Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

3.2.2 Jean Piagets genetische Erkenntnistheorie

Der Biologe, Psychologe und Philosoph Jean Piaget (1896-1980) gilt nicht nur als einer der bedeutendsten Erforscher der kindlichen Entwicklung, sondern er wird auch als zentraler konstruktivistischer Denker bezeichnet. So hat sich unter anderem Ernst von Glasersfeld (1994) intensiv mit Piagets Arbeit auseinandergesetzt und ihn als „Pionier der konstruktivistisch orientierten Kognitionsforschung“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet (Ebd., 18). Piaget suchte in dem von ihm in Genf gegründeten Internationalen Zentrum für genetische Epistemologie den intensiven Dialog mit Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen (z.B. Einstein) und war sein Leben lang ein reger Forscher, der vor allem auch seine eigenen drei Kinder intensiv studierte. Er verstand sich allerdings nicht als Entwicklungspsychologe, sondern als Erkenntnistheoretiker (Scharlau 2007). Eines seiner Hauptanliegen war, die Erkenntnistheorie „von einer philosophischen zu einer experimentellen und biologischen Wissenschaft zu machen“ (Müller 1996a, 34), sie also zu verwissenschaftlichen.

Piagets lebenslanges zentrales Erkenntnis- und Forschungsmotiv war die Frage, „wie Erkenntnis im Kind entsteht und sich im Lauf der menschlichen Entwicklung verändert“ (Fatke 1981, 15). In diesem Sinne führte er beispielsweise schon als Kind zahlreiche Verhaltensbeobachtungen an Tieren durch und stellte später im Falle von Muscheln fest, dass diese sich, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen, „intelligent“ an ihre jeweilige Umgebung anpassten, ohne jedoch eine visuelle Repräsentation ihrer Umwelt zu haben. Das Zusammenspiel von Organismus und Umwelt in der Entwicklung der Arten hat seine Sichtweise in der Intelligenzforschung entscheidend geprägt. So kam er unter anderem zu dem Schluss, dass Adaption an die Umgebung eine Vorform des Lernens sei (Müller 1996a, 34).

Piagets Theorie der Entwicklung des Wissens ist nicht primär eine Theorie der Wahrnehmung wie etliche spätere konstruktivistische Ansätze, sondern vielmehr eine Theorie des Handelns. Den Begriff der Handlung übernahm Piaget vom Pragmatismus: „Erkenntnis wird also nicht mehr rein mental modelliert, sondern pragmatisiert“ (Ebd., 35). Lernen erfolgt in seinen Augen durch aktives Handeln, und zwar maßgeblich durch das dynamische Wechselspiel von Assimilation (Deutung und Integration neuer Elemente/Handlungsschemata1 an bereits aufgebaute Strukturen) und Akkommodation (Restrukturierung von Wissen bzw. Revision eines vorhandenen Handlungsschemas im Sinne der situativen Anpassung an die Umwelt). Laut Ernst von Glasersfeld (1994) nimmt „der kognitive Organismus (...) nur das wahr (assimiliert), was er in die jeweils bereits bestehenden Strukturen einpassen kann“ (Ebd., 29). Erkennen ist demnach immer das Ergebnis von Assimilation. Gelingt auf Grund von neuen äußeren Bedingungen die Assimilation jedoch nicht, dann entsteht eine so genannte Störung im Handlungsschema und somit ein Anlass für eine aktive Verhaltensmodifikation, also ein Handlungsbedarf im Sinne des Lernens und des kognitiven Fortschritts. Als häufigste Ursache für Akkommodationen nennt Piaget Erfahrungen durch soziale und sprachliche Interaktionen (von Ameln 2004, 35). Kognitive Veränderung und Erkenntnis beruhen somit auf dem von Piaget als Äquilibration bezeichneten Mechanismus zur Aufrechterhaltung des kognitiven Gleichgewichts. Die Strukturen, die uns dabei helfen, unsere (subjektive) Wirklichkeit zu strukturieren, sind nach Piaget jedoch weder angeboren noch aus der Realität übernommen, „sondern eine eigene Konstruktionsleistung des Individuums, die nur auf dem biologischen Mechanismus der Selbstregulation basiert“ (Ebd., 36). Durch die Beschäftigung mit dem Thema „Gleichgewicht“ wandte sich Piaget später auch der Kybernetik zu. Er verweist beispielsweise auf Heinz von Foersters “order from noise“-Prinzip. Zudem sind gewisse Parallelen zu Maturanas Arbeiten erkennbar, wobei Piaget den kognitiven Apparat nicht – wie Maturana – als operational geschlossenes System betrachten würde (Ebd., 37).

