hell. Die Frau stand unmittelbar hinter der Tür, ein Handy in der Hand. Barry näherte sich ihr mit langsamen Schritten, sah über die Schulter der Frau hinweg zu Tyler. Kelly stand etwas seitlich, bewegungslos wie eine Statue.

Tyler machte einen weiteren Schritt, und die Xbox und das andere Zeug in dem Bettbezug schepperten gegeneinander.

Die Frau drehte sich um und starrte Tyler an, hielt das Smartphone ans Ohr gedrückt.

Sie trug eine dunkle Adidas-Trainingsjacke, den Reißverschluss hochgezogen, ihr rabenschwarzes Haar zu einem hoch sitzenden Pferdeschwanz gebunden, als käme sie gerade aus dem Fitnessstudio. Sie war etwa Mitte vierzig, schlank und durchtrainiert, hatte hohe Wangenknochen und Feuer in den Augen.

Als sie Tyler ansah, stürzte sich Barry auf sie. Tylers Augen weiteten sich, als er sah, wie sich sein Bruder in Bewegung setzte, und die Frau begann, sich wieder umzudrehen, seinem Blick folgend, als Barry auch schon gegen sie krachte, die Hände niedrig auf ihrer Hüfte. Sie stolperte durch die Tür zurück, prallte mit der Schulter gegen den Türrahmen, hatte den Mund geöffnet, aber es kam kein Laut heraus. Sie ließ Telefon und Autoschlüssel fallen, warf Tyler einen verwirrten Blick zu und legte dann eine Hand in ihren Rücken. Sie hob die Hand vor ihr Gesicht, und sie war dunkel vor Blut. Sie griff nach der Türzarge, verfehlte sie und brach im Flur zusammen, schlug mit dem Kopf auf die Dielen wie ein Basketball.

Hinter ihr stand Barry mit einem langen Küchenmesser in der Hand, die ersten sechs, sieben Zentimeter davon blutverschmiert. Kelly starrte Barry an, das Messer, die Frau auf dem Boden.

»Fuck«, stieß Barry aus. Er ließ das Messer fallen. Das Scheppern hallte durchs Haus. »Lasst uns abhauen.«

Er schnappte sich einen Stoffbeutel voller Zeug und drückte sich an der Frau vorbei. Tyler sah ihr Gesicht. Sie atmete, starrte die Fußbodenleiste an.

Barry hob den Autoschlüssel auf, den die Frau fallen gelassen hatte, und warf ihn Kelly zu.

»Den nimmst du«, sagte er. »Am gewohnten Ort.«

Er schlenderte zur Haustür, als hätte er nicht gerade jemanden abgestochen.

»Komm schon«, sagte er zu Tyler. »Und vergiss dein Zeug nicht.«

Tyler nahm das Kopfkissen und den Bettbezug und kam die restlichen Stufen herunter. Barry und Kelly waren bereits draußen. Sie stand einfach da und starrte das Audi-Logo auf dem Autoschlüssel in ihrer Hand an.

Tyler blieb in der Tür stehen und sah zurück.

Die Frau hatte sich nicht gerührt, lag immer noch mit dem Oberkörper im Flur und den Beinen im Wohnzimmer. Er konnte den feuchten Fleck auf ihrem Rücken sehen, den schartigen Riss, wo das Messer den Stoff durchtrennt hatte. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber es kam nichts raus. Ihre Blicke schossen zu Tylers Gesicht, ein Muskel zuckte an ihrer Schläfe, dann sah sie wieder auf den Boden. Die Finger ihrer rechten Hand begannen zu zucken, so als versuche sie, auf etwas zu zeigen, dann sackte die Hand zurück.

Tyler hob ihr Smartphone von der Stelle auf, wo sie es fallen gelassen hatte, und verließ das Haus, schaltete das Licht aus und zog die Tür hinter sich zu.