Piagets biologisch begründete und entwicklungspsychologisch erweiterte Erkenntnistheorie trägt nicht nur deutliche konstruktivistische Züge, auch wenn Piaget einen eher gemäßigten Konstruktivismus vertritt, sondern hatte auch ein neues Menschenbild und somit eine neue Sicht des Kindes zur Folge: Das Kind wird bei Piaget als aktives Wesen betrachtet, das sich in der Auseinandersetzung mit der Welt entwickelt, diese strukturiert „und dabei sie und sich selbst verändert“ (Fatke 1981, 24). Es gilt als kompetentes Wesen, „das zunehmend über Fähigkeiten zur Weltaneignung verfügt“ (Ebd.) und im Vergleich zu den Erwachsenen „nicht als mangelhaft, sondern als qualitativ andersartig angesehen werden muß“ (Ebd.). Das Kind ist ein Interaktionspartner, der nicht allein nach den Vorstellungen der Erwachsenen geformt wird, „sondern seinerseits auch auf den Erwachsenen einwirkt und somit die Prozesse der Sozialisation und Erziehung aktiv mitgestaltet“ (Ebd.).

Trotz aller Verdienste ist Piaget immer wieder wegen seiner einseitigen Fixierung auf Misserfolg („Störung“) als Anlass für Lernprozesse und Erkenntnisfortschritte kritisiert worden. Ein weiterer Vorwurf gilt dem Aspekt, dass die Funktion des sozialen Lernens von ihm unterschätzt und beispielsweise auch erwachsenen Interaktionspartnerinnen bzw. -partnern nicht explizit eine fördernde Rolle zugeschrieben wird, wie das etwa bei seinem zeitweiligen Zeitgenossen Lev Vygotskij der Fall ist. Stattdessen ist das Kind in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt weitgehend auf sich selbst angewiesen. Scharlau (2007) resümiert, dass „Piagets Wissenschaftler ein einsamer Robinson Crusoe auf einer Insel [ist], der sich diese durch distanziertes Kartographieren und Organisieren erschließt“ (Ebd., 148). An anderer Stelle wird die Aussage allerdings wieder relativiert, da Piaget offensichtlich immer wieder betont hat, „dass soziale Einflüsse wichtig sind“ (Ebd., 147).2

Piagets Arbeit – insbesondere seine Stufentheorie – gilt heute als stellenweise überholt, wobei er angeblich auch oft missverstanden wurde, so dass in den vergangenen Jahren einige seiner Konzepte neu interpretiert oder auch modifiziert worden sind.3 Dennoch hat Piagets Arbeit nicht nur in der Psychologie und Philosophie, sondern auch für die Pädagogik bedeutsame Erkenntnisse geliefert. Ausgehend von seiner Vorstellung, dass alles Wissen aus Handeln erwächst und kognitive Entwicklung „in der Interaktion von Individuum und Umwelt konstruiert“ wird (Hoppe-Graff/Edelstein 1993, 11), begründet sie – wie das in Storyline-Projekten realisiert wird – den Einsatz aktiver und handlungsorientierter Lernformen sowie (je nach Auslegung von Piagets Arbeit) auch die Förderung der sprachlichen und sozialen Interaktion in einer reichen Lernumgebung, um die kognitive Aktivität der Lernenden und somit auch das kreative Problemlösen anzuregen. Des Weiteren unterstützt sie freies, lehrerunabhängiges und autonomes Lernen – Piaget (1999) spricht von self-government – wie dies auch in der Arbeit mit Storyline angestrebt wird (vgl. Kapitel 2.3). Ob bzw. inwiefern diese Aspekte auch im fremdsprachlichen Klassenzimmer realisiert werden können, sollen meine Fallstudien in Teil B untersuchen.

3.2.3 Lev S. Vygotskijs kulturhistorische Theorie des Menschen

Der im selben Jahr wie Piaget geborene russische Psychologe Lev S. Vygotskij1 (1896-1934) gilt als weiterer wichtiger Vordenker des Konstruktivismus, der insbesondere den Zusammenhang von Denken und Sprechen2 sowie von Kognition und Sozialisation3 untersucht und in diesem Kontext das Konzept der kulturhistorischen Psychologie entwickelt hat. Vygotskij formulierte seine Überlegungen zwar früher als Piaget, allerdings wurde seine Arbeit im Westen erst in den 1980er Jahren rezipiert (Falkenberg 2007) und primär durch Jérôme Bruner in den englischen Sprachraum eingeführt und dort weiterentwickelt (Reich 2004). Vor allem heutige sozial orientierte konstruktivistische Ansätze der Lernpsychologie basieren auf Vygotskijs Gedankengut (Reich 2012) und seit einiger Zeit werden seine Erkenntnisse verstärkt auch im Bereich des Wissensmanagements genutzt.4

Vygotskijs Studien der menschlichen Entwicklung lassen einen starken Einfluss von Karl Marx und auch Friedrich Engels erkennen, „who stressed the critical role of labor and tools in transforming the relation between human beings and their environment“ (John-Steiner/Souberman 1978, 132). So betont Vygotskij – im Gegensatz zu Piaget – ganz explizit, dass kooperative menschliche Tätigkeiten den Erkenntnisprozess entscheidend beeinflussen und nicht nur Wissen grundsätzlich sozial konstruiert wird, sondern auch die Wirklichkeit.5

Vygotskijs Lerntheorie basiert auf der Aussage, dass alles Lernen in der so genannten Zone der proximalen Entwicklung stattfindet, die eine bestimmte Lernstufe, das heißt einen Grenzbereich zwischen tatsächlichem bzw. aktuellem und potenziellem Wissen und Können, markiert. Lernende werden demnach im Rahmen von sozialen Interaktionen mit kompetenteren Personen dazu angeregt, ein neues und höheres Niveau des Wissens und Verhaltens zu erreichen und Gelerntes derart zu internalisieren, dass es selbstständig als Werkzeug für neue Lernprozesse dienen kann.6 Dabei betrachtet Vygotskij die Lernenden als aktive Gestalterinnen bzw. Gestalter der eigenen Lernprozesse, „wobei Lernen immer dann erfolgreicher abzulaufen scheint, wenn selbstbestimmende Lernprozesse einsetzen, die das Wissen in seiner kulturellen Verankerung und seiner Handlungsperspektive aktualisieren“ (Reich 2012, 72).

Während Piaget davon ausging, dass die Entwicklung von kognitiven Strukturen nur vom Kind selbst geleistet werden kann, vertritt Vygotskij die Position, dass gerade sprachliche Interaktionen zwischen Kind und Eltern, Geschwistern oder Lehrkräften zwingend erforderlich sind und entscheidend dazu beitragen, kognitive Strukturen zu entwickeln. Dieser Aspekt ist auch für das fremdsprachliche Lernen relevant und wird im Rahmen von Storyline-Projekten insofern berücksichtigt, als Schülerinnen und Schüler vorrangig in Gruppen arbeiten, also auf vielseitige Art und Weise sozial und sprachlich miteinander interagieren, jedoch bei Bedarf auch die Lehrkraft oder andere Personen um Unterstützung bitten können, um ihre Kompetenzen in den unterschiedlichsten Bereichen weiterzuentwickeln und zu verfeinern. Wie Lernende das kooperative Arbeiten bei Storyline gestalten und bewerten, sollen meine Untersuchungen in Teil B zeigen.

 

Vygotskijs Theorie ist auch stärker sozial-kulturell orientiert, als dies bei Piaget der Fall ist. Jede Erfahrung, und somit auch jedes sprachliche Handeln und Lernen, findet nach Vygotskij nicht nur in einem sozialen, sondern auch in einem kulturellen und historischen Kontext statt, der wiederum das Handeln, Lernen und die Konstruktion von Wirklichkeit von Anfang an entsprechend beeinflusst: “In their play children project themselves into the adult activities of their culture and rehearse their future roles and values“ (John-Steiner/Souberman 1978, 129). Dieser Gesichtspunkt wird im Rahmen von Storyline-Projekten ganz ausdrücklich berücksichtigt: Die Lernenden optimieren in den besagten Interaktionen nicht nur vielerlei Fähigkeiten und Fertigkeiten im sprachlichen und sozialen Bereich, sondern entwickeln – je nach inhaltlichem Fokus des Projekts – auch verschiedene Formen und Niveaus der interkulturellen kommunikativen Kompetenz, indem sie beispielsweise authentische Medien jeglicher Art als Werkzeuge benutzen und im Rollenspiel zielkulturspezifische Verhaltensweisen sowie diverse critical incidents erfahren, erproben und reflektieren können.

3.2.4 Systemtheoretische und kybernetische Grundlagen

Die Grundsteine der beiden Wissenschaftszweige Systemtheorie und Kybernetik (Steuerungslehre) wurden in der Mitte des 20. Jahrhunderts gelegt. Sie stellen zwar selbst keine konstruktivistischen Theorien dar, haben jedoch den Konstruktivismus in vielerlei Hinsicht stark beeinflusst: Kybernetische Ansätze findet man bereits bei Jean Piaget und Gregory Bateson. Systemtheoretische Einflüsse sind vor allem bei Niklas Luhmann (Theorie sozialer Systeme) und Heinz von Foerster (Radikaler Konstruktivismus) erkennbar. Da die beiden Ansätze bedeutsame Erkenntnisse für die Unterrichtspraxis und gegenwärtig auch viele neue Impulse für die Motivationsforschung liefern (vgl. Kapitel 4.3.5.3), werden sie hier kurz vorgestellt.

Ein System besteht bekanntlich aus einer Menge von Elementen, die in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen und somit eine entsprechende Systemstruktur aufweisen. Jedes System ist wiederum in übergeordnete Systeme eingebettet und kann zudem eigene Subsysteme herausbilden. Systeme können einerseits vielseitige Außenbeziehungen haben und werden somit als „offen“ verstanden, andererseits laufen innerhalb der Systemgrenzen (z.B. in einer Schulklasse) ganz spezifische Prozesse ab, so dass Systeme auch als „geschlossen“ charakterisiert werden. Strukturen werden als „Kristallisation“ der Beziehungen zwischen den einzelnen Systemelementen betrachtet (von Ameln 2004, 22); sie sind zwar grundsätzlich änderungsfähig, bleiben aber selbst bei Wegfall oder Ersatz einzelner Elemente häufig erhalten (Luhmann 1984). Prozesse bestehen dagegen „aus irreversiblen Ereignissen“ (von Ameln 2004, 22), die zu Folgeereignissen führen bzw. diese beeinflussen. Pädagogische Arbeit muss demzufolge auf der Ebene der Strukturen ansetzen, da nur diese veränderbar sind.

Die Kybernetik ist ein Zweig der Systemtheorie und wurde in den 1940er und 50er Jahren von Norbert Wiener entwickelt. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie in Systemen – z.B. technischen Geräten, Organismen oder auch komplexen sozialen Systemen – Veränderungen bzw. Gleichgewichtszustände erreicht werden können. Man unterscheidet zwischen „Kybernetik 1. Ordnung“ (z.B. einfacher linearer Regelkreis einer Heizungsanlage) und der in den 1970er Jahren unter Heinz von Foerster entwickelten „Kybernetik 2. Ordnung“ (z.B. komplexe, nicht-lineare soziale Systeme mit ihren eigenen Gesetzen) (von Ameln 2004). Die Kybernetik 2. Ordnung wird auch als „reflexive Kybernetik“ oder „soziale Kybernetik“ bezeichnet: „Der Kybernetiker beobachtet (bzw. konstruiert) nicht mehr bloße Regelungssysteme, sondern er bezieht den Beobachter (also sich selbst) mit ein“ (Lutterer 2000, 55); es geht also um die Beobachtung des Beobachters bzw. der Beobachterin.

Komplexe Systeme (laut Heinz von Foerster so genannte nicht-triviale Maschinen) weisen folgende Eigenschaften auf (von Ameln 2004, 25ff.):

 Nicht-lineare Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung: Eine klare Zuordnung von Input und Output ist nicht möglich, denn komplexe Systeme führen ein relativ autonomes Innenleben (Eigendynamik).

 Negative und positive Wirkungsbeziehungen, Feedbackschleifen: Die diversen Systemvariablen können auf ganz unterschiedliche Weise miteinander in Zusammenhang stehen und aufeinander einwirken.

 Reversible und irreversible Prozessverläufe: Während Abläufe in trivialen Maschinen häufig wieder rückgängig gemacht werden können, sind Prozesse in komplexen Systemen (z.B. in einer Schulklasse) oft unumkehrbar: Was einmal gesagt wurde, kann nicht mehr ungesagt gemacht werden.

 Selbstorganisation: Die Selbstorganisationsforschung leitet aus der Erforschung naturwissenschaftlicher (z.B. mathematischer, chemischer oder meteorologischer) Phänomene (z.B. im Kontext der Chaostheorie1 oder Synergetik) Konsequenzen für die systemische Praxis ab, die unter anderem auch für die Schule (z.B. Gruppenarbeit) relevant sind.

 Emergenzphänomene: Komplexe Systeme bringen im Laufe ihrer Entwicklung Eigenschaften hervor, „die aus den Eigenschaften ihrer Elemente nicht mehr erklärbar sind“ (Ebd., 26). Bekannt ist die Formulierung: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ – oder präziser: Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile. Diese Ansicht wurde bereits von den frühen Gestaltpsychologen geteilt.

Für die Unterrichtspraxis2 und speziell für die Arbeit nach dem Storyline-Modell sind die genannten Aspekte äußerst bedeutsam und insbesondere auch bei der Gestaltung von Gruppenarbeit und autonomen Lernphasen relevant (vgl. Kapitel 2.3.3.5), vor allem wenn man die vielseitigen und komplexen Strukturen, Prozesse, Zusammenhänge und Wechselwirkungen innerhalb einer Schulklasse bzw. Gruppe professionell analysieren und gewinnbringend nutzen will, um Motivation und Lerneffizienz zu erhöhen. Mehr Aufschluss darüber sollen meine Studien in Teil B geben.

3.2.5 Gregory Batesons Unterschiede, die einen Unterschied ausmachen

Der anglo-amerikanische Zoologe und Anthropologe Gregory Bateson (1904-1980) wurde durch die mit seiner ersten Frau Margaret Mead durchgeführten ethnologischen Studien bekannt, bevor er sich der Psychiatrie zuwandte. Zeitlebens widmete er sich (ähnlich wie Piaget) auffallend vielfältigen Forschungsgebieten in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen: er beobachtete frühere Kopfjäger, betrieb Filmanalyse, studierte die Kommunikation von Delphinen, untersuchte die Kunst in Bali und setzte sich mit ökologischen bzw. ökosystemischen1 und religiösen2 Fragestellungen auseinander (Lutterer 2000). Diese anscheinend disparaten Forschungsfelder hatten allerdings einen verbindenden roten Faden, nämlich Batesons Interesse für „Kommunikation und den sich darin offenbarenden Paradoxien und Pathologien“ (Ebd., 306). Bereits in den 1950er Jahren entwarf er eine von der gerade aufkeimenden Kybernetik inspirierte Theorie der menschlichen Kommunikation, die später von Paul Watzlawick, seinem Forschungskollegen am Mental Research Institute in Palo Alto, weitgehend übernommen und veröffentlicht wurde (von Ameln 2004).

Bateson gilt in Fachkreisen als einer der bedeutendsten Vordenker systemischer Theorie und als einer der ersten, welche die gewonnenen kybernetischen Erkenntnisse im sozialen Bereich umsetzten (Lutterer 2000, 1). Bekannt sind insbesondere seine Double-bind-Theorie, welche „die Entstehung von Schizophrenie auf paradoxe Kommunikation zurück führt“ (von Ameln 2004, 51), sowie das mit dem Schweizer Psychiater Jürgen Ruesch im Jahr 1951 veröffentlichte und allerdings erst vierzig Jahre später ins Deutsche übersetzte Buch Kommunikation (1995) mit wichtigen Beiträgen zum Konstruktivismus und zur Kybernetik 2. Ordnung in komplexen Systemen. Inspiriert fühlte sich Bateson in seiner weitgespannten Forschungsarbeit insbesondere auch durch den Dichter und Maler William Blake, der „durch seine Augen sah, nicht mit ihnen“ (Bateson 1985, 13). Seine Arbeit hatte einen weitreichenden Einfluss auf Systemtheorie, systemische Therapie, Ökologie und nicht zuletzt den Konstruktivismus. Den stärksten Einfluss seines Gedankenguts auf die systemische Praxis haben laut Aussage von Falko von Ameln (2004) sein Informationskonzept und seine kybernetische Konzeption des Lernens, die aus diesem Grund, ebenso wie seine erkenntnistheoretische Position, hier kurz vorgestellt werden. Batesons Thesen zur Kommunikation werden später bei der Darstellung der Kommunikationstheorie der Palo-Alto-Gruppe berücksichtigt (vgl. Kapitel 3.2.6).3

Ein wesentlicher Vorgang im Erkenntnisprozess ist die Gewinnung von Informationen, wobei am Beginn dieses Prozesses laut Bateson (1985) immer Unterscheidungen stehen: „Was wir tatsächlich mit Information meinen – die elementare Informationseinheit –, ist ein Unterschied, der einen Unterschied ausmacht“ (Ebd., 582). Batesons bekannte Formulierung weist klare Bezüge zu Kellys Psychologie der persönlichen Konstrukte (1986) und zu Spencer Browns Laws of Form (1997) auf; sie wurde später von Niklas Luhmann wieder aufgegriffen. Bateson charakterisiert den menschlichen Geist – ähnlich wie Maturana – als ein kybernetisches „System (...) aus geschlossenen Schleifen oder Netzen von Bahnen (...), auf denen Unterschiede und Umwandlungen von Unterschieden übertragen werden“ (Bateson 1985, 619). Durch ein Neuron wird nicht ein Impuls übertragen, „sondern die Nachricht von einem Unterschied“ (Ebd.). Erkenntnis ist bei Bateson also schließlich davon abhängig, welche Unterscheidungen Beobachter und Beobachterinnen vornehmen.

Gregory Bateson vertritt die konstruktivistische Position, dass der Mensch keinen unmittelbaren Zugang zur Realität hat, sondern mit Hilfe von besagten Unterscheidungen eine Wirklichkeit schafft, die – vergleichbar mit einer Landkarte – das Produkt seiner Erkenntnistätigkeit ist.4 Er bezieht sich dabei auf die von C.G. Jung geprägten Begriffe „Plemora“ (materielle Realität) und „Creatura“ (geistige Wirklichkeit des Menschen):

Plemora ist die Welt, (...) in der es keine ‘Unterscheidungen’ gibt. Oder wie ich sagen würde: keine ‘Unterschiede’. In der Creatura werden Wirkungen genau durch Unterschiede hervorgebracht. (...)

Wir können die Plemora untersuchen und beschreiben, aber die getroffenen Unterscheidungen werden der Plemora immer durch uns beigelegt (Bateson 1985, 585).

Eine ähnliche Position vertritt später auch Wolf Singer (2002), wenn er von einem „Beobachter im Gehirn“ spricht, der die menschliche Erkenntnisfähigkeit beeinflusst und letztendlich auch begrenzt.5

Im Jahr 1942, also noch vor dem Entstehen der Kybernetik, entwickelte Bateson eine erste Fassung seiner Lerntheorie, die sich von den üblichen, experimentell gewonnenen Erkenntnissen über Lernvorgänge absetzt und zudem seine späteren Theorieentwicklungen maßgeblich beeinflusste. In seinem hierarchischen Stufenmodell des Lernens6 wird dem Kontext einer Lernsituation eine ganz besondere Bedeutung zugeschrieben, da Bateson davon ausgeht, dass sich die Ausbildung von Charakterzügen und Gewohnheiten über Lernerfahrungen bzw. Lernkontexte vollzieht (Lutterer 2002). Das Modell ist also insofern systemisch, als es danach fragt, „was Lernerfahrungen im jeweiligen Subjekt bewirken“ (Lutterer 2000, 40). Ferner zielt es darauf ab, flexible und selbstreflexive Fähigkeiten (Lernen lernen) sowie Mechanismen der Selbstorganisation des Systems zu fördern (von Ameln 2004), was gerade vor dem Hintergrund des lebenslangen Lernens auch im Bildungsbereich von Bedeutung ist und beispielsweise durch die Storyline-Arbeit gefördert werden kann. Charakteristisch für Storyline-Projekte ist zudem die Übernahme von verschiedenen Rollen, so dass Schülerinnen und Schüler im Sinne einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung ihre Gewohnheiten und Verhaltensmuster reflektieren sowie neue Varianten spielerisch in einem Schonraum ausprobieren können, indem sie „neue Unterscheidungen“ vornehmen und dabei „Unterschiede“ wahrnehmen und reflektieren. Dies kann auch als Beitrag zur Förderung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz verstanden werden. Wie Lernende, insbesondere auch ältere Klassen, mit der Storyline-spezifischen Rollenübernahme umgehen und wie sie die Selbstorganisation in ihren Gruppen regeln, sollen meine Untersuchungen in Teil B zeigen.